Nicht nur das Neue Testament, sondern auch das Alte ist voller Berichte, Aussagen und Verheißungen, die für die Gemeinde einen unschätzbaren Wert haben. Leider wird dieser Wert manchmal verkannt, so dass reiche Schätze, die der geistlichen Auferbauung der Gemeinde dienen können und sollen, ungenutzt bleiben. So wird verschiedentlich behauptet, die Psalmen seien für die Gottesdienstliturgie ungeeignet, weil sie nicht den Namen Jesus enthielten. Manche Christen tun einzelne Aussagen der Prophetenbücher mit dem Hinweis ab, diese seien für die Gemeinde irrelevant. Zuweilen muss man auch einen mangelhaften Umgang mit den Geschichtsbüchern feststellen, aus denen bestenfalls alltagstaugliche Analogien abgeleitet werden, deren bildhaft-prophetischer Zweck aber verkannt wird.
Das Ergebnis ist eine zunehmende Entfremdung und Verständnislosigkeit gegenüber den Büchern des Alten Testaments. Die Einheit der Heiligen Schrift gerät in Gefahr.
Ein Begriff, der uns im Alten Testament immer wieder begegnet, aber für die heutige Gemeinde weit weg zu sein scheint, ist Zion. Die Geschichtsbücher und vor allem die Psalmen und Propheten enthalten zahllose Verweise auf Zion. Haben uns diese Texte heute noch etwas zu sagen?
In dem folgenden, kurzen Artikel möchte ich versuchen zu zeigen, was es mit Zion auf sich hat, in welchem Zusammenhang der Begriff in der Heiligen Schrift verwendet wird und was er für die neutestamentliche Gemeinde bedeutet.
Zion und die Stadt Davids
Das Wort „Zion“ erscheint chronologisch zum ersten Mal in 2Samuel 5,7 sowie in der Parallelstelle 1Chronik 11,5. Dort wird berichtet, wie David die Stadt Jerusalem, die sich im Besitz der Jebusiter befand, eroberte: „Aber David nahm die Burg Zion ein; das ist die Stadt Davids.“ Diese Burg namens Zion war eine auf einer gleichnamigen Anhöhe gelegene Festung und stellte die wichtigste und letzte Verteidigungsanlage der Stadt dar. Ihre Einnahme bedeutete die Einnahme der ganzen Stadt.
Wie gesehen, belegt die Heilige Schrift diesen Ort schon bei der ersten Erwähnung mit dem Beinamen „Stadt Davids„. Dabei geht es dem inspirierten Schreiber keineswegs allein darum, die Erinnerung an einen siegreichen Feldherrn wachzuhalten. Vielmehr erfährt Zion hier einen ersten Bedeutungswandel: Die Funktion Zions als Festung und Zufluchtsort wird mit dem Königtum Davids verknüpft.
Das Königtum Davids war nicht einfach eines unter vielen. Während Israel mit dem „Volkskönig“ Saul noch den Wunsch verbunden hatte, wie die anderen Nationen zu sein (vergleiche 1Sam. 8,5), verfolgte Gott mit dem Königtum in Israel andere Pläne. Er verwarf Saul und erwählte David, dem er verhieß: „Dein Haus und dein Königreich sollen ewig Bestand haben vor deinem Angesicht; dein Thron soll auf ewig fest stehen.“ (2Sam. 7,16). Aber wie können ein irdisches Königreich und ein irdischer Thron ewigen Bestand haben? Das ist nur möglich, weil die mit David begründete Linie über das Irdische hinausgeht. Die Herrschaft Davids und seiner Nachkommen auf dem Thron in Jerusalem war kein Selbstzweck. So wie Israel in gewissem Sinn keine gewöhnliche Nation war, sondern Volk Gottes, so war auch das Königtum in Israel kein gewöhnliches. Es symbolisierte vielmehr die Herrschaft des einen Nachkommen Davids über das Volk Gottes. Diesem Nachkommen ist eine Herrschaft verliehen worden, die niemals endet, und ein Königtum, vor dem sich alles beugen muss. Die Rede ist von dem Herrn und König Jesus Christus, dem wahren Sohn Gottes und wahren Sohn Davids.
