Prophetie in der neutestamentlichen Gemeinde (Teil 2)

Prophetie in der neutestamentlichen Gemeinde (Teil 2)

Eine Stellungnahme zu Ideen, wie sie im Rahmen der Vineyardbewegung verbreitet werden

Während die Frühe Kirche und auch die Kirche der Reformation gelehrt haben, dass Prophetie eine grundlegende Gabe war, die wie das Amt der Apostel mit der Fertigstellung des Kanons zum Abschluss gekommen ist, weil beide Dienste die für die Kirche Christi grundlegenden Dienste sind (Eph. 2,20), trifft man gegenwärtig immer wieder auf Schriften und Artikel in evangelikalen Medien, in denen eine Gabe für die Gegenwart propagiert wird, die als „prophetisches Reden“ oder als „prophetisches Beten“ bezeichnet wird.

Nachdem der Verfasser in der letzten Nummer (BK 29) den aktuellen Nährboden dieser Ideen aufgezeigt hat (Vineyardbewegung) und dann die wesentlichen Argumente referiert hat, die gegenwärtig für das prophetische Sprechen vorgebracht werden, zum Beispiel von dem amerikanischen Theologen Wayne Grudem, prüft er im Folgenden diese Gedankenführung anhand der Heiligen Schrift.

4. Zum Verständnis W. Grudems über Prophetie

4.1 Nichtautoritative Prophetie in der Gegenwart

Wenn wir uns nun mit der These Grudems auseinandersetzen, es habe zur Zeit des Neuen Testamentes zwei Formen von Prophetie gegeben, einerseits eine irrtumslose und andererseits eine irrtumsfähige, dann wird man Grudems Überlegungen nicht dadurch bestreiten können, dass man ihm entgegenhält, er lese seine Erlebnisse und persönlichen Erfahrungen, die er innerhalb der Vineyardbewegung gemacht hat, in das Neue Testament hinein. Eine angemessene Auseinandersetzung wird nur in der Weise erfolgen können, dass man sich mit seiner Auslegungsweise der von ihm angeführten Bibelabschnitte auseinandersetzt.

4.2 Keine Diskontinuität zwischen Altem und Neuem Testament

4.2.1 Viel neutestamentliche Prophetie ist autoritativ

Zunächst ist dem amerikanischen Verfasser zuzustimmen, wenn er sich dazu bekennt, dass das letzte Buch der Heiligen Schrift, die Offenbarung, von Gott inspiriert ist, also autoritative Offenbarung ist. Das heißt, es besteht unstrittig eine Kontinuität zwischen den im Alten Testament enthaltenen prophetischen autoritativen Schriften und den neutestamentlichen. Genau wie die Propheten des Alten Testamentes von Gott inspiriert waren (Sach. 7,12; Neh. 9,30; 2 Petr. 1,19-21), war es auch Johannes (Offb. 22,6-8.18-19).

In diesem Zusammenhang ist allerdings zu beachten, dass gerade im letzten Buch der Bibel häufig von Propheten die Rede ist. Diese werden ausdrücklich unterschieden von „den Heiligen“ und „denen, die deinen Namen fürchten“ (Offb. 11,18; 16,6; 18,20). Da sie außerdem von Johannes als seine „Mitknechte“ bezeichnet werden (Offb. 22,9), darf wenigstens gefragt werden, ob diese Propheten, was die Art und Weise, in der sie Offenbarung empfangen haben, nicht eher auf einer Ebene mit Johannes stehen, als dass sie von ihm zu unterscheiden sind, so dass sie lediglich Nichtautoritatives verkündigt haben.

