Beschleunigte Veränderung der Verhältnisse
Die letzten Jahre haben die Verhältnisse in unseren Ländern in bemerkenswerter Weise verändert. Auch wenn die Infrastruktur erhalten geblieben ist, die Schulen wieder geöffnet haben und die Wirtschaft durch enorme Neuverschuldung am Laufen gehalten wurde, haben sich deutliche Verschiebungen ergeben. Viele Betriebe sind de facto teilverstaatlicht. Die Behörden greifen durch Notverordnungen in einem bisher unbekannten Umfang in das Leben der Bürger ein. Christliche Gemeinden haben sich über die Frage nach der Zuständigkeit von Staat und Kirche zerstritten, gespalten oder sind sogar daran zugrunde gegangen.
Ich bin überzeugt: Der vom souveränen Gott durch das Virus herbeigeführte Wandel führte die bereits bestehende gesellschaftliche Misere bloß deutlicher zu Tage. Wie lange können Völker bestehen, die nachhaltig von der christlichen Weltanschauung geprägt sind, sich jedoch willentlich von ihrem Erbe abgewendet haben? Die Antwort lautet: Wir wissen es nicht. Es ist nicht an uns, Zeiten und Zeitpunkte zu bestimmen. Die „Endzeit“ hat mit Tod, Begräbnis und Himmelfahrt von Jesus Christus begonnen. Deshalb berichtete bereits Paulus in seinem Schreiben an Rom um das Jahr 57 n. Chr., dass die Nacht … vorgerückt und der Tag … nahe sei (Röm 13,12). Etwa ein Jahrzehnt später, kurz vor seinem Tod, schrieb Paulus an seinen Mitarbeiter Timotheus, dass in den letzten Tagen schlimme Zeiten herrschen werden (2Tim 3,1). Die direkt anschließende Aufzählung von Kennzeichen dieser Zeit beginnt mit der Eigenliebe und der Geldgier des Menschen.
Ich ziehe in diesem Beitrag eine Parallele zur Zeit Jeremias. Ein Kommentator hat seine gesamten Ausführungen zu Jeremia mit dem Titel Vom Mut, standhaft zu bleiben überschrieben (Philipp Ryken, Courage to Stand: Jeremiah’s Message for Post-Christian Times). Es bringt auf den Punkt, was uns Christen heute oft fehlt: einerseits Mut und Treue, um uns nicht resigniert zu ergeben, andererseits die Bereitschaft, nicht zu willigen Gefährten der aktuellen Gegebenheiten zu werden und dabei unsere Prinzipien aufzugeben.
Kurz vor dem Ende
Schauen wir uns die Kapitel 32 und 35 im Propheten Jeremia an. Seine Botschaft erstreckt sich über mehrere Jahrzehnte während der Endphase des Südreiches Juda (ca. 627 bis 587 v. Chr). Auch wenn das umfangreiche Buch nicht chronologisch, sondern thematisch in einigen größeren Blöcken angeordnet ist, erhalten wir durch zahlreiche Datierungen Hinweise über den Zeitpunkt der Abfassung. Jeremia 32 spielt in der Schlussphase des Kampfes gegen die Babylonier vor der endgültigen Zerstörung Jerusalems, während die Begebenheit in Jeremia 35 in die Zeit Jojakims etwa 10-20 Jahre davor fällt.
Im ersten Jahr des babylonischen Herrschers Nebukadnezar (604 v. Chr.) bemerkte der Prophet, dass er zu jenem Zeitpunkt bereits 23 Jahre eindringliche Warnungen weitergegeben hatte (Jer 25,3). Die frühzeitige und wiederholte Ansprache Gottes an sein Volk hatte jedoch nicht gefruchtet. Die Israeliten wollten nicht hören und blieben bei ihren götzendienerischen Gewohnheiten – ihnen selbst zum Schaden, wie es ausdrücklich heißt (Jer 25,4-7).
Legen wir unser Augenmerk jetzt auf zwei Lektionen, die einerseits den gottesfürchtigen Propheten Jeremia und andererseits den ebenso gesetzestreuen Rechabitern durch göttlichen Auftrag widerfuhren. Sie stärken uns gegen die beiden Feinde: die Resignation und den Opportunismus.
Mut statt Resignation
Der erste Abschnitt (Jer 32) ist in einen Block eingebettet, der das Trostbuch genannt wird. Gott verheißt seinem Volk trotz dessen Untreue und dem nahenden Gericht die Wiederherstellung. Diese würde allein der Güte Gottes zuzuschreiben sein. Nach 70 Jahren Gefangenschaft würde er sein Volk zurückführen (Jer 29,10).
