„Ihr erforschet die Schriften, weil ihr meint, in ihnen das ewige Leben zu haben; und sie sind es, die von mir Zeugnis geben.“
Unser Herr geht hier auf die Frage ein, wozu wir eigentlich das Wort Gottes lesen. Was ist eigentlich unser Ziel dabei? Es ist gut, sich den Zusammenhang zu vergegenwärtigen, in dem Jesus dieses Wort spricht. Jesus war wieder einmal in Jerusalem. Es war ein Fest (Joh. 5,1). Ob es das Passahfest, das Wochenfest oder das Laubhüttenfest war, wird uns nicht berichtet. Es ist offensichtlich nicht entscheidend.
Wichtig ist, dass an diesem hohen Tag unser Heiland dorthin ging, wo das Elend in Jerusalem zusammengeballt anzutreffen war, zum Teich Bethesda. Der Ort lag nicht weit vom Tempel entfernt. Aber ausgerechnet an einem Feiertag einen Krankenbesuch abzustatten, dorthin abzubiegen, wo man nur Leid und Siechtum antrifft, entspricht eigentlich nicht der Erwartung. Dort lagen um den Teich die Lahmen, Blinden und Ausgezehrten und harrten, bis sich das Wasser durch einen Engel bewegte. Dann suchten sie möglichst, als Erste in den Teich zu gelangen.
An diesem Tag wandte sich Jesus einem einzigen Mann zu. Dieser Mann lag dort bereits 38 Jahre. Was diesen Mann genau quälte, wird nicht gesagt. Aber es ist deutlich: Er war so kraftlos, so hilflos, dass er nicht in der Lage war, sich zu bewegen. Unser Herr heilte ihn (Joh. 5,1–9).
Wie war nun die Reaktion der Menschen, die das mitbekommen hatten? Priesen sie den Herrn für die Heilung? Lobten sie ihn für seine Hilfe? Beteten sie den Gesandten Gottes an? Keineswegs! Das Gegenteil war der Fall. Anstatt ihn zu loben machten sie dem Heiland Vorwürfe. Ja, blanker Hass schlug ihm entgegen. Jesus hatte nämlich diese Heilung am Sabbat getan. Über diesen Umstand waren die Juden so aufgebracht, dass sie ihn verfolgten, ja ihn zu töten suchten (Joh. 5,10–16). Wenn wir das Johannesevangelium weiterlesen, stellen wir fest: Es war nicht das einzige Mal, dass sie dieses zu tun beabsichtigten.
Jesus stand seinen Verfolgern Rede und Antwort. Er erklärte ihnen, dass er immer das tue, was er seinen Vater tun sieht (Joh. 5,19). Vermutlich dachte er hier an den Engel, der aus dem Himmel kam und das Wasser in Bewegung setzte.
Aber mit dieser Aussage war das eigentliche Thema auf dem Tisch. Indem Jesus von „meinem Vater und ich“ sprach, sagte er etwas, das weder Abraham, noch Mose, noch David je über ihre Lippen gebracht hatten. Er stellte sich auf eine Ebene mit Gott dem Vater. Er machte sich „Gott gleich“ (Joh. 5,18). Die entscheidende Frage lautete: Wer ist dieser Jesus? In welcher Beziehung steht er zu Gott dem Vater?
Jesus Christus ist gottgleich
In der folgenden Auseinandersetzung hören wir von Jesus sieben Kernaussagen. Durch sie bringt er seine Gleichheit mit seinem himmlischen Vater zum Ausdruck:
Erstens: Christus ist dem Vater in seinem Wirken gleich: „Mein Vater wirkt bis jetzt und ich wirke auch“ (Joh. 5,17). Während der allmächtige Gott das Schöpfungswerk am sechsten Tag zu Ende brachte, ist er in seinem Regierungswerk bis heute tätig. Im Gegensatz zu uns Menschen braucht er sich nicht auszuruhen.
Zweitens: Jesus Christus ist mit Gott dem Vater in seinem Willen gleich (Joh. 5,19). Wenn Jesus hier sagt, er könne nichts tun ohne seinen Vater, bezeugt er nicht etwa seine Unfähigkeit oder seine Ohnmacht, sondern er weist auf seine enge Verbindung mit dem Vater hin. Es gibt zwischen den beiden Personen keine Distanz, keine Unabhängigkeit.
Drittens: Der Sohn ist mit dem Vater in seinem Wissen gleich (Joh. 5,20). Weil der Vater gegenüber seinem eingeborenen Sohn keine Geheimnisse hat, ist allein der Sohn in der Lage, den Vater in der rechten Weise zu offenbaren (Joh. 1,18).
Viertens: Ferner ist Christus gottgleich in seiner göttlichen Macht, durch die er Tote aufzuerwecken vermag (Joh. 5,21).
