„Ich kehrte etliche unter euch um, so wie Gott Sodom und Gomorra umgekehrt hat, so dass ihr wart wie ein aus dem Brand gerissenes Holzscheit. Dennoch seid ihr nicht bis zu mir umgekehrt … Mache dich bereit, deinem Gott zu begegnen!“
In dem oben zitierten Wort erklärt Gott, wie er die Seinen zieht, damit sie sich aufmachen, um vor sein Angesicht zu treten.
Angesengtes Holzscheit
Die Heilige Schrift vergleicht uns hier mit einem angesengten Holzscheit. So ein Stück verkohltes Holz ist wahrlich nicht ansehnlich. Möglicherweise hatte es vor dem Brand einen gewissen Wert, aber nun ist es in Mitleidenschaft gezogen und beschädigt. Wieso spricht die Heilige Schrift so von Menschen, die Gott gerettet hat? Werden wir auf diese Weise nicht auf die Schattenseiten unserer Errettung hingewiesen? Ist das nicht Ausdruck von Missachtung der Erlösung?
Man könnte erwidern: Immerhin ist das angekokelte Stück Holz nicht völlig verbrannt. Es ist ein Gewinn, dass es überhaupt noch vorhanden ist. Offensichtlich ist es gleichsam im letzten Moment aus dem Feuer herausgerissen worden. Die Kernaussage dieses Verses ist also positiv: Ihr seid noch einmal davongekommen. Ihr seid errettet, heraus aus den Gerichtsschlägen Gottes, die mit dem Untergang Sodoms und Gomorras verglichen werden. Wenn ihr auch offensichtlich Einbußen erlitten habt: Im Großen und Ganzen lief es mit euch noch einmal gut ab. Wie verhält sich das mit den Vor- und Nachteilen bei unserer Errettung?
Um eine Antwort auf diese Frage zu bekommen, kann uns ein Ereignis aus dem Leben des Erzvaters Jakob wegweisend sein. Als Jakob auf dem Rückweg von seinem Onkel Laban an den Fluss Jabbok kam, hörte er, dass sein Bruder Esau ihm mit 400 Mann entgegenritt. Jakob packte die Angst. In seiner Panik griff er auf eingeübte Verhaltensmuster zurück. Das heißt, er versuchte zu tricksen. Er teilte seinen Herdenbesitz in mehrere Teile auf und ließ Geschenke vor sich hertragen, um Esaus Zorn zu beschwichtigen. Aber er ahnte wohl selbst, wie sinnlos diese Manöver gegenüber einem zürnenden Bruder waren. So flehte er Gott um Rettung an. Schließlich habe Gott ihm den Auftrag gegeben, aus Haran wegzugehen. Es sei Gott selbst gewesen, der verheißen habe, ihm Gutes zu tun. Also solle Gott ihm nun auch beistehen und ihn retten.
Tatsächlich kam es bei der Begegnung zwischen den Brüdern am nächsten Morgen nicht zu dem befürchteten Gemetzel. Das Treffen vollzog sich friedlich (1Mos. 32,4-24; 33,1-16). Aber in der Nacht davor kam es am Jabbok zu einem Kampf. Jakob rang mit einem Mann. Beim Anbruch der Morgenröte gab Jakob dem Ort den Namen Pniel. Er bemerkte dazu, er habe Gott von Angesicht zu Angesicht gesehen und „meine Seele ist gerettet„. (1Mos. 32,25-33).
Manches, was in dieser Nacht geschah, gibt Rätsel auf. Aber Folgendes ist deutlich: Für den Rest seines Lebens behielt Jakob aus diesem Kampf zweierlei übrig: einen neuen Namen und eine verstauchte Hüfte. Wenn wir jetzt sagen, der neue Name – es war der Name Israel – sei ein wesentlich größerer Vorteil gewesen als der Nachteil – die verrenkte Hüfte – dann zeugt eine solche Bewertung davon, dass wir zwischen dem Ewigen und dem Zeitlichen zu unterscheiden gelernt haben. Wir haben erfasst, das Irdische in der Perspektive des Himmlischen zu sehen (2Kor. 4,16-18).
Natürlich wird man fragen können, ob wir diese Bewertung nur so dahinsagen oder ob wir tatsächlich davon überzeugt sind. Das hätte auf jeden Fall praktische Folgen. Etwa wenn es im Anschluss an die sonntägliche Gottesdienstfeier bei einer Tasse Kaffee zu informellen Begegnungen kommt. Worüber unterhalten wir uns (vorwiegend) dann? Über Arztbesuche? Über irgendjemanden, von dem wir wieder einmal etwas Negatives in Erfahrung gebracht haben? Oder sprechen wir über das, was uns in Christus geschenkt worden ist, so dass es uns darum geht, unseren Gesprächspartner geistlich zu erbauen (1Kor. 14,26)?