Im Neuen Testament wird ferner von „prophetischen Schriften“ gesprochen, etwa in Röm. 16,26. Hier denkt der Apostel Paulus nicht an das Alte Testament, wie Grudem meint. Der Vers selbst, wie auch der Kontext, machen deutlich, dass diese Prophetien „jetzt“ geoffenbart worden sind. Es ist hier also an neutestamentliche Prophetien zu denken. [1] Der Hinweis auf den Zweck, „zum Glaubensgehorsam für alle Nationen“, bringt das Autoritative der gegebenen Prophetien zweifelsfrei zum Ausdruck. [2]

4.2.2 Es besteht Kontinuität zwischen alttestamentlicher und neutestamentlicher Prophetie

Ein weiterer Hinweis auf die Kontinuität zwischen alttestamentlicher und neutestamentlicher Prophetie liegt in dem Sohn Gottes selbst vor. Er ist der Prophet (Apg. 3,21-24; 7,37), der bereits durch Mose als der Prophet verheißen worden war (5. Mo 18,18-19). Mit anderen Worten: Die Linie der Prophetie hört nicht mit dem Alten Testament auf, sondern zieht sich ins Neue durch, ja wird in ihm noch übertroffen: Ihn höret!

Ein weiteres Indiz für die enge Verbindung zwischen Altem und Neuem Testament beim Thema der Prophetie zeigt sich in der Gestalt Johannes des Täufers: Er war ein Prophet (Mt. 11,9–14; Lk. 20,6), der als Elia, bzw. in Entsprechung zu Elia das Volk Israel auf die Herrschaft Gottes vorbereiten sollte (Mal. 3,1; 4,4–6). Von daher bildet er gleichsam das Scharnier zwischen der alttestamentlichen und der neutestamentlichen Heilszeit (Lk. 16,16; Mt. 11,9-14; 17,12-13; Mk. 9,11-14; vergleiche Mt. 3,1-4; Mk. 1,1-8; Lk. 3,3-17).

Auch der Vater von Johannes dem Täufer, Zacharias, prophetierte bei der Geburt Johannes des Täufers, nachdem er „mit dem Heiligen Geist erfüllt worden war.“ (Lk. 1,67). Es gibt keinen Grund, diesen Lobgesang nicht für genauso autoritativ anzunehmen wie alttestamentliche Prophetien oder Psalmen.

Selbst wenn man die Auffassung übernimmt, nach der die prophetische Gabe mit dem Abschluss des Alten Testaments (zunächst) erloschen sei, eines ist deutlich: Propheten wie Joel künden an, dass Gott seinen Geist „auf alles Fleisch“ ausgießen wird, so dass „eure Söhne und Töchter prophetieren werden“ (Joel 3,1). Dieses Wort hat sich bekanntlich zu Pfingsten erfüllt (Apg. 2,17-21). Dabei fällt auf, dass Petrus beim Zitieren des Verheißungswortes manches präzisiert. Zum Beispiel fügt er zu Joel 3,2 hinzu: „und sie werden prophetieren“. Man beachte die Verdoppelung dieser Aussage, die sowohl in Apg. 2,17 als auch in 2,18 vorkommt. Offensichtlich zeigt sich die Erfüllung der durch Joel gegebenen Verheißung des Ausgießens des Heiligen Geistes gerade im Prophetieren.

Es ist deutlich, dass Petrus bei seiner Pfingstpredigt im Blick auf die prophetische Gabe nicht von einer Diskontinuität, sondern von einer Kontinuität zwischen Altem und Neuem Testament ausgeht.

4.2.3 Die Propheten stehen im Neuen Testament neben den Aposteln

Grudem ist Recht zu geben, dass die in Eph. 2,20 und 3,5 genannten Apostel und Propheten, in dem, was sie lehren, das Fundament der christlichen Gemeinde bilden. Sie hatten nicht weniger Autorität als die alttestamentlichen Propheten.

Allerdings überzeugt Grudems These nicht, dass man das im Epheserbrief über die Propheten Gesagte nicht auf jeden Christen des 1. Jahrhunderts beziehen dürfe, der die Gabe der Prophetie empfangen hatte.

Grudem sucht seine Auffassung mit dem Hinweis zu untermauern, an den beiden genannten Stellen im Epheserbrief seien die Propheten mit den Aposteln identisch. Denn, so seine Begründung, im griechischen Grundtext fehle bei „Propheten“ der Artikel.

Aber diese Argumentation kann nicht überzeugen: Zwar ist es die Regel, dass im Griechischen der Artikel wiederholt wird, wenn es sich um zwei zu unterscheidende Gruppen handelt, aber es gibt davon zahlreiche Ausnahmen. [3] Aus diesem Grund darf man aus dem Fehlen des zweiten Artikels allein nicht derart weitreichende Schlussfolgerungen ziehen, wie Grudem das möchte.

