Welche Rolle spielt die Lehre der Rechtfertigung in der Theologie?
Wenn man sich diese Frage stellt, werden viele vielleicht an die Aussage denken, die oft Martin Luther zugeschrieben wird: „Rechtfertigung ist der Artikel, mit dem die Kirche steht und fällt.“ Für Lutheraner ist die Rechtfertigungslehre nicht nur Teil des christlichen Glaubens, sondern sie ist die Lehre, die im Zentrum steht. Reinhard Schwarz verweist auf den Kommentar Luthers zu Amos, in dem Luther die Rechtfertigungslehre als „Haupt“ und „Eckstein“ der Kirche bezeichnet. Beide Metaphern haben eine einzigartige Bedeutung im Neuen Testament. Vom Haupt gehen „alle Lebensregungen aus und werden von ihm gesteuert.“ Der Eckstein hält den ganzen Bau zusammen. Für Luther ist die Rechtfertigungslehre „der Lebensnerv der Kirche“; sie „allein gebe der Kirche Leben, Halt und Bestand, ohne sie könne die Kirche nicht eine Stunde bestehen.“[1]
Kriterium und Maßstab?
Die Frage, mit der wir uns beschäftigen möchten, ist nicht, ob die Rechtfertigungslehre wichtig oder unwichtig ist. Sie ist zweifellos sehr wichtig für die Frage, wie ein Mensch gerettet wird. Stattdessen wollen wir uns fragen, welcher Platz im Vergleich zu den anderen Lehren der Heiligen Schrift der Lehre von der Rechtfertigung zukommt. Es geht darum, ob die Lehre der Rechtfertigung als übergeordnete Lehre betrachtet werden kann, die über alle anderen Lehren steht. Anders gefragt: Ist die Rechtfertigungslehre das Kriterium bzw. der Maßstab, anhand der alle andere Lehren beurteilt werden können?
Der amerikanische Theologe Charles Hodge (1797-1878) bringt die Bedeutung der Rechtfertigungslehre unmissverständlich zum Ausdruck, wenn er feststellt: „Wie kann ein Mensch vor Gott gerecht sein? … Eine falsche Antwort ist ein Irrtum über den Weg zum Himmel.“[2] Es ist also keine Kleinigkeit, in der Rechtfertigungslehre falsch zu liegen. Die Rechtfertigung eines Sünders kann nur auf der vollkommenen Gerechtigkeit Christi beruhen. Bei dieser Frage falsch zu liegen, bedeutet, Himmel und Hölle zu vertauschen. Wenn aber die Rechtfertigungslehre das Kriterium für die Theologie ist, d.h. Maßstab und Richter über alle anderen Lehren, dann müsste die Rechtfertigungslehre die wichtigen theologischen Lehren miteinander verbinden.
Was ist die Lehre der Rechtfertigung?
Wie kann ein sündiger Mensch vor dem heiligen Gott gerechtfertigt werden? Dies ist die grundlegende Frage der Rechtfertigungslehre. Die Antwort und der Ruf der Reformation lautete sola fide, d. h. der Glaube allein ist das Instrument (nicht das Objekt!), das den Sünder rechtfertigt. Der Glaube ist das einzige Mittel, das den Sünder mit Christus verbindet. Dieser Glaube rechnet dem glaubenden Sünder die Gerechtigkeit eines anderen, nämlich die Gerechtigkeit Jesu Christi, zu. Jemand, der gerechtfertigt ist, hat das Evangelium gehört und wurde vom Heiligen Geist von seiner völligen Verlorenheit angesichts der strahlenden Heiligkeit Gottes überzeugt.