Fünftens: Folglich kann es in den Ehrerweisungen keinen Unterschied zwischen Gott dem Vater und Gott dem Sohn geben (Joh. 5,22.23). Häufig hört man die Meinung, Gott der Vater sei der Harte, der Richtende, während Jesus der Barmherzige sei. Hier werden wir eines anderen belehrt: „Der Vater richtet niemand, sondern alles Gericht hat er dem Sohn übergeben.“
Sechstens: Der Sohn ist mit Gott dem Vater gleich in seinem Mitteilen von Leben, denn beide haben in sich unausschöpfliches Leben (Joh. 5,24–26).
Siebtens: Schließlich ist der Sohn mit Gott dem Vater gleich in seiner richterlichen Gewalt und Autorität (Joh. 5,27–30). Er ist der „Sohn des Menschen“, von dem bereits im Propheten Daniel die Rede war (Dan. 7,13).
Aktualität
Dieser Abschnitt ist im Johannesevangelium nicht der einzige, in dem uns der Sohn Gottes sein Einssein mit dem Vater bezeugt. Aber unzweifelhaft ist dieser Abschnitt einer der grundlegendsten und auch einer der kompaktesten Aussagen über die Gottgleichheit des Sohnes Gottes.
Mit diesen Aussagen widerspricht unser Herr keineswegs nur den damals über ihn empörten Juden, sondern diese Aussagen stehen auch im Widerspruch zu dem, was heute über Jesus verbreitet wird, sei es im säkularen Bereich, sei es im kirchlichen. Auch zahlreiche Theologen sehen in Jesus nichts anderes als einen guten Menschen. Folglich vermögen sie seinen Tod am Kreuz allenfalls als „Solidaritätsopfer“ wahrzunehmen: Der an dieser Welt gescheiterte Jesus von Nazareth habe am Kreuz kundgetan, dass er sich mit den Unterdrückten und Zukurzgekommenen dieser Welt verbunden weiß. Dass der Tod Christi Sühnopfer ist, so dass der Sohn Gottes den Zorn Gottes getragen und die Strafe für unsere Schuld und Sünde auf sich genommen hat, wird nicht selten nur mit einem Kopfschütteln quittiert. Schließlich sollten wir nicht übersehen, dass das hier über den Gottessohn Bezeugte im Gegensatz zu dem steht, was man im Islam über Jesus denkt und lehrt.
Vierfaches Zeugen
Wie barmherzig aber ist es, dass Jesus nicht nur seine Gottgleichheit mit dem Vater verkündet, sondern diese Wahrheit auch durch Zeugen unterstreicht. Gleich darauf führt der Herr vier Zeugen an.
Erstens das Zeugnis Johannes des Täufers (Joh. 5,33–35). Bereits im ersten Kapitel des Johannesevangeliums lesen wir, wie die jüdischen Führer eine Delegation zu Johannes an den Jordan sandten, um über ihn Auskunft zu erhalten. Der Täufer erklärte, er selbst sei nicht der Christus. Aber es sei seine Aufgabe, auf Christus hinzuweisen (Joh. 1,19–33). In diesem Zusammenhang bezeugte er, dass Jesus der Sohn Gottes ist (Joh. 1,34).
Zweitens: Unser Herr verweist zur Untermauerung seiner Gottessohnschaft auf seine Werke. Gerade eben hatte er ein solches Werk an einem 38 Jahre bewegungsunfähig dahinsiechenden Menschen vollbracht. Nun konnte dieser Mann im Tempel vor aller Augen umhergehen.
Drittens: Ein weiterer Zeuge ist Gott der Vater selbst. Hier können wir an die Taufe Jesu im Jordan denken, als der Vater vom Himmel über Christus verkündete: „Dies ist mein geliebter Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe!“ (Mt. 3,17).
Viertens, wenn man so will, ist es der Schlusspunkt: Es sind die Heiligen Schriften, die bezeugen, wer Jesus Christus ist.
Tatsächlich ist es so, dass wir das, was wir von Jesus wissen, aus dem Wort Gottes wissen.
Damals hatten die Juden nur die Schriften des Alten Testamentes. Jesus verweist darauf, dass auch sie gegeben sind, um kundzutun, wer er in Wahrheit ist.
Eines der entscheidenden Merkmale der jüdischen Religiosität war die Schriftgelehrsamkeit. Unser Herr kritisiert wahrlich nicht das Erforschen der Heiligen Schriften. Jedoch kritisiert er, dass diese Menschen die Schriften studierten, weil sie meinten, sie würden dadurch ewiges Leben erhalten. Namentlich von dem Gesetz dachten sie, dass es ihnen außerhalb von Jesus Leben vermitteln würde. Sie würden die Gerechtigkeit Gottes ohne Jesus allein durch das Beachten des Gesetzes erlangen. Sie lasen die Bibel ohne zu Jesus kommen zu wollen (Joh. 5,40).
Möge der Herr uns schenken, dass wir sein Wort so studieren, dass uns der offenbar wird, der das Leben ist und es uns durch seine Auferstehung ans Licht gebracht hat: Jesus Christus, der Sohn Gottes.