Gegen Grudems Identifikationsthese spricht jedoch, dass Paulus nur wenig später, in Eph. 4,11, den Artikel wiederholt. Gemäß Grudems eigener Argumentation dürfte man an dieser Stelle die Propheten nicht mit den Aposteln identifizieren, sondern müsste sie als eine eigenständige Klasse fassen. Wenn aber Paulus in Eph. 4,11 zwischen der Gruppe der Apostel und derjenigen der Propheten unzweideutig unterscheidet, dann müssten gewichtigere Argumente als Grudem sie vorbringt, dafür angeführt werden, wenn man in Eph. 2,20 und 3,5 Propheten und Apostel gleichsetzen soll.

4.3 Göttlich autoritative Prophetie in der Apostelgeschichte

4.3.1 Der Prophet Agabus entspricht in seiner Autorität den alttestamentlichen Propheten

Der am häufigsten in der Apostelgeschichte anzutreffende Prophet ist Agabus. [4] Dass dieser Prophet in Kontinuität zu den alttestamentlichen Propheten stand, deutet die im Blick auf ihn verwendete Redewendung an: „Dies ist das, was der Heilige Geist sagt“ (Apg. 21,11; siehe dazu die gleiche Formulierung in: Jes. 7,7; Hes. 5,5; Am. 1,3.6.11.13; Ob. 1; Mi. 2,3; Nah. 1,12; Sach. 1,3-4; vergleiche im Neuen Testament: Offb. 2,1.8.12.18; 3,1.7.14). Überall, wo entsprechende Formulierungen sonst in der Apostelgeschichte vorkommen, wird damit göttliche Offenbarung zum Ausdruck gebracht (Apg. 8,29; 10,19; 18,9).

Genau wie man es bei vielen alttestamentlichen Propheten lesen kann, wurde Agabus als Bote Gottes durch den Heiligen Geist bevollmächtigt: Er sprach „durch den Heiligen Geist“ (Apg. 11,28; siehe dazu: 4. Mos. 11,25-29; 1. Sam. 10,6.10; 2. Sam. 23,2; Neh. 9,30; Jes. 42,1; 59,21; Sach. 7,12). Entsprechend den Propheten des Alten Testamentes machte er Aussagen über die Zukunft. Diese wurden erfüllt (Apg. 11,27-28). Schließlich unterstrich Agabus in Übereinstimmung zu den alttestamentlichen Propheten seine Weissagung durch symbolische Handlungen (Apg. 21,11).

Grudems Auffassung, der Begriff des „Anzeigens“ der Hungersnot (Apg. 11,28) weise darauf hin, dass Agabus nicht in göttlicher Autorität gesprochen habe, sondern dass seine Botschaft einen stark subjektiven Charakter getragen habe, ist nicht überzeugend. Übrigens begegnet das gleiche Wort „bezeichnen“ in Offb. 1,1, also am Anfang einer unstrittig autoritativen Prophetie.

Der Argumentation des Verfassers, Agabus habe in Apg. 21,10-11 etwas nicht Korrektes prophezeit (nicht die Juden hätten Paulus gebunden, sondern die Römer), wird entgegen zu halten sein, dass Grudem hier einem reichlich überzogenen und insofern anfechtbaren Literalismus frönt.

Zum Vergleich folgendes Beispiel: In Apg. 1,18 verkündet der Apostel Petrus, Judas habe mit seinem Verräterlohn ein Feld „erworben“. Aus Mt. 27,3-7 geht hervor, dass nicht Judas selbst, sondern andere nach seinem Tod dieses Feld gekauft hatten. Hatte Petrus deswegen gelogen?

Worum es in der Prophetie des Agabus geht, ist doch folgendes: Paulus werde aufgrund des aufrührerischen Verhaltens der Juden von den Römern in Schutzhaft genommen. Dabei wirkten die Römer zunächst lediglich als Katalysator (Apg. 21,27-31.35; 22,29-30), bis sie schließlich für die Überführung des Apostels nach Rom Sorge trugen. Genauso deutet Paulus die Ereignisse in Jerusalem im Nachhinein: Er sei „gefangen aus Jerusalem in die Hände der Römer überliefert worden“ (Apg. 28,17).