Der Prophet Jeremia befand sich zu diesem Zeitpunkt in Gefangenschaft (32,2.3.8; vgl. 37,21). Der schwache letzte König Judas, Zedekia, bezichtigte ihn der Schwächung der Abwehrbereitschaft gegen den übermächtigen Feind. Zu diesem Zeitpunkt umzingelte Nebukadnezar die Stadt, hungerte sie aus und schickte sich an, die Mauern zu zerstören und in die Stadt einzudringen. Zedekia war selbst hin- und hergerissen. Dies zeigte sich an einer Freilassung der Sklaven, die anschließend rückgängig gemacht wurde (34,8ff), aber auch an der heimlichen Befragung Jeremias (38,14ff).
Mitten in diese Turbulenzen hinein kommt Hanamel, ein Cousin Jeremias. Er reist aus der ca. 5 km von Jerusalem entfernt gelegenen Heimatstadt Anatot in die Hauptstadt. Es handelte sich um eine rechtliche Angelegenheit. Jeremia stand nach dem Gesetz das Lösungsrecht für einen Acker zu. Dieses Vorkaufsrecht stand dem nächsten Verwandten zu in der Absicht, Erbbesitz in der Familie zu halten. Gründe für diesen Lösungskauf waren Todesfälle oder Überschuldung (vgl. 3Mos 25,25ff; Ruth). Über den Grund für den Besitzwechsel des Ackers wissen wir nichts Näheres.
Dafür wird in aller Ausführlichkeit dargelegt, wie sich dieser Kauf vollzog. Er fand vor Zeugen statt und wurde in zwei verschiedenen Kaufbriefen – einem versiegelten und einem offenen – dokumentiert (32,9-12). Es wird betont, dass der Kaufakt inklusive Bezahlung vor den Augen aller Juden, die im Gefängnishof saßen (32,12) vollzogen wurde. Weshalb war das wichtig?
Führen wir uns die Situation vor Augen: Der Feind hatte bereits das gesamte Umland von Judäa eingenommen. Er belagerte jetzt die Hauptstadt. Jeremia war aus göttlichem Mund mitgeteilt worden, dass die Einnahme und Zerstörung der Stadt unumgänglich seien. Er selbst befand sich wegen dieser Botschaft in Gefangenschaft. Genau zu diesem Zeitpunkt befahl ihm Gott, einen Acker zu kaufen! Menschlichen Überlegungen zufolge hätte es keinen dümmeren Moment für einen solchen Kauf geben können. Das Geld war, sobald gezahlt, so gut wie verloren. Das Land würde an die Babylonier übergehen, die dafür bekannt waren, Umsiedlungen der Bewohner vorzunehmen.
Doch das Zeichen hätte gerade in diesem Kontrast deutlicher nicht ausfallen können: Jeremias Ankauf war eine Art Anzahlung für die künftige, allein auf der Verheißung Gottes beruhende Sammlung und Rückführung Judas. Wohlgemerkt: Diese Wendung lag noch 70 Jahre entfernt! Jeremia selbst würde sie nicht mehr erleben. Trotzdem wurde er angewiesen, die Kaufbriefe in einem Tongefäß sorgfältig zu verwahren damit sie lange Zeit erhalten bleiben (32,14).
Wie fiel Jeremias Reaktion aus? Er wendet sich an Gott in einem Gebet, das im Anschluss festgehalten wird (32,16ff). Bevor er sein Erstaunen zum Ausdruck bringt, erweist er Gott in mehrfacher Hinsicht die Ehre: (a) Er preist Ihn als Schöpfer, dem nichts unmöglich sei (V.17); er erinnert sich an das göttliche Versprechen, dass sowohl Gericht wie Gnade an den Bundesbrechern ausgeführt würde (V.18); er weiß um die Allwissenheit Gottes, der die Wege jedes Einzelnen im Blick behält (V.19). (b) Zudem erinnert er sich an Israels Geschichte, begonnen mit dem Auszug aus Ägypten und der Landnahme (V.20-22). (c) Er fasst die Untreue Israels in einem Satz zusammen (V.23): Sie taten nichts von all dem, was du ihnen zu tun geboten hattest. Dies führte zur aktuellen Katastrophe samt schrecklichen Folgen durch Schwert, Hungersnot und Pest (V.24). Erst dann bricht die Verwunderung Jeremias in Form einer Frage durch. Die Stadt ist an die Babylonier gegeben, und der Herr weist Jeremia an, einen Acker zu kaufen (V.25)?! Wie sollte er das verstehen?
In der Antwort weist Gott den Propheten auf die Tatsache hin, dass das Gericht in Kürze vollzogen werde (V.28f). Die Kinder Israels und die Kinder Judas haben von Jugend auf (immer) nur das getan, was böse war in meinen Augen (V.30). Die zukünftige Wende zum Heil seines Volkes war ebenso wie das Gericht allein in seinem Vorsatz und seinem Willen verankert. Er würde das Volk wieder sammeln (V.37).