Dass wir diese Gewichtung in unserem Leben so häufig vergessen, weist darauf hin, dass es offensichtlich gar nicht so leicht ist, ja dass Glaubensmut dazu gehört, unsere gegenwärtigen Mängel und Entbehrungen als nicht so entscheidend einzuordnen angesichts der Errettung in Christus.
Kurzum: Wenn uns zunächst bei dem angesengten Holzscheit die Nachteile und Beschädigungen unseres Lebens in den Sinn kommen, werden wir im Glauben darauf bestehen, dass alle diese zeitlichen Mankos in keinem Verhältnis stehen zu unserem ewigen Heil.
Aus dem Feuer gerissen
Als vor 60 Jahren im Ökumenischen Weltrat der Kirchen die Idee aufkam, die Kirchen seien dazu berufen, „Weltverantwortung“ zu übernehmen, hätte man sich kaum vorstellen können, dass entsprechende Grundgedanken sich heutzutage tief in den Evangelikalismus eingefressen haben.
Demgegenüber wissen Christen, die dem Wort Gottes folgen, dass diese Welt nicht der Vervollkommnung entgegengeht, sondern dem Untergang. Weil diese Welt aufgespart ist für das Feuer (2Petr. 3,7) und die Gerechtigkeit in einem neuen Himmel und auf einer neuen Erde wohnen wird (2Petr. 3,10-13), werden sie sich durch gesellschaftliche „Transformationsideen“ nicht verführen lassen. Aber die Frage bleibt: Sind wir von dieser biblischen Wahrheit der Rettung aus dieser Welt heraus tatsächlich durchdrungen?
In der Heiligen Schrift gilt das Gericht über Sodom und Gomorra als ein Vorbild für das ewige Gericht Gottes (Jud. 7). Indem Amos die Geretteten an das Geschehen des Untergangs von Sodom und Gomorra erinnert, stellt er die Frage: Weißt du, woraus du errettet worden bist? Bestimmt dich die Einsicht, dass Gott deine lebensgefährliche Situation sah und dich durch Verkündiger des Evangeliums aus dem bereits lichterloh brennenden Haus herausgerissen hat? (Jud. 23).
Wird es im Licht dieser Errettung nicht zur Nebensache, wenn wir im Laufe unseres Lebens Brandspuren und Schrammen abbekommen? Oder denken wir, vielleicht im Geheimen: Ich will zwar gerettet werden, aber die Nachfolge darf nichts kosten!? Sind wir davon überzeugt, dass es in Ordnung ging, als Gott Lot und dessen Familie kurz vor dem Untergang Sodoms aus der Stadt herauszerrte? Sie hatten alles verloren, außer ihrem Leben.
Ich hörte einmal von einem kleinen Mädchen, das mit seinen Eltern im Urlaub am Meer war. Eines Tages erblickte es einen wunderschönen Schmetterling, lief ihm hinterher und rannte dabei auf die steilen Klippen zu. Es hatte den Abgrund nicht im Blick, denn der Schmetterling war so schön… Als sein Vater die Gefahr erkannte, rief er, schrie er hinter seiner Tochter her. Aber die Brandung war zu laut. Das Kind hörte nicht. Glücklicherweise hatte er ein Gewehr bei sich. Er war ein guter Schütze und schoss seinem geliebten Kind ins Bein. Wie sich bald herausstellte, behielt es dadurch für den Rest seines Lebens einen bleibenden Schaden am Knie zurück. Das war unbestritten ein Nachteil. Aber immerhin: Das Mädchen war nicht in den todbringenden Abgrund gestürzt.
Kein ausbalanciertes Leben
Was ist uns lieber? Würden wir lieber in Sodom und Gomorra bleiben und dann verbrannt werden oder in letzter Minute aus dem Feuer gerissen werden? Oder träumen wir uns in das Wunschdenken hinein, Christsein führe in eine harmonisch abgerundete Lebensentfaltung?
Wenn wir das meinen würden, würden wir einer großen Täuschung unterliegen. Niemals hat der Sohn Gottes seinen Jüngern eine ebenmäßig verlaufende Existenz verheißen. Im Gegenteil: Christsein ist alles andere als das Sahnehäubchen zu einer wohlkomponierten, bürgerlichen Existenz. Es ist immer auch ein Durchkreuzen unseres „normalen“ Lebens. Wenn wir das nicht wollen, dann sollten wir eher einem humanistischen Lebensentwurf folgen, so wie es zum Beispiel im Freimaurertum propagiert wird.