4.3.2 Zum „Ungehorsam“ des Paulus

Nichtautoritative Prophetie sucht Grudem weiter mit Apg. 21,4 zu begründen: Dass Paulus dieser Prophetie nicht gehorsam gewesen sei, beweise, dass er sie nicht als göttlich verpflichtend aufgefasst habe.

Diese Stelle wirft unstrittig Fragen auf. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass die Geschehnisse hier außerordentlich gerafft berichtet werden. Möglicherweise würde sich das Problem lösen, wenn man detaillierte Informationen hätte. Eventuell wird man diese Aussage so zu deuten haben, dass die „durch den Geist“ erfolgte Botschaft lediglich in der Warnung vor Drangsalen bestand, die auf den Apostel in Jerusalem zukommen werden (ähnlich wie in Apg. 20,23). Daraus zogen dann die Freunde des Apostels den Schluss, er solle nicht nach Jerusalem hinaufgehen (Apg. 21,14). Ob Apg. 21,4 so auszulegen ist, muss offen bleiben. Es lässt sich auch nicht ausschließen, dass Paulus hier ungehorsam war und dadurch Schuld auf sich geladen hat.

Auf jeden Fall aber ist es eine viel zu weitgehende Schlussfolgerung, wenn man aus Apg. 21,4 ableiten möchte, es würde im Neuen Testament neben einer göttlich-autoritativen Prophetie eine menschliche Prophetie geben.

4.4 Prophetie in 1 Korinther 11-14

Die Hauptargumente für seine Prophetie-These bezieht Grudem aus 1. Kor. 11-14. Fragen wir: Sind sie stichhaltig?

4.4.1 Prophetinnen

Zu der These, weil es Frauen gestattet sei, in der Gemeindeversammlung zu prophetieren (1. Kor. 11,5), könne dieses nicht autoritativ gewesen sein, ist folgendes zu sagen:

In 1. Kor. 11 geht es dem Apostel überhaupt nicht um die Frage, ob Frauen in einer Gemeindeversammlung prophetierend auftreten dürfen. Dieses ist in diesem Kapitel noch gar nicht sein Thema! In diesem Kapitel behandelt Paulus die in der korinthischen Gemeinde herrschende chaotische Unordnung. Diese zeigte sich sowohl in der undisziplinierten Beziehung der Geschlechter zueinander (1. Kor. 11,2-16), als auch in Spaltungen (1. Kor. 11,17-19) sowie in der Art und Weise, in der das Heilige Abendmahl gefeiert wurde (1. Kor. 11,20-34). [5]

Eine Antwort auf die Frage, ob es Frauen gestattet ist, in einer Gemeindeversammlung zu prophetieren, gibt der Apostel nicht in 1 Kor. 11, sondern erst in 1 Kor. 14,34. Dort ordnet er an, dass eine Frau schweigen soll, also – man beachte bitte die vorangegangenen Verse, in denen das Prophetieren behandelt wird – nicht während eines Gottesdienstes prophetieren soll.

Damit ist nicht gesagt, dass Frauen überhaupt nicht prophetisch reden durften (wenn auch nicht in Gemeindezusammenkünften). Sowohl im Alten Testament begegnen Prophetinnen, wie Miriam (Ex. 15,20), Debora (Richt. 4,4) oder Hulda (2. Kön. 22,14), als auch im Neuen Testament, wie zum Beispiel Hanna (Lk. 2,36-38; siehe dazu ferner: Apg. 2,17; 21,9).

