Über, mit und zu Jesus singen – Christus in den Psalmen

Über, mit und zu Jesus singen – Christus in den Psalmen

Einleitung

„Es haben viel heilige Väter den Psalter sonderlich vor andern Büchern gelobt und geliebt.“ So hat es Martin Luther in seiner Vorrede zu den Psalmen formuliert. Ohne Zweifel ist aus dem Alten Testament das Buch der Psalmen das Lieblingsbuch der Christen. Viele Bibelleser, die sonst Mühe mit dem ersten Teil der Bibel haben, lesen gerne die Psalmen. Wenn sie auch mit dem Gesetz und den Propheten wenig anfangen können, so sagen ihnen die Psalmen dennoch zu. Welcher Christ kennt nicht Psalm 23, der zu den berühmtesten Bibelworten überhaupt gehört! Die Psalmen wurden im Laufe der Kirchengeschichte vielfach vertont, sodass ihr Inhalt näher an unserem christlichen Alltag ist als etwa das Gesetz des Mose.

Was die Psalmen ebenfalls so wertvoll für uns macht, ist die Tatsache, dass sie uns Christus näherbringen. Tim Keller erklärt: „Die Schönheit der Psalmen liegt zum Großteil in der Art, wie sie uns den kommenden Messias vor Augen führen – Jesus Christus.“2 Jesus selbst sagte: Dies sind meine Worte, die ich zu euch redete, als ich noch bei euch war, dass alles erfüllt werden muss, was über mich geschrieben steht in dem Gesetz des Mose und in den Propheten und Psalmen. (Luk. 24,44)

Damit sind wir beim Thema. Wir begeben uns in teils unbekannte Gewässer der Bibel. Denn das Thema „Christus im Alten Testament“ ist generell ein kritischer Punkt. Manche würden dem Alten Testament jeden Bezug auf Christus absprechen, während andere Christus an Stellen im Alten Testament entdecken, bei denen die Frage auftaucht, inwieweit eine solche Auslegung auf Christus eine verantwortbare Exegese ist. Gerade bei dieser Thematik kann es schnell passieren, dass wir Eisegese (das heißt, etwas in einen Text hineinlesen) betreiben anstatt Exegese (das heißt, etwas aus einem Text herausholen).

Mein Anliegen ist es, dass wir Gewinn aus einer gesunden Exegese ziehen. Diese Exegese stützt sich auf Lukas 24,44. Es ist die Grundlage, die Jesus selbst gelegt hat.

Aber auch wenn die Thematik „Christus im Alten Testament“ Skepsis hervorruft, so haben wir bei den Psalmen oftmals noch die wenigsten Bedenken. Denn der biblische Befund zugunsten einer christusbezogenen Auslegung ist hier recht günstig. Darauf macht der Alttestamentler David Murray mit folgenden Argumenten aufmerksam:

  • Das Neue Testament zitiert mehr aus den Psalmen als aus jedem anderen alttestamentlichen Buch.
  • Von den 283 direkten Zitaten aus dem Alten Testament stammen 116, das heißt 41 Prozent, aus dem Buch der Psalmen.
  • In den Evangelien wird über fünfzigmal auf die Psalmen Bezug genommen, um auf die Person und auf das Werk Jesu hinzuweisen.
  • Als der Autor des Hebräerbriefes biblische Beweise für die Gottheit Jesu heranzog, waren mindestens sieben seiner Zitate aus dem Buch der Psalmen.3

Dass die Psalmen also etwas mit Christus zu tun haben, steht außer Frage. Uns soll die Frage leiten, inwieweit Christus in den Psalmen zu finden ist. Dazu möchte ich uns einen Verständnisschlüssel an die Hand geben. Wie bereits im Titel angekündigt, können wir die Psalmen unter drei Bezügen auf Christus betrachten.

  1. Wir singen und beten in den Psalmen über Jesus. Das heißt, die Psalmen handeln von ihm.
  2. Wir singen und beten die Psalmen aber auch mit Jesus. Das heißt, die Psalmen sind auch die Gebete Jesu.
  3. Wir singen und beten die Psalmen zu Jesus. Das heißt, wir richten unsere Gebete an ihn, der unser Gott ist.4

Diese drei Blickrichtungen sollen uns im Folgenden leiten.

 1. Wir singen und beten über Jesus

Dieser Aspekt ist uns vermutlich am vertrautesten. Ich möchte dies anhand von drei Unterpunkten aufzeigen.