Zum einen trägt das Wort Gottes uns einen Kampf auf, der in uns selbst tobt. Der Apostel Paulus gibt einmal die Anweisung, die Glieder, die auf Erden sind, zu töten. Er wird dann konkret, worum es geht: Unzucht, Unreinheit, Leidenschaft, böse Lust und den Götzendienst der Habsucht. (Kol. 3,5.6). Indem Paulus hier vom Töten der Glieder spricht, knüpft er an eine Aussage an, die Jesus in der Bergpredigt gemacht hat: „Es ist besser für dich, dass eines deiner Glieder verloren geht und du mit einer Hand oder mit einem Auge in das Reich Gottes eingehst, als mit zwei Händen oder zwei Augen in die Hölle geworfen wirst.“ (Mt. 5,29.30). In einem gewissen Sinn fordert der Herr hier auf, die Vor- und Nachteile abzuwägen: Was ist dir lieber? Angesengt ins Reich Gottes zu gelangen oder äußerlich unbeschadet, ebenmäßig ausbalanciert in der Hölle zu landen?
Solange wir in diesem Leib sind, befinden wir uns im Kampf zwischen Geist und Fleisch (Röm. 8,13). Schon aus diesem Grund wird in unserem Leben vieles nicht harmonisch oder wohlproportioniert ablaufen.
Zum anderen ist da noch die Welt, zu der wir selbst in vieler Hinsicht gehören und in der wir stehen. Der Sohn Gottes hat uns dazu verpflichtet, das Kreuz zu tragen. Als einmal der Apostel Paulus seinen Dienst für Christus beschreibt, schildert er die gewaltigen Spannungen, in die er dabei geraten ist: unter Ehre und Schande, bei böser und guter Nachrede, als Verführer und doch wahrhaftig, als Unbekannte und doch wohlbekannt, als Sterbende – und siehe, wir leben; als Gezüchtigte, und doch nicht getötet, als Betrübte, aber immer fröhlich, als Arme, die doch viele reich machen, als solche die nichts haben und doch alles besitzen (2Kor. 6,8-10). An anderer Stelle bezeichnet der Apostel sich sogar als ein Narr um Christi willen und als Kehricht der Welt (1Kor. 4,10.13).
Ein junger Christ, der einen Großteil seines Tages in der Schule zu verbringen hat und auf den dort unsagbar viel gottloses Zeug einstürmt, stellte mir beim Abendessen die Frage: Weißt du eigentlich, wie die Leute darüber denken, was du so glaubst? Ich antwortete ihm: Ich weiß es. Ich fügte hinzu: Wenn ich nicht den Geist Christi hätte, würde ich vermutlich das als genauso absonderlich und bizarr beurteilen, wie „die Leute“ es zu tun pflegen.
Tatsächlich werden wir nicht immer den Eindruck vermeiden können, realitätsferne Spinner zu sein. Es kann gut sein, dass unsere Umgebung uns als psychische Krüppel wahrnimmt, erfüllt mit merkwürdigen Ideen.
Bei vielen unserer Zeitgenossen stößt es inzwischen auf blankes Unverständnis, wenn wir bekennen, dass die Ehe eine Beziehung zwischen einem Mann und einer Frau ist und nicht zwischen zwei gleichgeschlechtlichen Partnern. Vielleicht wird man bei uns eine Homophobie diagnostizieren. – Na wenn schon! Es geht darum, dem Wort Gottes gehorsam zu sein. Deswegen lehnen wir „homosexuelle Ehen“ ab.
Wenn man heute zum Predigtdienst von Frauen Nein sagt, irritiert das nicht nur viele unserer Zeitgenossen, sondern man setzt sich des Verdachts aus, „machohaft“ zu sein. – Na und?
Dass wir die Heilige Schrift als wahrhaftiges, irrtumsloses Wort Gottes annehmen und so bekennen, wird uns nicht selten den Vorwurf einbringen, ein fanatischer, verklemmter Fundamentalist zu sein. – Ist das so schlimm?
Erinnern wir uns daran, wie es Lot in Sodom erging. Er wurde auch gequält von dem, was tagtäglich so auf ihn einstürmte (2Petr. 2,6-10). Natürlich kann uns das, was uns nachgesagt wird, schlaflose Nächte bereiten. Aber ist das so schlimm? Wenigstens sind wir aus dem Brand entkommen und laufen in den rettenden Hafen ein.