4.4.2 Die Rangordnung zwischen Apostel und Prophet

Zu dem Argument Grudems, weil Propheten gemäß 1. Kor. 12,28 in der Rangfolge unter den Aposteln stehen, sei ihre Verkündigung nicht göttlich autoritativ, sondern mit Irrtümern behaftet, ist zunächst zu beachten, dass die an dieser Stelle vorgenommene Klassifikation der Gaben nicht unter dem Gesichtspunkt göttlicher Autorität erfolgt, sondern unter dem Blickwinkel der Erbauung der Gemeinde. Das Thema, um das es in 1. Kor. 12 geht, ist die Art und Weise, wie in der Gemeinde die von Gott empfangenen Gaben eingesetzt werden sollen: nämlich zur Erbauung der Gemeinde. [6]

Davon abgesehen: Selbst wenn ein Prophet in den neutestamentlichen Kirchen nicht mit derselben Autorität auftrat wie ein Apostel, [7] er steht auf jeden Fall an zweiter Stelle, unmittelbar nach einem Apostel. Er hat also die gleiche Stellung wie in Eph. 2,20; 3,5 und 4,11. Mit 1. Kor. 12,28 begründen zu wollen, dass das, was ein Prophet verkündet, nicht göttlich autoritativ sei, sondern nur menschlich sei, ist – zurückhaltend formuliert – wenig überzeugend.

4.4.3 Das Prüfen der Propheten im Neuen Testament

Der Meinung Grudems, nur bei irrtumsfähigen Propheten habe es Sinn zu „prüfen“ (1. Kor. 14,29), ist folgendes entgegenzuhalten:

Bereits im Alten Testament war das Prüfen von Propheten nicht nur erlaubt, sondern geboten: Man musste recherchieren, ob Gott, der Herr, denjenigen, der mit dem Anspruch auftrat, ein Prophet zu sein, tatsächlich gesandt hatte. Wenn sich herausstellte, dass der Herr ihn nicht gesandt hatte, musste er mit dem Tod bestraft werden (5. Mo 18,20–21).

Ein Kriterium, an dem man beurteilte, ob der Betreffende ein wahrer Prophet oder ein Lügenprophet war, war die Frage, ob das von ihm Verkündigte eintrifft (5. Mo 18,22). Aber das Eintreffen des Verkündigten allein reichte als Beleg dafür, ob jemand als wahrer Prophet zu gelten hatte, nicht aus. Man hatte außerdem zu untersuchen, ob er dazu aufforderte, bei Gott, dem Herrn, zu bleiben. Wenn er dazu aufrief, den Herrn zu verlassen, gleichgültig, ob seine Prophetie eintraf oder nicht, war er ebenfalls als ein falscher Prophet entlarvt (5. Mo 13,3-6). Es war sogar möglich, dass ein (anfangs) wahrer Prophet abfallen konnte und etwas verkündigte, das ihm der Geist Gottes nicht eingegeben hatte (siehe: 1. Kön. 13,11–25). So war es unbedingt notwendig, gegenüber jedem, der mit dem Anspruch auftrat, Prophet zu sein, wachsam zu sein. [8]

Dass die Aufforderung, Propheten zu prüfen auch im Neuen Testament auftaucht, beweist die Kontinuität zwischen Altem und Neuem Testament. Der Herr hatte einerseits verheißen, er werde Propheten senden (Mt. 23,34), andererseits hatte er gewarnt, dass viele falsche Propheten aufstehen und verführen werden (Mt. 24,11.24; 7,22). Zweifellos war nicht jeder Christ ein Prophet (1. Kor. 12,29). Aber gemäß Apg. 2,17 ff. trat die prophetische Gabe seit Pfingsten verstärkt auf. Dass dann auch viele (!) falsche Propheten in die Welt ausgegangen waren (1. Joh. 4,1), kann nicht überraschen. [9]

Wenn in der Gemeinde von Korinth Leute auftraten, die Jesus sogar verfluchten (1. Kor. 12,3), wird man das Gebot, zu prüfen, gerade in dieser Gemeinde nicht für überflüssig erachten können. Ja, da in Korinth offensichtlich nicht nur falsche Propheten, sondern auch „falsche Apostel“, „betrügerische Arbeiter“ am Werk waren, die sich so vortrefflich zu verstellen wussten, dass sie wie „Apostel Christi“, ja, wie „Engel des Lichts“ und „Diener der Gerechtigkeit“ auftraten (2. Kor. 11,13-15), war das Prüfen in dieser Hafenstadt nun wirklich unverzichtbar. Menschen, die als herumreisende (?, vergleiche: Apg. 21,10) Propheten in die Gemeinde von Korinth kamen, durften nicht unkritisch aufgenommen werden. Vielmehr hatten sie sich den anderen Propheten unterzuordnen, indem sie sich von ihnen prüfen ließen.