1.1. Direkte Psalmzitate aus dem Neuen Testament

Die Apostel zitieren sehr häufig aus den Psalmen und zeigen dabei auf, dass sich viele Aussagen in den Psalmen auf die Person und auf das Werk Christi beziehen. Dazu ein paar Beispiele:

  • Psalm 2,1.2: Nach der Auferstehung Jesu und dem Pfingstgeschehen betete die junge christliche Gemeinde zu Gott um Beistand angesichts der Opposition.Sie verstand Psalm 2,1 und 2 als einen Hinweis auf die Verwerfung und die Kreuzigung Jesu:Der du durch den Heiligen Geist durch den Mund unseres Vaters, deines Knechtes David, gesagt hast: Warum toben die Nationen und sinnen Eitles die Völker? Die Könige der Erde stehen auf und die Fürsten versammeln sich gegen den Herrn und seinen Gesalbten.“ Denn in dieser Stadt versammelten sich in Wahrheit gegen deinen heiligen Knecht Jesus, den du gesalbt hast, sowohl Herodes als auch Pontius Pilatus mit den Nationen und den Völkern Israels, alles zu tun, was deine Hand und dein Ratschluss vorherbestimmt hat, dass es geschehen sollte. (Apg. 4,25-28)
  • Psalm 110,1: In einem Gespräch mit den Pharisäern fragte Jesus, wessen Sohn der Messias ist. Daraufantworteten sie: Davids Sohn. Anschließend zitierte Jesus aus Psalm 110,1:Wie nennt David ihn denn im Geist Herr, indem er sagt: Der Herr sprach zu meinem Herrn: Setze dich zu meiner Rechten, bis ich deine Feinde lege unter deine Füße? Wenn nun David ihn Herr nennt, wie ist er sein Sohn? (Mt. 22,43-45)
  • Psalm 118,22: Als Jesus seinen Gegnern sagte, dass sie Anstoß an ihm nehmen würden, zitierte er Psalm 118,22:Was ist denn das, was geschrieben steht: Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, der ist zum Eckstein geworden? Jeder, der auf jenen Stein fällt, wird zerschmettert werden; auf wen er aber fallen wird, den wird er zermalmen. Und die Hohepriester und die Schriftgelehrten suchten zu dieser Stunde die Hände an ihn zu legen und sie fürchteten das Volk -, denn sie erkannten, dass er dieses Gleichnis auf sie gesagt hatte. (Luk. 20,17-19)

Mit diesen Zitaten haben wir relativ wenig Mühe, zumal die neutestamentlichen Autoren uns recht gut über den Zusammenhang informieren, sodass wir die Zitate einordnen können. Doch was ist mit den Psalmen, bei denen wir kein direktes Zitat haben?

1.2. Die Person Jesu als der wahre Gerechte und das wahre Israel

Christus begegnet uns in vielen Psalmen als der wahre Gerechte, als derjenige, der das wahre Volk Gottes repräsentiert. Dabei identifizierte Jesus sich mit dem Volk Gottes. Nirgendwo wird das im Neuen Testament deutlicher als bei der Taufe Jesu. Als Jesus zu Johannes dem Täufer kam, wehrte sich dieser zuerst dagegen, Jesus zu taufen. Doch Jesus sagte ihm: Lass es jetzt so sein! Denn so gebührt es uns, alle Gerechtigkeit zu erfüllen. Da lässt er ihn. Und als Jesus getauft worden war, stieg er sogleich aus dem Wasser herauf; und siehe, die Himmel wurden ihm geöffnet, und er sah den Geist Gottes wie eine Taube herabfahren und auf sich kommen. Und siehe, eine Stimme kommt aus den Himmeln, welche spricht: Dieser ist mein geliebter Sohn, an dem ich Wohlgefallen gefunden habe. (Mt. 3,15-17)

Indem Jesus die Taufe empfing, identifizierte er sich mit dem Volk Gottes. Unmittelbar darauf bestätigte Gott der Vater Jesus, indem er ihn als seinen geliebten Sohn proklamierte.

Im Alten Testament wird das Volk Israel mehrfach als Sohn Gottes bezeichnet. Gott sagte dies klar beim Auszug aus Ägypten. Damals ließ er dem Pharao sagen: Und du sollst zum Pharao sagen: So spricht der Herr: Mein erstgeborener Sohn ist Israel – und ich sage dir: Lass meinen Sohn ziehen, damit er mir dient! (2Mos. 4,22.23)

Israel versagte durch seinen Ungehorsam, ein treuer Sohn Gottes zu sein. Aber genau dort, wo Israel aufgrund der eigenen Sündhaftigkeit gescheitert war, siegte Jesus. Er war der Sohn des Wohlgefallens, in dem keine Sünde war.