Zion als die Stadt Davids symbolisiert also die ewige Herrschaft Christi über sein Volk, die in David und den nachfolgenden alttestamentlichen Königen vorgeschattet war. Die Eigenschaften, die sich mit einer Burg oder Festung verbinden, werden auf diese Herrschaft übertragen: Nicht die irdische Burg Zion, sondern Jesus Christus wird als die wahre Zuflucht des Volkes Gottes angekündigt.
Zion und der Tempel
Warum braucht das Volk Gottes einen Zufluchtsort? Was ist in Christus anders als außerhalb von Christus? Außerhalb von Christus herrscht der Tod. Außerhalb von Christus stehen alle Menschen aufgrund ihrer Sünde unter dem Zorn Gottes und müssen nach seinem gerechten Urteil den ewigen Tod sterben.
Unfähig, sich selbst zu erlösen, hat die Menschheit keine Aussicht, dieser Strafe aus eigenem Vermögen zu entgehen. Weder sind wir in der Lage, den Zorn Gottes zu tragen, noch können wir aus freiem Willen ein sündloses Leben führen und so dem von Gott an seine Geschöpfe angelegten Maßstab entsprechen. Das vermag nur einer: Jesus Christus, und zwar stellvertretend für uns. Als wahrer Mensch kann er unser Stellvertreter im Gericht Gottes sein, und als wahrer Gott ist er in der Lage, Gottes Gericht zu tragen. Am Kreuz von Golgatha hat Christus das Erlösungswerk ein für allemal vollbracht. Für alle, die der gnädige Vater ihm vor aller Zeit gegeben hatte, hat er die Schuld vollkommen bezahlt und ihnen so eine ewige Gerechtigkeit vor Gott erworben. Während also außerhalb von Christus Tod und Verderben warten, besitzen wir in Christus eine sichere Zuflucht vor dem Gericht und vor allen Anklagen und Anfechtungen.
Zur Zeit des Alten Testaments wurden das Heilswerk, seine Grundlage und seine Auswirkung in den Zeremonien und Verordnungen des Gesetzes abgebildet. Insbesondere die zahlreichen Opfervorschriften hatten den einen Zweck, das Volk einerseits auf seine Sünde hinzuweisen und ihm andererseits die Erlösung aufzuzeigen, die Gott aus Gnade schenkt. Ort dieser Verrichtungen war zunächst die Stiftshütte. Dort war auch die Bundeslade, die Erinnerung an Gottes Gnadenbund und Zeichen seiner beständigen Gegenwart, verborgen. Die räumliche Trennung der Bundeslade vom Volk war Ausdruck für den Graben der Sünde, der nur durch den vermittelnden priesterlichen Versöhnungsdienst überwunden werden konnte. Nach einigen denkwürdigen Ereignissen wurde die Bundeslade samt allem Zubehör schließlich in die Stadt Davids, also auf den Berg Zion, gebracht. Nachdem aber Salomo den Tempel fertiggestellt hatte, übersiedelte die Lade dorthin. Künftig war der Tempel der Ort des Versöhnungsdienstes, und einmal im Jahr durfte dort der Hohepriester in die allerheiligste Gegenwart Gottes treten.
Der Tempelberg ist mit dem Berg Morija identisch, auf dem Abraham Jahrhunderte zuvor seinen Sohn Isaak dahingegeben hatte – auch das übrigens ein Hinweis auf das kommende Opfer Christi! Der Tempelberg ist somit von dem Berg Zion räumlich zu unterscheiden. Das geht aus dem Bericht vom Umzug von Bundeslade und Stiftshütte in den neuerbauten Tempel hervor, die laut 1Könige 8,1 „aus der Stadt Davids [hinaufgebracht]“ wurden. Gleichwohl verschwimmt die Unterscheidung zwischen Zion und Tempel in der Bibel. Eigenschaften, die Zion zugeschrieben werden, werden auch auf den Tempel angewendet und umgekehrt. So deckt sich beispielsweise Davids und Salomos Vorhaben, dem Herrn „ein Haus zu bauen“ (1Kön. 5,19), mit der Beschreibung an anderer Stelle, dass der Herr „in Zion wohnt“ (Ps. 9,12).