Beim Prüfen ging es zum einen darum, dass das von ihnen Verkündete beurteilt wird. Gemäß Röm. 12,7 soll Prophetie „nach Analogie des Glaubens“ erfolgen. Damit wird die Prophetie an den der christlichen Lehre entsprechenden Glauben gebunden.

Das Prüfen bestand nicht darin, abzuwägen oder zu sortieren zwischen dem, was ein als Prophet Auftretender an Richtigem und was er an Falschem verkündet. [10] Auch sollte das Prüfen keineswegs in der vorausgesetzten Annahme erfolgen, ein wahrer Prophet könne gelegentlich auch einmal etwas Falsches sagen, sodass es Aufgabe der Prüfenden sei, herauszufiltern, was an dem von ihm Dargebotenen akzeptabel ist und was nicht. Im Gegenteil: Das Prüfen hatte unter der Voraussetzung zu erfolgen, dass ein nicht von Gott legitimierter Prophet das Potenzial hat, durchaus verbal Richtiges zu sagen (vergleiche dazu: Apg. 16,16; Joh. 11,50.51; Tit. 1,12-13). Folglich hatte das Prüfen die Aufgabe, über das hinaus, was der als Prophet Auftretende bekundete, den „Geist“ zu prüfen (1. Kor. 12,10). Dass es beim Prüfen (auch) um die „Geister“ geht, also um das Untersuchen der Herkunft, der Quelle des als Prophetie Dargebotenen, wird auch sonst im Neuen Testament befohlen: „Prüft die Geister“ (1. Joh. 4,1-3). Das heißt: Untersucht, ob die Prophetie göttlichen oder antichristlichen Ursprungs ist.

4.4.4 Das Unterbrechen eines Propheten

Aus der Anweisung des Apostels Paulus, dass ein Prophet schweigen soll, wenn einem anderen eine Offenbarung wird (1. Kor. 14,30), ist ebenfalls nicht auf das Vorhandensein von nichtautoritativer „Gemeindeprophetie“ in der neutestamentlichen Kirche zu schließen.

Das Unterbrechen des ersten Propheten muss keineswegs bedeuten, dass dessen Prophetie nicht wichtig ist oder verloren gehen kann. Die folgenden Verse (1. Kor. 14,31-32) zeigen an, dass Paulus hier nicht die Frage der Autorität eines Propheten thematisiert, sondern dass er sich hier gegen Disziplinlosigkeit im Gottesdienst wendet: Wenn ein Prophet, der eine Offenbarung von Gott empfangen hat, diese verkündet, darf sein Auftreten nicht in ungebremster Ekstase erfolgen, sondern das Kennzeichen einer von Gott stammenden Offenbarung ist, dass sie der Kontrolle des Propheten untersteht, denn: „Die Geister sind den Propheten untertan“ (1. Kor. 14,32). Die Aufforderung, einen Propheten gegebenenfalls zu unterbrechen, ist also nicht Beleg für eine von Gott gegebene, nichtautoritative Gemeindeprophetie, sondern fungiert als ein Damm gegenüber ekstatischen Ausbrüchen (wie sie in der heidnischen Umgebung üblich waren).

Grudem ist zuzustimmen, dass bei der neutestamentlichen Verwendung des Begriffs „Offenbarung“ keineswegs immer an eine verbale Offenbarung von Seiten Gottes gedacht ist (siehe z.B. Röm. 1,18; Eph. 1,17). Aber damit ist noch nicht bewiesen, dass der Begriff „Offenbarung“ in 1. Kor. 14,30 einen nichtautoritativen Sinn hat. Auf jeden Fall gibt es eine auffallend große Übereinstimmung in Wortwahl und Terminologie zwischen neutestamentlichen Abschnitten, in denen unstrittig autoritative Prophetie behandelt wird, wie zum Beispiel im Epheserbrief und 1. Kor. 1214: In beiden Abschnitten begegnen nicht nur Begriffe wie „Prophet“ bzw. „prophetieren“ (Eph. 2,20; 3,5 bzw. 1. Kor. 12,28; 13,9; 14,1-6.24.31-32.37.39), sondern auch die Begriffe „Geheimnis“ (Eph. 3,3.4.9; 1. Kor. 13,2; 14,2), „Auferbauung“ sowie „auferbauen“ (Eph. 2,20–21; 1. Kor. 14,3–5.12.17.26), „Weisheit“ (Eph. 3,10; 1. Kor. 12,8) und eben auch „Offenbarung“ und „offenbaren“ (Eph. 3,3.5; 1. Kor. 14,26.30).