Jesus ist nicht nur der Sohn im Sinne des gesamten Volkes, sondern er ist auch konkret der Sohn Davids, der Messias. David war bekanntermaßen der Prototyp eines gottesfürchtigen Königs, obwohl er sündhaft, also nicht unfehlbar war. Aus dem Königsgesetz in 5.Mose 17,14-20 geht hervor, dass der israelitische König ein Mustervorbild eines Gläubigen sein sollte. Jesus als der Sohn Davids ist demnach der perfekte König über das Volk Gottes. Er ist das, was David aufgrund seiner Sünde nicht sein konnte. Davids Psalmen bringen uns Jesus etwas näher. Dazu einige Beispiele:

  • Psalm 38: Angst vor der Strafe Gottes.In Psalm 38 drückt David seine Angst vor dem Gericht Gottes über seine Sünde aus:Herr, strafe mich nicht in deinem Zorn, und züchtige mich nicht in deinem Grimm! Denn deine Pfeile sind in mich eingedrungen, und deine Hand hat sich auf mich herabgesenkt. Keine heile Stelle ist an meinem Fleisch wegen deiner Verwünschung, nichts Heiles an meinen Gebeinen wegen meiner Verfehlung. Denn meine Sünden wachsen mir über den Kopf, wie eine schwere Last sind sie zu schwer für mich. (Ps. 38,2-5)

Hier (wie auch an anderen Stellen, vergleiche Ps. 6,2) betet David um die Gnade Gottes. Er sieht seine Sünde und fürchtet das Gericht und den Zorn Gottes. Wir wissen aus dem Alten Testament, dass David einige Konsequenzen seiner Sünden tragen musste. Obwohl Jesus sündlos war, identifizierte er sich doch mit der Sündhaftigkeit seines Volkes, und er wurde von Gott in dessen Zorn für die Sünde gestraft! Das wovor sich David fürchtete, war das Gleiche, vor dem sich auch Jesus im Garten Gethsemane fürchtete. Der Unterschied bestand allerdings darin, dass Jesus diesen Zorn in seiner ganzen Fülle auch tatsächlich für sein Volk zu spüren bekam.

  • Psalm 17: Keine bewusste Schuld. In einigen Psalmen bringt der Psalmist seine Unschuld zum Ausdruck, oftmals im Kontext der ungerechtfertigten Anfeindung: Von deinem Angesicht gehe mein Recht aus! Deine Augen mögen Aufrichtigkeit sehen. Du hast mein Herz geprüft, hast mich des Nachts durchforscht; du hast mich geläutert – nichts findest du. Ich habe überlegt: nichts wird meinem Mund entschlüpfen. Beim Treiben der Menschen habe ich mich nach dem Wort deiner Lippen gehütet vor den Wegen des Gewalttätigen. Meine Schritte hielten sich in deinen Spuren, meine Tritte haben nicht gewankt. (Ps. 17,2-5)

Es gibt Momente in unserem Leben, in denen wir uns keiner Schuld bewusst sind. Wir werden vielleicht zu Unrecht einer Verfehlung bezichtigt. Das scheint die Situation Davids gewesen zu sein. Die Situation Jesu war sozusagen der Superlativ davon, da er allein diese Worte mit vollem Recht über sein gesamtes Leben sagen konnte, und nicht nur auf eine spezielle Situation bezogen.

  • Psalm 80: Der wahre Weinstock. In diesem Psalm bittet das Volk Israel, dass es nach dem göttlichen Gericht wiederhergestellt werden möge. Israel wird hier mit einem Weinstock verglichen, den Gott selbst gepflanzt hatte:Einen Weinstock hobst du aus Ägypten. Du vertriebst Nationen und pflanztest ihn ein. (Ps. 80,9)

Nach der Klage über die Hingabe des Weinstocks an die Nationen betet das Volk: Gott der Heerscharen! Kehre doch zurück! Schau vom Himmel und sieh! Und suche diesen Weinstock heim! Und beschirme, was deine Rechte gepflanzt hat, den Sohn, den du dir hast stark werden lassen. […] Deine Hand sei über dem Mann deiner Rechten, über dem Menschensohn, den du dir hast stark werden lassen (Ps. 80,15-18).