Verzerrte Verkündigung
Nicht selten wird heute mit dem Christsein in einer höchst gefährlichen Weise geworben. So als ob unser Glaube ein Ausstellungsstück ist, mit dem man auf diese Welt Eindruck machen könnte! So als ob die Bibel ein Erfolgsprogramm verbreitet, in dem uns ein Lebenstriumph nach dem anderen versprochen ist.
Jemand verkündet, Christsein, das heiße, in Situationen, in denen andere in Panik geraten, Ruhe zu bewahren. Nun, zweifellos ist es ein Geschenk, wenn wir, zum Beispiel bei einer Flugzeugentführung, die Ruhe bewahren, im Vertrauen darauf, dass Gott auch diese Situation unter Kontrolle hat. Selbstverständlich können wir dafür beten, in solchen oder ähnlichen Situationen ruhig zu bleiben.
Aber ist uns klar, dass Christsein auch heißen kann, unruhig zu werden, und zwar in Situationen, in denen sich alle anderen in heiterer Fröhlichkeit ergehen und sich prima fühlen, einfach deswegen, weil sie die Gefahren nicht sehen (wollen)?
Als Paulus in Antiochien die Heuchelei des Kephas scharf anprangerte (Gal. 2,11-14), entsprach das sicher nicht den Verhaltensvorstellungen, wie sie in unserer evangelikal korrekten Welt heute erwartet werden. Aber war es deswegen ungeistlich? War es nicht vielmehr geboten, energisch und unbeirrt gegen die Kulissenschieberei anzugehen? Der Apostel Paulus blickte hier tiefer und begriff, dass in dieser Stunde nicht weniger als die Wahrheit des Evangeliums auf dem Spiel stand. Sind wir zu einer solchen Unruhe gegebenenfalls auch bereit? Auch dann, wenn es uns nicht Applaus, sondern Verletzungen und Kratzer einbringt?
Jemand sagte mir einmal: Seitdem ich im Glauben stehe, haben die Probleme in meinem Leben zugenommen. Diese Person sagte das nicht verbittert und schon gar nicht selbstmitleidig, sondern mit einem bemerkenswert unaufgeregten, nüchternen Blick auf das eigene Leben. Sie konnte so sprechen und realistisch auch die Schattenseite in den Blick nehmen, weil sie erkannt hatte, wie viel dem gegenübersteht. Nicht zuletzt war sie sich darüber im Klaren, dass Jesus in diese Welt gekommen ist, nicht um ihr Wohlfühltherapeut zu sein, sondern ihr Erretter.
Abgesehen von dem Bild des aus dem Feuer gerissenen Holzscheits, verwendet der Prophet einen weiteren Vergleich, um uns diese Wahrheit vor Augen zu führen: „Wie ein Hirte aus dem Rachen des Löwen zwei Schenkel oder ein Ohrläppchen rettet, so sollen die Kinder Israels, die in Samaria wohnen, errettet werden. Sie werden nur die Kopfecke des Sofas und den Damast des Ruhebettes retten.“ (Am. 3,12).
Auch dieses Bild beunruhigt eher. Es wirft die Frage auf: Soll das Rettung sein? Ein Schaf, das nahezu völlig verschlungen ist, so dass der Hirte es mit aller Gewalt aus dem Maul der Bestie herauszerren musste? Unbeschädigt wird das Schaf da sicher nicht herauskommen… Aber immerhin: Da ist ein Hirte, der sich für sein Schaf einsetzt.
Herausgerissen wie ein Holzscheit aus der Feuersbrunst! Herausgezerrt aus dem Rachen des Löwen! Selig, wer an solchen Bildern keinen Anstoß nimmt!
Übrigens erfahren wir dann auch die großen Segnungen der Rettung durch Gott den Herrn, auch in unserem Auftreten: Liebe, die nicht auf Kosten von Wahrheit und Aufrichtigkeit geschieht, also ohne Heuchelei und Bluff ist; Friedenstiften, das nicht die Schuldfrage ausklammert oder aus Oberflächlichkeit wegdiskutiert, sondern wahrhaftige Versöhnung bringt; Freundlichkeit, die sich nicht aus kalkulierter Berechnung speist, usw.
Aber das sind dann eben keine eigenen Charakterzüge. Sie gehören nicht uns selbst. Vielmehr sind sie Frucht des Geistes Gottes. Wenn wir sie geschenkt bekommen, dann kann es sein, dass wir uns über uns selbst wundern und erahnen: Das bin ich ja gar nicht! Ich selbst hätte ganz anders reagiert! Hier bin ich über mich selbst hinausgewachsen! Hier lebe ich auf zu großem Fuß. Ja, das stimmt! Denn dann leben wir gleichsam auf geschenktem Fuß. Es ist das Werk des Heiligen Geistes, für das wir lediglich Träger sind.