Dass Gott sich Propheten in „Rätseln“ offenbart, liest man nicht nur in 1. Kor. 13,12, sondern bereits im Alten Testament (4. Mos. 12,8). Kurzum: Wenn dem Begriff „Offenbarung“ in 1. Kor. 14,30 ein nichtautoritativer Sinn zukäme, müsste Grudem dieses nicht nur behaupten, sondern aus dem Wort Gottes begründen.

4.4.5 Die Beziehung zwischen Apostel und Prophet

Auch die Aussage in 1. Kor. 14,36-38, nach der Paulus gegenüber den (vermeintlichen) Propheten betont, jemand, der ihm ungehorsam sei, widerstehe einem Gebot des Herrn, beweist nicht, dass das, was ein von Gott gesandter Prophet verkündigt, irrtumsfähig ist. Das, was Paulus hier sagt, ist zusammengefasst folgendes: Ein wahrer Prophet verkündet nichts anderes, als was ein Apostel lehrt. Falls ein Prophet sich also anmaßt, gegen die apostolische Lehre Stellung zu nehmen, ist er als ein nicht von Gott gesandter Prophet entlarvt.

Die Frage des Paulus: „Oder ist das Wort Gottes von euch ausgegangen?“ (1. Kor. 14,36), will nicht zum Ausdruck bringen, es habe in Korinth keinerlei göttliche Offenbarung gegeben. Vielmehr sucht der Apostel damit dieser Gemeinde vor Augen zu führen, dass sie nicht die „Mutterkirche“ ist.

Offensichtlich wollten zahlreiche Gemeindeglieder nach ihren eigenen Vorstellungen leben, ohne sich darum zu kümmern, was in anderen Gemeinden geregelt war. Mit anderen Worten: Sie hatten eine sehr überzogene Vorstellung zum Thema Eigenständigkeit der Ortsgemeinde. Paulus wendet sich in seinem Brief wiederholt gegen einen solchen sektenhaft anmutenden Wahn, und er hebt die Übereinstimmung unter den Gemeinden im Blick auf das, was in ihnen gelehrt und gelebt werden soll, hervor (1. Kor. 4,17; 11,16; vergleiche bereits: 1,2). In dieser individualistischen Einstellung wurden die korinthischen Christen von Leuten bestärkt, die sich als besonders geistlich, ja als Propheten ausgaben. Demgegenüber betont Paulus, dass es keinen Widerspruch im Willen Gottes gibt: Wenn Paulus ein Apostel Gottes ist, ist es nicht möglich, dass ein Prophet, der mit dem Anspruch auftritt, ein Prophet Gottes zu sein, eine den apostolischen Worten entgegenstehende Prophetie verbreitet.

1. Kor. 14,36-38 kann also nicht als ein Beleg für eine minderwertige Autorität von „Gemeindeprophetie“ herhalten, sondern bringt das Gegenteil zum Ausdruck: Das Kennzeichen wahrer Prophetie ist die Übereinstimmung mit dem Wort eines Apostels. Denn beide haben dieselbe Quelle. Beide sind von Gott inspiriert.

5. Ergebnis

Wenn Grudem die Ansicht vertritt, die in der Vineyardbewegung und sonstwo innerhalb der so genannten Dritten Welle empfangenen Intuitionen, Impulse und Erleuchtungen seien irrtumsfähig, wird dem nicht zu widersprechen sein.