Hier wird es sehr konkret. Israel wird als Weinstock beschrieben, als Sohn. Ferner ist die Rede von einem Mann, dem Menschensohn. Und was sagte Jesus seinen Jüngern in Johannes 15,1? Ich bin der wahre Weinstock, und mein Vater ist der Weingärtner. Jesus nennt sich der wahre Weinstock, also genau das, was Israel hätte sein sollen.

Zusammenfassend können wir sagen, dass wir den Charakter Jesu in vielen Psalmen entdecken. Klagen die Psalmisten über ihre Schuld und bemängeln den Ist-Zustand, so weisen sie auf Jesus, der als der wahre Gerechte den Soll-Zustand verkörpert. Wird die Treue zu Gott oder Freude an Gottes Wort gerühmt, so verweist uns das auf Jesus, der es in einer vollkommenen Art und Weise auslebte.

 1.3. Die Notwendigkeit Jesu

Viele Psalmen zeigen auf Jesus, indem sie uns die Notwendigkeit seines Kommens deutlich machen. Das wird insbesondere in den beiden Bußpsalmen Davids deutlich. (Ps. 32 und 51) Wenn es um die Schuldfrage geht, wenden sich die Psalmisten an Gott, obwohl sie um das Opfersystem wissen – denn ihnen war die Unzulänglichkeit dieser Opfer bewusst.

In vielen Psalmen bringen die Psalmisten ihre Hoffnung auf ein zukünftiges Heil zum Ausdruck, weil sie sich sicher sind, dass Gott irgendetwas tun wird: Lass uns, Herr, deine Gnade sehen, und gewähre uns dein Heil! Hören will ich, was Gott, was der Herr reden wird; gewiss wird er Frieden ansagen seinem Volk und seinen Frommen, doch sollen sie nicht wieder zur Torheit zurückkehren. Fürwahr, nahe ist sein Heil denen, die ihn fürchten, damit Herrlichkeit wohne in unserem Land. Gnade und Wahrheit sind sich begegnet, Gerechtigkeit und Frieden haben sich geküsst. (Ps. 85,8-11)

Der Psalmist scheint sich sicher zu sein, dass Gott handeln wird, auch wenn die konkrete Umsetzung offen bleibt. Aber die Hoffnung ist da, dass Gott Heil bringen wird, ohne seine Wahrheit und Gerechtigkeit anzutasten. Vermutlich hatte Johannes dieses Wort vor Augen, als er über Jesus Christus verkündete: Denn das Gesetz wurde durch Mose gegeben; die Gnade und die Wahrheit ist durch Jesus Christus geworden. (Joh. 1,17)

Zusammenfassung

Wir lesen auf unterschiedliche Weise von Jesus Christus in den Psalmen. Wir haben die Zitate und Erklärungen der Verfasser des Neuen Testamentes; wir lesen von Jesu Person, von seinem Werk und von seiner Notwendigkeit.

 2. Wir singen und beten mit Jesus

Diese Blickweise ist mir erst kürzlich klargeworden. Doch seit ich die Psalmen aus dieser Perspektive lese, sind mir einige Lichter aufgegangen. Erinnern wir uns daran, dass Jesus, als er auf der Erde war, die Psalmen las. Sie waren auch sein Gebets- und Liederbuch: Versuchen Sie sich vorzustellen, was er über den Psalm gedacht hätte, den Sie gerade lesen! Denken Sie dabei daran, wer Jesus war und wozu er auf die Erde kam. Wenn wir einen ‚Klagepsalm’ lesen, denken wir gewöhnlich an die Klagen oder Leiden, die wir vielleicht gerade erleben. Aber überlegen wir uns doch einmal, was Jesus gelitten hat!5

Aus Jesu Kindheit kennen wir nur einen einzigen Bericht, und zwar den über den zwölfjährigen Jesus im Tempel. Von seiner Weisheit waren die Gelehrten sehr beeindruckt (vergleiche Luk. 2,40). Am Ende der Geschichte heißt es: Und Jesus nahm zu an Weisheit und Alter und Gunst bei Gott und Menschen. (Luk. 2,52)

Bereits als Kind war Jesus sich darüber im Klaren, wessen Sohn er ist. Doch Lukas berichtet, dass Jesus an Weisheit zunahm. Offensichtlich hat Jesus im Laufe seines Lebens Dinge gelernt – auch über sich selbst. Je mehr er das Alte Testament las, desto klarer wurde ihm sein Auftrag.