Rechtfertigung als Zurechnung
Die Reformation im 16. Jahrhundert hinterfragte die Sicht auf die Rechtfertigung der bestehenden Kirche radikal. Die Besonderheit der Reformation war die Rückkehr zur Heiligen Schrift. Martin Luthers forensisches Verständnis der Rechtfertigung als Zurechnung auf der Grundlage des Verdienstes Christi steht im Gegensatz zu der mittelalterlichen Lehre der Kirche, die im Wesentlichen bis heute die Auffassung der römisch-katholischen Kirche ist. In ganz ähnlicher Weise definiert Johannes Calvin Rechtfertigung als einen gerechten Stand vor dem Gericht Gottes. Wird im Leben eines Menschen Sünde gefunden, bedeutet das dessen Trennung von Gott. Denn Sünde ist Gott ein Gräuel (vgl. Röm 6,23; 1Joh 3,4). Doch derjenige, der durch den Glauben die Gerechtigkeit Christi unter Ausschluss seiner eigenen Werke empfängt, wird gerechtfertigt (Röm 3,21-24). Calvin schreibt: „Unter Rechtfertigung verstehe ich also schlicht die Annahme, mit der uns Gott in Gnaden aufnimmt und als gerecht gelten lässt. Ich sage nun weiter: Sie beruht auf der Vergebung der Sünden und der Zurechnung der Gerechtigkeit Christi.“[3]
Kritik am reformatorischen Verständnis
Gegen dieses ganz auf Zurechnung beruhende Verständnis der Rechtfertigung richtete sich das Konzil von Trient, das zwischen 1545 und 1563 abgehalten wurde. In der sechsten Sitzung, Kapitel drei, erklärt das Konzil, dass diejenigen, die in Christus wiedergeboren sind, die Gnade empfangen, „durch die sie gerecht gemacht werden.“ Diese Gerechtmachung in der Sichtweise der römisch-katholischen Kirche richtet sich nicht kategorisch gegen das reformatorische Verständnis, dass der Sünder auf Basis des Verdienstes Christi gerecht ist. In Kapitel XI wird das Anathema (also der Fluch) über diejenigen ausgesprochen, die behaupten durch Glauben allein gerettet zu werden. Die Ablehnung der römisch-katholischen Kirche bezieht sich auf die alleinige Zurechnung der Gerechtigkeit Christi oder auf den alleinigen Erlass der Sünden, durch die ein Sünder gerechtfertigt wird.
Aber genau dieses Allein der Rechtfertigung wird in allen reformatorischen Bekenntnissen betont. So sagt z.B. das Westminster Glaubensbekenntnis von 1647: „Diejenigen, die Gott wirksam beruft, rechtfertigt er auch umsonst, nicht dadurch, dass er sie mit Gerechtigkeit erfüllt, sondern durch die Vergebung ihrer Sünde und dadurch, dass er ihnen Gerechtigkeit zurechnet und sie als Gerechte akzeptiert; dies nicht aufgrund von etwas, das in ihnen erarbeitet ist oder das sie getan hätten, sondern allein um Christi willen“ (11,1). Nur der Glaube, „der so Christus empfängt und in ihm und seiner Gerechtigkeit ruht, [ist] das alleinige Mittel der Rechtfertigung“ (11,2).
Welchen Platz hat nun die Rechtfertigung?
Wir haben nun gesehen, dass die Lehre der Rechtfertigung zentral für den christlichen Glauben ist, da sie die Frage beantwortet, wie ein Sünder vor Gott bestehen kann. Es ist ein Thema, dass keine Vereinigung zwischen der römisch-katholischen Kirche und den Kirchen der Reformation zulässt. Das katholische Rechtfertigungsverständnis ist ein anderes Evangelium. Entweder wird dem Sünder allein durch Glauben, die Gerechtigkeit Jesu Christi zugerechnet oder in den Menschen wird Gnade eingegossen, d.h. er wird gerecht gemacht. Im römisch-katholischen Verständnis wird das Mitwirken des Menschen zusätzlich zur Gerechtigkeit Christi die Basis zur Rechtfertigung.
Nun zurück zu unserer eigentlichen Frage: Kann die Rechtfertigungslehre damit als Kriterium für alle andere Lehren herangezogen werden? Ist sie der Maßstab und Richter über alle Lehren? Das ist die Frage, mit der wir uns jetzt beschäftigen wollen.
Der Blick auf die Dreieinigkeit
Der schottische Theologe John Webster (1955-2016) schreibt: „Gottes gerechte Beziehung zu den Geschöpfen in der Rechtfertigung des Sünders gründet sich ‚in seiner Beziehung zu sich selbst‘ als Vater, Sohn und Geist.“ [4] Das Prinzip sowie der Maßstab und Richter aller Lehren kann nur diejenige Lehre sein, aus der alle anderen entspringen. Wenn dann diese eine Lehre entfaltet wird, werden alle anderen Lehren von dieser Lehre abgeleitet. Eine solche Lehre ist die Dreieinigkeit. In ihr findet sich der gesamte Bereich der christlichen Lehre.