Wenn er aber behauptet, es habe in der neutestamentlichen Gemeinde neben der von Gott inspirierten und damit autoritativen Prophetie noch eine nichtautoritative, menschliche Prophetie gegeben, die zwar ebenfalls vom Heiligen Geist stamme, wenn auch in einer wie auch immer gearteten, indirekten (?) Form, so dass sie irrtumsfähig ist, lässt sich dieses mit dem Neuen Testament nicht belegen.

Nur wenige Jahre vor der Verschleppung des alttestamentlichen Bundesvolkes in die Gefangenschaft nach Babylon verkündet der Prophet Jeremia über die falschen Propheten folgendes:

Ich habe diese Propheten nicht gesandt, und doch sind sie gelaufen!
Ich habe nicht zu ihnen geredet, und doch haben sie prophetiert!
Hätten sie in meinem Rat gestanden, so würden sie meinem Volk meine Worte verkündigen und sie abbringen von ihrem bösen Weg und von ihren schlimmen Taten! Bin ich denn nur Gott in der Nähe, spricht der Herr und nicht auch Gott in der Ferne? Oder kann sich jemand so heimlich verbergen, dass ich nicht sehe? spricht der Herr. Erfülle ich nicht den Himmel und die Erde? spricht der Herr.
Ich habe gehört, was die Propheten reden, die in meinem Namen Lügen weissagen und sagen: „Ich habe einen Traum gehabt, ich habe einen Traum gehabt!“
Wie lange soll das noch gehen?
Soll etwa die falsche Weissagung im Herzen der Propheten bleiben?
Und die Propheten die selbsterfundenen Betrug prophetieren, haben sie nicht im Sinn, bei meinem Volk meinen Namen in Vergessenheit zu bringen durch die Träume die sie einander erzählen, gleichwie ihre Väter meinen Namen vergessen haben über dem Baal? Der Prophet, der einen Traum hat, der erzähle den Traum, wer aber mein Wort hat, der verkündige mein Wort in Wahrheit!
Was hat das Stroh mit dem Weizen gemeinsam? spricht der Herr.
Ist mein Wort nicht wie ein Feuer, spricht der Herr und wie ein Hammer, der Felsen zerschmettert?

Jeremia 23,21-31


[1]: Möglicherweise greift Paulus bei der Formulierung „prophetische Schriften“ auf den Anfang des Römerbriefes zurück (siehe Röm. 1,2). Dann läge hier eine Klammer zwischen den alttestamentlichen und den neutestamentlichen – prophetischen – Schriften vor.

[2]: In diesem Zusammenhang wäre die Frage zu bedenken, wie die Schriften des Neuen Testamentes zu bewerten sind, die nicht von Aposteln verfasst worden sind, wie zum Beispiel die Schriften des Lukas oder das Evangelium nach Markus. War hier die neutestamentliche Gabe der Prophetie involviert?

[3]: Siehe beispielsweise folgende Ausnahmen: Mt. 3,7; 17,1; 27,56; Apg. 17,12.

[4]: Siehe zum Beispiel zu anderen Propheten: Apg. 13,1; 15,32.

[5]: Hier folge ich weitgehend der Auslegung J. Calvins in seinem Kommentar zu 1. Kor. 11.

[6]: Auch die Rangordnung zwischen Zungenreden und Prophetieren in: 1. Kor. 14,1 ist gemäß dem Argumentationsbogen, der sich von Kapitel 12 bis zu Kapitel 14 spannt, unter dem Gesichtspunkt der Erbauung der Gemeinde zu fassen.

[7]: Siehe dazu das in 4.4.5 zu 1. Kor. 14,37 Gesagte.

[8]: Man denke an die harten Auseinandersetzungen zwischen Jeremia und den Lügenpropheten (Jer. 23,9-40; 28,1-17).

[9]: Dieses führte in vielen Gemeinden zu Verunsicherungen. Siehe zum Beispiel: 2. Thess. 2,1-2. Die Gemeinde in Pergamon wird nachdrücklich gerügt, weil sie verlogenen prophetischen Aktivitäten keinen Widerstand entgegengesetzt hat (Offb. 2,20-23).

[10]: In der Übersetzung, an deren Revision Grudem mitgearbeitet hat, wird dieser Vers übersetzt mit: „let the others weigh what is said“. Das ist höchst anfechtbar.