David Murray weist darauf hin, dass wir in den Evangelien Jesus in Aktion erleben und dass die Psalmen die Evangelien ergänzen. In ihnen finden wir das Seelenleben Jesu, zumal er die Psalmen wie das übrige Volk Gottes gelesen, gebetet und gesungen hat.6

An dieser Stelle ist es von Vorteil, wenn wir mit den Evangelien vertraut sind. Wenn wir die Psalmen lesen, dann sollten wir versuchen, sie mit den Augen Jesu zu lesen. Hierzu einige Beispiele:

  • Psalm 119: Freude an Gottes Wort. Jesus ist das Wort Gottes selbst, und er sagte, dass er gekommen ist, die Schrift zu erfüllen. Die Evangelien schildern uns viele Situationen, in denen deutlich wird, wie vertraut er mit dem geschriebenen Wort Gottes war. Versuchen wir einmal, Psalm 119, ein Loblied auf das Wort Gottes, aus der Sichtweise Jesu zu lesen. Welche Freude mag er dabei empfunden haben!

An dem Weg deiner Zeugnisse habe ich Freude, mehr als an allem Reichtum. (Ps. 119.14) Die dich fürchten, werden mich sehen und sich freuen, denn ich harre auf dein Wort. (Ps. 119,74) Zahlreich sind meine Verfolger und meine Bedränger. Doch von deinen Zeugnissen bin ich nicht abgewichen. (Ps. 119,157)

  • Psalm 10: Hass auf die Sünde. Wenn schon wir als Sünder unter dem destruktiven Einfluss der Sünde leiden, wie viel mehr der sündlose Sohn Gottes, der die Herrlichkeit des Vaters verlassen hatte! Wie hat Jesus wohl empfunden, als er Psalm 10 las, in dem es um die Klage angesichts der Gottlosigkeit geht? Er spricht in seinem Herzen: Ich werde nicht wanken, von Generation zu Generation in keinem Unglück sein. […] Er spricht in seinem Herzen: Gott hat vergessen, hat verborgen sein Angesicht, ewig sieht er nicht! Steh auf, Herr! Gott, erhebe deine Hand! Vergiss nicht den Elenden! (Ps. 119,6.11.12)
  • Psalm 73: Von der Welt versucht. In dem berühmten Psalm 73 schildert Asaf uns etwas von seinem inneren Kampf und seinen Versuchungen. Er sieht das Wohlergehen der Gottlosen, das seinen Glauben auf eine harte Probe stellt. Geläutert geht er daraus hervor, indem er sich auf das Ende des Lebens konzentriert. Jesus wurde versucht wie wir. Jesus sah all die Alternativen der Welt, und der Teufel ließ nichts unversucht, ihm diese Dinge schmackhaft zu machen. Doch er blieb treu. Wie muss Jesus empfunden haben, als er Psalm 73 las und darüber nachdachte? Wenn ich gesagt hätte: Ich will ebenso reden, siehe, so hätte ich treulos gehandelt am Geschlecht deiner Söhne. […] Ich aber: Gott zu nahen ist mir gut. Ich habe meine Zuversicht auf den Herrn gesetzt, zu erzählen alle deine Taten. (Ps. 73,15.28)
  • Psalm 69: Trauer über Anfeindungen und Verrat. Viele Psalmen klagen über Anfeindungen durch Menschen und auch über Verrat, manchmal durch die besten Freunde! Während seines gesamten Dienstes sah sich Jesus Anfeindungen ausgesetzt, und zuletzt wurde er von einem Freund verraten. Wie muss Jesus dabei empfunden haben, als er zum Beispiel Psalm 69 betete! Lass nicht durch mich beschämt werden, die auf dich hoffen, Herr, Herr der Heerscharen! Lass nicht an mir zuschanden werden, die dich suchen, Gott Israels! Denn deinetwegen trage ich Hohn, hat Schande bedeckt mein Gesicht. […] Denn der Eifer um dein Haus hat mich verzehrt, und die Schmähungen derer, die dich schmähen, sind auf mich gefallen. (Ps. 69,7.8.10)

Zusammenfassung

All die Emotionen, die unser Glaubensleben kennzeichnen, sind Jesus Christus nicht fremd. Mit den Psalmen haben wir nicht nur Gebete, die wir uns zu eigen machen dürfen, sondern wir sollen auch wissen, dass auch Jesus sie zu seinen Gebeten machte.