Was bedeutet das für die Rechtfertigung? Gott in seinem Wesen, d.h. die gerechte Beziehung zwischen Vater, Sohn und Heiligem Geist in sich selbst, ist Ausgangspunkt für Gottes äußeres Wirken in der Erlösung und Schöpfung – gerade auch in der Rechtfertigung. Gottes äußeres Wirken (ad extra) von seinem inneren Wesen zu trennen, die Lehren voneinander zu isolieren, oder die Ordnung von Gottes Sein und Gottes Wirken zu verändern, führt zwangsläufig zu theologischen Fehlern oder Verkürzungen. Die Einheit zwischen Gottes innerem Wesen (wer Gott in sich selbst ist) und seinem äußeren Handeln in der Welt muss berücksichtigt werden. Die Lehren von Gottes Sein und Gottes Handeln sind miteinander verwoben. Und jede Trennung oder Umordnung führt zu einer Verkürzung und Vereinfachung, wenn nicht zur Verfälschung, der theologischen Aussage. Demnach kann ausschließlich die Lehre von der Dreieinigkeit innerhalb der christlichen Lehre eine maßgebende und richtende Rolle zukommen.
Notwendige Schwerpunktsetzungen
Dies schließt jedoch nicht aus, dass es in der Geschichte der christlichen Kirche Situationen gab, in denen bestimmte Wahrheiten der christlichen Lehre – wie beispielsweise die Rechtfertigung im 16. Jahrhundert – angegriffen wurden und es nötig war, diese spezifische Lehre besonders zu betonen, um sie zu verteidigen. Die Lehre von der Rechtfertigung beantwortet gezielte Fragen, wie etwa die Frage nach unserer Stellung vor Gott. Wenn solche Fragen in den Mittelpunkt rücken, ist es daher richtig, die entsprechende Lehre hervorzuheben. Doch dies geschieht nicht, weil diese Lehre den Keim aller anderen Lehren in sich tragen würde, sondern weil in ihnen besonders deutlich wird, dass der dreieinige Gott in sich selbst der Erste und der Letze ist.
Drei Möglichkeiten
Der Theologe Michael Allen listet drei Möglichkeiten auf, die Lehre der Rechtfertigung in der christlichen Theologie zu platzieren:
- Die Rechtfertigung ist die zentrale Lehre und das Prinzip, nach dem alle anderen Lehren beurteilt werden.
- Die Rechtfertigung ist einfach eine unter vielen Lehren und nimmt keinen hervorgehobenen Platz innerhalb der Dogmatik ein.
- Die Rechtfertigung ist die zentrale Lehre und das Prinzip zur Beantwortung bestimmter Fragen und zur Bekräftigung spezieller Aspekte des Evangeliums. Sie soll jedoch nicht jede Frage beantworten und muss in einer umfassenderen Analyse von Gott und seinem Evangelium platziert werden.[5]
Wir haben bereits gesehen, warum die Lehre der Rechtfertigung als maßgebendes Prinzip ungeeignet ist (Option 1). Die Rechtfertigung allein reicht nicht aus, um Fragen über Gottes Wesen oder das Wesen des Menschen zu beantworten. Erst wenn die Lehre der Rechtfertigung zusammen mit anderen Lehren betrachtet wird, offenbart sich ihre Schönheit. Die Entfaltung der Wiederherstellung der Gemeinschaft mit Gott in der Person Jesu Christi erhält erst dann einen Kontext und daher eine Kraft. Zweifellos gibt es eine Verbindung zwischen allen christlichen Lehren, weil sie in Gott selbst verwurzelt sind. So beeinflusst die Rechtfertigung andere Lehren. Doch ist die Darstellung des Einflusses einer Lehre auf eine andere „etwas anderes, als zu zeigen, dass keine andere Lehre dies ebenso oder sogar besser tut oder dass die Rechtfertigung dies in überlegener Weise im Vergleich zu allen anderen tut.“[6] Als grundlegendes Prinzip wäre dies jedoch genau erforderlich. Daher ist die erste Option nicht haltbar.