Was Zion als die Stadt Davids symbolisierte, wurde fortan auf dem Tempelberg noch deutlicher abgebildet: Nicht nur die Tatsache, dass das Volk Gottes Zuflucht bei seinem König Jesus Christus findet, sondern auch, dass der Grund dafür einzig und allein das Heilswerk des Sohnes Gottes ist, wurde dem Volk nun in bildhafter Weise vor Augen gestellt. Das Bild Zions als sichere Burg und Festung erweitert sich um die Bedeutung des Tempels als Ort der Versöhnung und der heiligen Gegenwart Gottes.
Zion und das Reich Gottes
Nun könnte man einwenden, dass dies doch nur nachträgliche Interpretationen seien. Zur damaligen Zeit habe der Begriff Zion noch nicht so eine breite Bedeutung gehabt. Dass dieser Einwand unberechtigt ist, zeigt ein Blick in die Psalmen und in die Bücher der Propheten. Diese zeitgenössischen Zeugnisse quellen vor Verweisen auf Zion geradezu über, und dabei wird der Begriff sogar noch weiter gefasst.
Exemplarisch sei Psalm 69 herausgegriffen. Ausdrücklich wird als Dichter dieses Psalms David genannt. In Vers 36 heißt es: „Denn Gott wird Zion retten und die Städte Judas bauen.“ Wie in den meisten poetischen Büchern und Abschnitten des Alten Testaments wird hier ein und derselbe Gedanke mittels zweier verschiedener Formulierungen ausgedrückt. Die beiden Satzteile meinen also das gleiche: Gott wird Zion retten – Gott wird die Städte Judas bauen. Der Aufbau des darniederliegenden verheißenen Landes wird mit der Errettung Zions gleichgesetzt. Die Bibel setzt Zion mit der Heilswirklichkeit des Volkes Gottes gleich!
Eigentlich ist das nur die konsequente Weiterführung des oben Gesagten. Das Volk Gottes findet den Weg in die Gegenwart Gottes durch das Heilswerk des Herrn Jesus Christus. Dieses wurde mit der Einnahme der Stadt Davids zunächst noch undeutlich angekündigt, mit dem Bau des Tempels und dem darin stattfindenden Gottesdienst war es schon klarer zu erkennen.
Das Werk Christi, wie es dann auf Golgatha vollbracht worden ist, ist in seiner Wirkung aber nicht auf Zeiten und Orte beschränkt. Es umfasst das ganze Volk Gottes zu allen Zeiten. Zion ist also auch Ausdruck für die herrliche Gemeinschaft, in die Christus sein Volk in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft führt, und steht darum im weiteren Sinne auch für das Reich Gottes.
Es ist bezeichnend für die Inspiration der Heiligen Schrift, dass David, der Zion in der sichtbaren Wirklichkeit eigentlich nur als einen Hügel kannte, seinen Blick im Glauben über das Hier und Jetzt hinausrichten und so in prophetischer Weise von Zion reden kann.