Dennoch seid ihr nicht bis zu mir umgekehrt
Aufschlussreich ist der Zusammenhang, in dem von dem aus dem Feuer gerissenen Holzscheit die Rede ist. Aus dem Kontext geht hervor, dass dieser Vergleich uns nicht gegeben worden ist, um uns angesichts der Schrammen und Beschädigungen, die wir in diesem Leben abbekommen, zu beruhigen. Vielmehr wird deutlich, dass Gott uns in brenzlige Situationen hineinführt, damit wir uns ganz und gar zu Gott wenden, damit wir ganz und gar bis zu Gott umkehren. Was waren die Umstände, in denen Amos dieses verkündete?
In der Mitte des 8. Jahrhunderts vor Christi Geburt berief Gott den Propheten Amos. Amos war Viehhirte in Tekoa, einem Ort unweit von Jerusalem. Er war also Bürger Judas, des Südreiches. Nach dem Tod des Königs Salomo war es zu einer Spaltung in Israel gekommen. Es entstand ein Südreich und ein Nordreich. (1Kön. 12).
Amos, der Prophet aus dem Südreich, erhielt den Auftrag, in das Nordreich zu gehen. Dort prangerte er an, dass die Menschen einander unterdrücken. Schon lange blickten sie nicht mehr dankbar auf ihre Errettung aus Ägypten zurück. Auch um die Gebote Gottes scherten sie sich nicht. Stattdessen verachteten sie die Boten Gottes und trieben mit denen, die sie auf den rechten Weg zurückweisen sollten, ihre Späßchen (Am. 2,6-12).
Aber der Kern ihres Abfalls bestand in ihrem eigenwilligen Gottesdienst. Weil es dort falsch lief, ging es auch im Alltag drunter und drüber. Das machen die Verse deutlich, die dem oben zitierten Wort vorangehen.
In den ersten drei Versen des vierten Kapitels wendet sich Amos an die Frauen. Er spricht sie an als „Kühe“: „Hört dieses Wort, ihr Kühe von Basan, die ihr die Geringen bedrückt und die Armen misshandelt und zu euren Eheherren sagt: ‚Schaffe herbei, damit wir trinken können!‚“ Amos nimmt kein Blatt vor den Mund. Vielmehr geht er die von Gott und seinem Wort Abgefallenen frontal und unnachgiebig an. Schon gar nicht nimmt er Rücksicht auf das, was in der damaligen Kultur als korrekt und untadelig galt. Sein Hinweis auf das Gezeter, mit dem die Frauen ihren „Eheherren“(!) Befehle erteilten, ist bitterer Spott. Die selbstverständlichsten Schöpfungsordnungen wurden auf den Kopf gestellt.
Geradezu einen gefühllosen Eindruck macht der Prophet, wenn er diesen in ihrer überfeinerten Kultur schwelgenden Damen einen schmachvollen Untergang ankündigt: Sie werden wie Abfall entsorgt werden („an Haken weggeschleppt„). Und nicht nur den Frauen wird es so ergehen, wenn das Gericht Gottes eintrifft, sondern auch „euren Kindern„. (Am. 4,2.3). Tatsächlich dauerte es noch gut eine Generation, bis das Nordreich schmachvoll unterging und die Überlebenden in die Assyrische Gefangenschaft verschleppt wurden.
Eigenwilliger Gottesdienst – und die Folgen
Aber die Verdrehungen im Umgang der Geschlechter waren lediglich ein Symptom des Abfalls von Gott. Im Kern ging es darum, dass die Menschen Gott nicht so verehrten, wie Gott es in seinem Wort bestimmt hatte. Der sittenlose Zustand innerhalb des Volkes Gottes war lediglich Folge, die aus dem eigenfabrizierten Gottesdienst herrührte. Genau auf diesen „Gottesdienst“ kommt der Prophet im Folgenden zu sprechen: „Geht nur nach Bethel und sündigt, und in Gilgal sündigt noch mehr. Bringt nur jeden Morgen eure Opfer und am dritten Tag eure Zehnten.“ (Am. 4,4). Auch hier ist der ironische Unterton unüberhörbar.
Gott hatte klare Anweisungen gegeben, wie er verehrt werden wollte. Der Gottesdienst sollte eine Abschattung des himmlischen Gottesdienstes sein. Die dargebrachten Opfer sollten auf das Opfer Christi hinweisen (Hebr. 9,1ff.).