 3. Wir singen/beten zu Jesus

Wir lesen in den Psalmen nicht nur über Jesus, wir lesen auch nicht nur mit ihm gemeinsam die Psalmen, sondern wir beten die Psalmen auch zu ihm. Es ist für unseren menschlichen Verstand schwer, das Geheimnis des menschgewordenen Gottessohnes zu begreifen. Oftmals betrachten wir entweder Jesus, den Menschen, oder Jesus, den Sohn Gottes, die zweite Person der Gottheit. Die Psalmen helfen uns, beide Aspekte im Blick zu behalten.

In den beiden ersten Punkten haben wir uns mehr auf die Menschlichkeit Jesu konzentriert. Doch Jesus ist auch ganz Gott. Deshalb ist er es wert, angebetet zu werden. Der Schreiber des Hebräerbriefes erinnert uns daran, dass wir zu einem Gott beten, der uns in aller Schwachheit versteht, weil er einer von uns ist: Denn wir haben nicht einen Hohepriester, der nicht Mitleid haben könnte mit unseren Schwachheiten, sondern der in gleicher Weise wie wir versucht worden ist, doch ohne Sünde. Lasst uns nun mit Freimütigkeit hinzutreten zum Thron der Gnade, damit wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden zur rechtzeitigen Hilfe. (Hebr. 4,15.16)

Alle unsere Klage, sei es über unsere Sünde, über unsere Anfeindungen, über unsere Versuchungen, über die Vergänglichkeit unseres menschlichen Lebens oder über den Zustand des Volkes Gottes: In den Psalmen finden wir vorformulierte Gebete, die wir zu unseren eigenen machen dürfen. Wir dürfen sie an Jesus richten, der unser Empfinden nachvollziehen kann.

Eine Kategorie von Psalmen habe ich bisher noch nicht erwähnt: Das Lob Gottes. Viele Psalmen loben Gott für seine Herrlichkeit, für seine Macht, für sein Richteramt, für seine Weisheit, für seine Schöpfertätigkeit und für seine Souveränität. All dies sind ebenfalls Eigenschaften des Sohnes. Paulus schreibt über Jesus: Denn in ihm ist alles in den Himmeln und auf der Erde geschaffen worden, das Sichtbare und das Unsichtbare, es seien Throne oder Gewalten oder Mächte: Alles ist durch ihn und zu ihm hin geschaffen; und er ist vor allem und alles besteht durch ihn. (Kol. 1,16.17)

Oftmals werden wir in den Psalmen zu etwas aufgefordert. Sie sind Reflexionen über verschiedene Situationen des Glaubenslebens. Es kann hilfreich sein, sich an verschiedenen Schilderungen aus den Evangelien zu orientieren, wenn wir den Bezug zu Christus finden wollen. So ist Psalm 99 eine Aufforderung, Gott für seine Heiligkeit zu preisen. Das erscheint uns vielleicht erst einmal ziemlich abstrakt. In Lukas 5,1-11 lesen wir vom Fischzug des Petrus. Petrus erschrak vor der Macht des Sohnes Gottes, und er verurteilte sich selbst als Sünder (das heißt, er erkannte die Heiligkeit Jesu). Ein anderes Beispiel ist die Stillung des Sturms. Dass auch dieses Thema in den Psalmen vorkommt, zeigt Psalm 107,29: Er verwandelte den Sturm in Stille, und es legten sich die Wellen.

Wenn wir in den Psalmen aufgefordert werden, Gott zu loben, könnten wir kurz innehalten und fragen, ob wir in den Evangelien ein Beispiel für die Göttlichkeit Jesu finden, die zu dem Lob Gottes passt. Es ist vermutlich kein Zufall, dass vieles, was im Alten Testament Gott tut, in den Evangelien über Jesus Christus gesagt wird (zum Beispiel einen Sturm zu stillen, die Augen der Blinden zu öffnen, Menschen mit Nahrung zu versorgen, usw.).

Schluss

Ich hoffe, dass wir heute ein Stück mehr davon gesehen haben, dass das Alte Testament ein christliches Buch ist. Denn es berichtet uns von Christus, von seinem Wesen und von seinem Werk. Insbesondere die Psalmen sind eine wahre Fundgrube der Christus-Erkenntnis, wenn wir sie aus der richtigen Perspektive lesen: Wir lesen in den Psalmen über Jesus, wer er ist und was er tat. Wenn wir die Psalmen mit Jesus lesen, dann bringen sie uns näher an sein Seelenleben. Schließlich dürfen wir die Psalmen zu Jesus beten, der vollkommener Gott und vollkommener Mensch ist.