Auch die zweite Option ist unzureichend. Die Lehre der Rechtfertigung ist besonders in der Auseinandersetzung zwischen evangelischer und katholischer Kirche absolut entscheidend. Sie berührt zweifellos einen theologischen Nerv, der auch andere Lehren beeinflusst. Die zentrale Bedeutung der Rechtfertigung in den Briefen an die Römer und die Galater sowie die Betonung unserer Einheit mit Christus im ersten Kapitel des Epheserbriefs lassen es nicht zu, die Lehre der Rechtfertigung lediglich als eine unter vielen in der christlichen Theologie zu betrachten.
Deshalb ist Michael Allens dritte Option zu bevorzugen. Auch wenn die Rechtfertigung nicht alle Fragen beantwortet, nimmt sie im weiteren dogmatischen Aufbau der Lehre von der Errettung einen zentralen Platz ein.
Rechtfertigung richtig eingeordnet
John Webster nennt vier Aspekte, die bei der Einordnung der Rechtfertigung wichtig sind:[7]
- Bedeutung der Rechtfertigung: Die Rechtfertigung ist in zentralen Texten des Neuen Testaments ein Hauptthema. Eine Lehre von der Errettung, die wirklich den Anspruch hat, apostolisch zu sein, muss daher die Bedeutung der göttlichen Gerechtigkeit klar hervorheben.
- Verbundene Themen: Die Rechtfertigung ist eng mit anderen Themen rund um unserer Errettung verbunden, wie Bund, Sünde, Gesetz, Tod und Auferstehung Jesu sowie Gottes Heiligkeit und der Heiligung der Gläubigen. Sie hat daher eine umfassendere Bedeutung, die nicht nur auf Konzepte wie Lösegeld oder stellvertretende Sühnung begrenzt ist.
- Rechtfertigung als historisches Ereignis: Die Sprache der Rechtfertigung betont das Heil als einen geschichtlichen Moment der Begegnung zwischen Gott und Mensch.
- Rechtfertigung und Gottes freies Handeln: Besonders die Vorstellung der zugerechneten Gerechtigkeit ist geeignet, die menschliche Dimension der unverdienten Gnade Gottes darzustellen. Die Lehre von der Rechtfertigung erinnert daran, dass Gottes Gnade das zentrale Element ist, aus dem ein Mensch lebt.
Fazit: Sehr wichtig, aber nicht das Zentrum
Es wurde einerseits gezeigt, dass die Rechtfertigung eine sehr zentrale Lehre der gesamten Schrift ist. Andererseits sollten wir festhalten: So wichtig die Lehre der Rechtfertigung auch ist (und die Aussagen Luthers von der Rechtfertigung als Artikel, mit dem die Kirche steht und fällt, mögen für das 16. Jahrhundert nachvollziehbar sein), sie kann aber auf Basis der Heiligen Schrift nicht als Kriterium und Maßstab für alle anderen Lehren angesehen werden.
Andreas Repp ist Mitgründer und Pastor der Evangelisch-Reformierten Gemeinde Villingen-Schwenningen und zudem beruflich als Auditor tätig. Nebenbei arbeitet er derzeit an seinem Master of Theology am Puritan Reformed Theological Semnary. Er ist verheiratet mit Alice und Vater von vier Kindern.
[1]. Reinhard Schwarz: Luthers Rechtfertigungslehre als Eckstein der christlichen Theologie und Kirche, Zeitschrift für Theologie und Kirche, Dezember 1998, Beiheft 10: Zur Rechtfertigungslehre, 1998, S. 14–16.
[2]. Horatius Bonar / Charles Hodge: Not What My Hands Have Done (The Trinity Foundation, 2005), S. 149. Eigene Übersetzung.
[3]. Johannes Calvin: Unterricht in der christlichen Religion – Institutio Christianae Religionis, ed. Matthias Freudenberg, 4., unveränderte Nachauflage (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2022), 397, III,11,2.
[4]. John Webster: God Without Measure: Working Papers in Christian Theology: Volume 1: God and the Works of God, 1st ed. Edinburgh [T&T Clark] 2015, S. 167.
[5]. R. Michael Allen: Justification and the Gospel: Understanding the Contexts and Controversies. Grand Rapids [Baker Academic] 2013, S. 9.
[6] Allen, S. 9.
[7]. Webster, S. 168.