Aber nachdem Salomo den Tempel in Jerusalem errichtet hatte, kam es zu der erwähnten Spaltung innerhalb des Volkes Gottes. Das Südreich behielt Jerusalem als Hauptstadt. Das abgetrennte Nordreich richtete einen eigenen Gottesdienst auf. Dazu stellte der König Jerobeam I. zwei Goldene Kälber auf, das eine in Dan, also im Norden seines Herrschaftsgebietes, und das andere in Bethel, das an der Südgrenze seines Landes lag, auf dem Weg nach Jerusalem (1Kön. 12,26-29).
Jerobeam I., von dem es heißt, dass er ein „tatkräftiger“ Mann war (1Kön. 11,28) – heute würde man vermutlich sagen, er hatte Managerqualitäten -, hätte es entrüstet von sich gewiesen, wenn man ihm vorgeworfen hätte, einen falschen Gottesdienst einzuführen. Vielmehr hätte er versichert, dass es ihm allein um die Ehre des Gottes ging, der sie in die Freiheit geführt hatte: „Siehe das sind deine Götter, Israel, die dich aus dem Land Ägypten heraufgeführt haben!“ (1Kön. 12,28.29). Mit anderen Worten: Niemand hat die Absicht, von Jahwe und seinem Gottesdienst abzufallen …
Allerdings führte der König einige Neuerungen ein. Dazu hätte Jerobeam I. jedoch sofort erklärt, sie seien geringfügig, sie beträfen nur Nebensächliches.
Zunächst ging es um den Ort. Gott hatte ausdrücklich geboten, dass man ihn nicht an jedem beliebigen Ort anbeten soll, sondern allein an dem Ort, den er festlegen werde (5Mos. 12,4-14). Es war dann David, der erkannte, an welcher Stelle Gott sein Haus errichtet haben möchte, nämlich auf dem Berg, zu dem hin Gott einst den Abraham geführt hatte, um dort seinen Sohn Isaak zu opfern (1Mos. 22,2; 2Chr. 3,1). Jerobeam I. dagegen erklärte: Die Menschen sollten nicht mehr nach Jerusalem gehen, sondern Gott in Bethel verehren. Das wurde dem Volk mit dem Argument der Bequemlichkeit begründet: „Es ist zu viel für euch, nach Jerusalem hinaufzuziehen.“ (1Kön. 12,28).
Auch die Priester wurden ausgewechselt. Anstelle der Priester, die laut göttlicher Ordnung aus dem Stamm Levi stammen sollten, setzte der König für seinen Gottesdienst Priester aus allen möglichen Stämmen ein (2Chr. 11,13.14; 13,9; 1Kön. 12,31). Auf diese Weise konnte er die Botschaft vermitteln, Gott zu verehren sei nicht etwas Abgehobenes, sondern zeige die Nähe zum Mann auf der Straße.
Schließlich führte Jerobeam I. einen neuen Kalender ein. Die Feste wurden von nun an nicht mehr an den Tagen begangen, die Gott bestimmte hatte. Anstatt das Laubhüttenfest am 15. Tag des 7. Monats zu feiern (3Mos. 23,34), legte der König nun fest, das Hauptfest am 15. Tag des 8. Monats zu feiern (1Kön. 12,32). Eine solche Änderung ließ sich vortrefflich als Ausdruck von Nichtgesetzlich-Sein oder von Freiheit verkaufen. Aber das Urteil Gottes über diesen eigenfabrizierten „Gottesdienst“ in Bethel lautete: „Es wurde dem Volk zur Sünde.“ (1Kön. 12,30).
Tatsächlich war während des gesamten Bestehens des Nordreichs dieser „Gottesdienst“ Ausdruck des Abfalls von Gott und dem, was er angeordnet hatte (1Kön. 14,9.10; 16,26.31; 22,53; 2Kön. 13,2; 14,24 und öfters). Durch das Aufrichten der Goldenen Kälber war die Grenze zu den kanaanäischen Fruchtbarkeitskulten, der Astarte und des Baal, fließend geworden. Als König Omri und dann sein Sohn Ahab den Baal- und Ascheradienst einführten, also ungeschminkten Götzendienst (1Kön. 16,25-33), erfuhren sie offensichtlich wenig Widerstand von Seiten des Volkes.
Auch wenn die Propheten Elia und Elisa von Anfang an den Kampf gegen den Götzendienst aufnahmen und Jehu später den Götzendienst auch ausrottete (2Kön. 9,1 – 10,30), der Bilderdienst in Bethel wurde während der gesamten Dauer des Nordreiches nicht beseitigt (2Kön. 10,31). Er blieb bis zum Ende bestehen.