Diese Gleichsetzung Zions mit dem Volk und Reich Gottes geht auch aus zahlreichen Stellen in den Propheten hervor. Beispielsweise beklagt Jesaja gleich zu Beginn seines Buches den weltlichen und geistlichen Niedergang seines Volkes, das von Feinden bedrängt und in Gottlosigkeit versunken ist. Nur ein winziger Überrest ist noch zu finden: „Und die Tochter Zion ist übriggeblieben wie eine Hütte im Weinberg, wie ein Wachthäuschen im Gurkenfeld, wie eine belagerte Stadt.“ (Jes. 1,8). In der zärtlichen Anrede „Tochter Zion“ erahnen wir etwas von der Liebe Gottes für seine Kinder, die er sich inmitten des allgemeinen Abfalls bewahrt und nicht dem Untergang preisgegeben hat. Denn im nächsten Vers heißt es: „Hätte uns der Herr der Heerscharen nicht einen geringen Überrest übriggelassen, so wären wir wie Sodom, gleich wie Gomorra geworden!“ (Jes. 1,9). Der Fortbestand Zions und damit der Fortbestand der Gemeinde ist das Werk Gottes. Und als wenn das noch nicht deutlich genug wäre, greift der Apostel Paulus diesen Vers auf und nimmt dabei eine kleine Änderung vor: „Hätte der Herr der Heerscharen uns nicht einen ‚Samen‘ übrigbleiben lassen …“ (Röm. 9,29). Paulus identifiziert den Überrest des Volkes Gottes mit einem Samen, also einem bestimmten Nachkommen, nämlich dem verheißenen Sohn Davids, Jesus Christus. Christus ist der einzige Grund für die Bewahrung der Tochter Zion, also des Volkes Gottes. Sein Heilswerk erlöst sie von ihrer Sündenschuld, zieht sie in die Gegenwart Gottes und schützt sie so vor dem vernichtenden Zorn, der sich im Alten Testament in den feindlichen Heeren widerspiegelte.
Zion und der Neue Bund
Durchsucht man das Neue Testament nach dem Begriff Zion, wird man nur an wenigen Stellen fündig. Die meisten davon sind zudem Zitate aus dem Alten Testament. Heißt das vielleicht, dass Zion für die neutestamentliche Gemeinde bedeutungslos ist? Ganz im Gegenteil! Die Zitate sind gerade ein Beleg dafür, dass das, wovon der Berg Zion unter dem Alten Bund schattenhaft kündete, nunmehr erfüllt ist. Ausgerechnet im Hebräerbrief, der wie kein anderer auf die alttestamentliche Begriffswelt zurückgreift, findet sich Zion nicht in einem Zitat, sondern in einem neuen Zusammenhang wieder: „Ihr seid gekommen zu dem Berg Zion und zu der Stadt des lebendigen Gottes, dem himmlischen Jerusalem“ (Hebr. 12,22). Während der Schreiber des Hebräerbriefes die Leser im umliegenden Abschnitt ermutigt und ermahnt, die Gnade in Christus nicht zu verschmähen, erinnert er sie an das, was mit dem Kommen und der Kreuzigung und Auferstehung Jesu Christi Wirklichkeit geworden ist: Die Gemeinde ist in ihrer Zufluchtsstätte Zion angekommen. Das Kreuz von Golgatha ist ihr Durchgang in die Stadt Gottes, also ins Reich der Himmel, geworden. Wie einst symbolhaft im Tempel, so wohnt Gott nun wahrhaftig durch seinen Heiligen Geist mitten unter seinem Volk.
Was im Alten Testament noch prophetische Zukunft war, ist für den Schreiber und die Leser des Hebräerbriefes und damit für das ganze Volk Gottes im Neuen Bund Gegenwart und Tatsache: „Ihr seid … gekommen“.
Die Verheißungen der Heiligen Schrift hinsichtlich Zions beziehen sich weder auf eine ferne Zukunft noch auf bestimmte Orte oder Völker. Sie verkündigen nichts anderes als Jesus Christus, den Gekreuzigten. Darum darf auch die heutige Gemeinde sich diese Verheißungen zu eigen machen und aus ihrer Erfüllung in Christus Mut und Trost schöpfen. Aus dem gleichen Grund darf die Gemeinde ganz unbefangen die Psalmen singen, die „Zionslieder“ (Ps. 137,3), denn diese künden nicht weniger von Christus als neuere Dichtungen. Nicht zufällig wird kein anderes Buch in den Evangelien häufiger zitiert. Die vielfältige und zugleich sehr konkrete Bedeutung Zions ist ein Spiegelbild der Einheit von Altem und Neuem Testament, von alt- und neutestamentlicher Gemeinde, von Schatten und Wirklichkeit, von Verheißung und Erfüllung.