Genau darauf legt der Prophet Amos seinen Finger, wenn er hier auffordert: „Geht nach Bethel und sündigt!“ Mit anderen Worten: Zieht eure eigengemachte Spiritualität durch! Die Goldenden Kälber mögen in der Sonne Bethels geglitzert und anziehend gewirkt haben, aber die inhaltliche Leere, ja die Sündhaftigkeit dieser Veranstaltung, konnte nicht verdeckt werden. Vermutlich ist Ironie die einzige Möglichkeit, um dieses Maskeradenspiel der Gottesdienstgestalter zu enttarnen.
Dabei hätten findige Theologen durchaus Argumente bedenken können, um den „Gottesdienst“ in Bethel zu rechtfertigen: Bethel, war das nicht der Ort, an dem Gott einst dem Erzvater Jakob erschienen war, der daraufhin Gott dem Herrn einen Altar aufgerichtet hatte (1Mos. 28,10-22; 35,1ff; Hos. 12,3-7)? War das nicht ein gewichtiges Argument für Bethel als sakrale Stätte?
Der Prophet Amos erwähnt ferner Gilgal als Lokalität eines eigenmächtigen Gottesdienstes. War das nicht der Ort, an dem das Volk Gottes unter Josua den Bund mit Gott erneuert hatte (Jos. 4,19 – 5,12)? Also bitte, da war doch der Anknüpfungspunkt …
An anderer Stelle erwähnt Amos Beerseba (Am. 5,5). Auch zu diesem Ort hätte man eine Geschichte konstruieren können: Immerhin war das doch die Stelle, von der Abraham einst aufbrach, um seinen Sohn Isaak zu opfern (1Mos. 21,33). Übrigens lag diese Stadt ganz im Süden des Südreiches. Sie war also wesentlich weiter vom Nordreich entfernt als Jerusalem. Aber wie groß waren die Scharen, die sich an diesem Ort einfanden!
Überhaupt hätte man aus dem Blickwinkel der Zahlen von einem gewaltigen Erfolg in Sachen Religion sprechen können. Es wurden jeden Morgen Opfer dargebracht, und jeweils am dritten Tag kam der Zehnte hinzu (Am. 4,4).
Schon von daher hätte man Amos entgegenhalten können: Was willst du eigentlich? Wir gehen doch zum Gottesdienst! Bei uns ist noch etwas los!
Aber eben: Diese Gottesdienstgestaltungen hatten keinerlei Bezug zur Wahrheit. Amos formuliert, dass an diesen Orten gesäuerte Dankopfer dargebracht wurden (Am. 4,5, vergleiche 3Mos. 7,11.12). Es war also alles mit „Sauerteig“ durchsetzt. Zur Umkehr zu den Geboten Gottes wurde bei solchen „Gottesdienstveranstaltungen“ nicht aufgefordert. Stattdessen zielten sie darauf ab, die Sinnlichkeit anzusprechen. Die an diesen Gottesdienstplätzen herrschende Atmosphäre war erotisch aufgeheizt. Ekstatische Geräusche bestimmten das gesamte Treiben. Amos tadelt das unmissverständlich: „Tue hinweg von mir den Lärm deiner Lieder, und dein Saitenspiel mag ich nicht hören.“ (Am. 5,23).
Diese selbstgewählten Gottesdienstformen waren der tiefste Grund für das Gericht Gottes am Volk Israel. Amos verkündet, dass „die Altäre in Bethel zerstört“ (Am. 3,14), „die Höhen vernichtet“ (Am. 7,9) und „eure fröhlichen Gottesdienste sich in Trauer verwandeln werden“ (Am. 8,10).
Amos, der zwei Jahre vor dem Erdbeben anfing, das Wort Gottes zu verkündigen (Am. 1,1), weist auf die Katastrophen hin: „Ich gab euch reine Zähne!“ (Am. 4,6). An sich sind „gereinigte Zähne“ etwas Positives. Aber hier ist damit eine Hungersnot angedeutet, Dürre und Missernten (Am. 4,7-9).
Ferner weist der Prophet darauf hin, dass die „Pest kommen werde, wie einst in Ägypten“ (Am. 4,10). Denkt Amos hier an die sechste Plage, als Gott die Ägypter mit Geschwüren (Blattern) schlug (2Mos. 9,8-12)? Oder erinnert der Prophet an das, was Gott durch Mose einst angedroht hatte? In 5Mose 28,27.35 spricht er von einer Epidemie, die man in Israel verhüllend mit der Begrifflichkeit „ägyptische Krankheit“ umschrieb. Vermutlich handelte es sich dabei um eine Geschlechtskrankheit, die nun wie eine Seuche um sich fraß.
Auch auf Krieg weist Amos hin (Am. 4,10). Vermutlich ist es nicht wichtig, in Erfahrung zu bringen, ob der Prophet hier an zurückliegende Kriege denkt oder an den noch bevorstehenden Einfall der Assyrer.
Mache dich auf, deinem Gott zu begegnen
Entscheidend ist, ob die Menschen diese Katastrophen als Warnrufe Gottes hören, ob sie die Geschehnisse als Ruf zur Umkehr zu Gott begreifen oder ob sie sie lediglich als innerweltliche Prozesse verstehen wollten. In letzterem Fall wäre man sicher intelligent genug, sich Konstruktionen einfallen zu lassen, mit denen man die Desaster um sich herum durch ökologische, medizinische oder politisch-ökonomische „Modelle“ erklärte. Der Mensch ist schon immer erfinderisch gewesen, wenn es darum ging, sich gegenüber Gott und seinem Ruf zu immunisieren. Der Refrain, der sich durch diesen Abschnitt zieht, „dennoch seid ihr nicht bis zu mir umgekehrt“ (Am. 4,6.8.9.10.11), wäre dann auf taube Ohren gestoßen.
Was wäre die Alternative gewesen, gerade für die, die auf Gott hörten und bisher „wie ein Holzscheit aus dem Brand“ gerettet wurden? Antwort: Sie hätten die Ereignisse verstanden als Ruf Gottes, um heimzukehren. Sie hätten nach dem Willen Gottes gefragt, nach seinen Geboten, nicht zuletzt auch bei der Frage nach dem rechten Gottesdienst. Sie hätten sich endlich aufgemacht, Gott zu begegnen.
Wenn man sie dann gefragt hätte, wie man Gott begegnet, hätten sie vermutlich mit dem Hinweis geantwortet: Ganz sicher nicht durch selbstfabrizierte religiöse Vorstellungen, gleichgültig ob sie ekstatisch rauschhaft ausgerichtet sind oder meditativ-mystisch oder sonstwie. Nur dort, wo Gott so geehrt wird, wie es ihm in Wahrheit entspricht, begegnen wir ihm – das heißt in den Gottesdiensten, in denen Gott, so wie er sich in seinem Wort geoffenbart hat, im Zentrum steht.
Der Prophet Amos musste folgendes erschreckende Wort im Namen Gottes androhen: „Siehe, es kommt die Zeit, dass ich einen Hunger ins Land schicken werde, nicht einen Hunger nach Brot oder Durst nach Wasser, sondern nach dem Wort des Herrn, es zu hören, dass sie hin und her … laufen werden und das Wort des Herrn suchen und doch nicht finden werden. In dieser Zeit werden die schönen Mädchen und die jungen Männer vor Durst verschmachten, die jetzt schwören bei dem Abgott Samarias und sprechen: `So wahr dein Gott lebt, Dan!´ und `So wahr der Weg nach Beerscheba lebt!´ und sie werden so fallen, dass sie nicht wieder aufstehen können.“ (Am. 8,11-14).
Hier spricht der Prophet über junge Leute, die Hunger und Durst nach dem Wort Gottes haben, und sie erhalten es nicht mehr. Denn „wie in Dan und auf dem Weg nach Beerscheba“ bekommen sie in diesen Gottesdienstveranstaltungen nur Steine statt Brot.
Jerobeam I. und seine (kirchen)politischen Religionsmanager mochten subjektiv die edelsten Argumente für die Einführung ihrer alternativen Gottesdienstgestaltungen gehabt haben. Vielleicht hatten sie das mit dem Milieu gerechtfertigt, in dem das Volk Gottes lebte. Vielleicht begründeten sie das damit, dass sie die Leute „abholen“ wollten oder die Jugend bei der Stange halten wollten und man es ihnen deswegen so angenehm wie möglich machen wollte …
Aber dieses erschaudernde Gerichtswort von Amos kann eines deutlich machen: Es gibt Gottesdienstgestaltungen, die kontraproduktiv sind. Das ist dann der Fall, wenn die in solchen Veranstaltungen herrschende Atmosphäre, zum Beispiel der dröhnende Musiklärm (Am. 5,23; 8,10), die Leute alles andere vernehmen lässt, nur nicht das Wort Gottes.
Wenn Gott uns bis zum heutigen Tage wie ein aus dem Brand gerissenes Holzscheit gerettet hat, dann ist das vor allem ein Ruf, dass wir uns aufmachen, Gott zu begegnen, und zwar nicht zuletzt in Gottesdiensten, in denen es um ihn geht, und das heißt: in denen sein Wort unverfälscht respektiert und in Freimütigkeit verkündet wird.