Doch wie würde die Rebellion der Menschen gebrochen werden? Auch hierzu liefert die Antwort Gottes den Schlüssel: Ich will ihnen ein Herz und einen Wandel geben, dass sie mich allezeit fürchten, ihnen selbst zum Besten und ihren Kindern nach ihnen (V.39). Dies ist der Höhe- und Wendepunkt der gesamten Geschichte! Die äußere Veränderung der Verhältnisse würde mit der inneren Wende zusammenhängen. Beides (!) war ausschließlich das Werk des Neu-Schöpfers.
Wenden wir uns damit der zweiten Begebenheit zu:
Treue statt Opportunismus
Auch Jeremia 35 ist eingebettet in eine Geschichte der Gegensätze. In Jeremia 34 wird die Schlussphase des Kampfes vor der endgültigen Einnahme Jerusalems beschrieben. Zedekia verwarf in einem Anflug von tödlichem Eigensinn das Angebot zur Aufgabe der Stadt, teilweise aus Furcht vor den eigenen Leuten (vgl. 37,25). Jeremia 36 blendet auf das vierte Jahr Jojakims zurück, dreht das Rad der Zeit also um rund ein Dutzend Jahre zurück. Jeremias Schreiber Baruch wird mit dem Auftrag zur Lesung der Gerichtsbotschaft in den Tempel zu Jerusalem geschickt. Vielleicht würde das Haus Juda umkehren (V.3). Die Prophetie Jeremias wurde durch Baruch vor den Ohren aller Juden (V.6) am eigens ausgerufenen Fastentag verlesen (der wahrscheinlich dazu diente, das Gericht aufzuhalten). Die Lesung wurde dank eines aufmerksamen Zuhörers vor den Verantwortlichen Judas wiederholt. Diese erschraken zwar (V.16), waren jedoch nicht mutig bzw. willens, Buße zu tun und umzukehren (V.24). Die Abschrift wurde von König Jojakim eigenhändig zerschnitten und ins Feuer geworfen (V.23). Dies veränderte den Verlauf keineswegs, sondern festigte vielmehr den Untergang des Königreichs (V.31). Die gleiche Botschaft wurde ein zweites Mal niedergeschrieben (V.32). Das göttliche Wort war nicht aufzuhalten.
Zur selben Zeit gab es eine Sippe, die ein ganz anderes Leben führte als der Rest des Volkes. Die Rechabiter hatten sich freiwillig dem Gelübde eines Nasiräers unterworfen (vgl. 4Mos 6). Offenbar war dieses Versprechen um einige Elemente ergänzt worden. Sie waren nicht sesshaft und bebauten das Land nicht (35,7). Dies brachte zum Ausdruck, dass sie sich im Land als Fremdlinge aufhielten.
Dass der Prophet Jeremia, der ja nachweislich Botschaften von Jahwe weitergab, bei ihnen vorsprach und sie im Tempelbereich zum Bruch ihres Gelübdes aufforderte (V.2), musste sie in eine große Zwickmühle gebracht haben. Auf der einen Seite stand das Gelübde ihres Vaters. Auf der anderen Seite wurden sie vom Propheten Jeremia zum Weintrinken aufgefordert. Sie entschieden sich – wie es scheint ohne Zögern – für den Gehorsam gegenüber ihrem abgegebenen Gelübde.
Damit wurden sie zum Gegenbild für das untreue Volk, dem das Verhalten der Rechabiter zur Lehre dienen sollte (V.13). Während das Volk trotz vielfacher Aufforderung zur Umkehr dem Götzendienst treu blieb, befolgten die Rechabiter das Gebot ihres Vaters. Sie hielten damit in einer äußerst anspruchsvollen Situation Gott die Treue. Diese wurde auch belohnt: Ihnen wurde – im Gegensatz zu den untreuen Fürsten Judas – der Fortbestand garantiert (V.19).
Mut und Treue
Was lernen wir aus den dramatischen Turbulenzen kurz vor dem Untergang Jerusalems für die heutige Situation?
- Resignation ist eine dem Volk Gottes unangemessene Haltung. Mag die Lage noch so aussichtslos aussehen: So wie Jeremia unversehens zum Hoffnungsboten wurde, sind auch wir Zeugen der Hoffnung, die in uns ist (vgl. 1Pt 3,15).
- Der Grund der Hoffnung liegt weder in äußerlichen Anzeichen der Besserung noch in einer Haltung stoischer Ergebenheit. Sie liegt allein in der Hoffnung außerhalb von uns. Wer hätte gedacht, dass Gott das Schicksal einige Jahrzehnte später wenden würde? So kann er auch heute die geistliche Lage wenden – oder zurückkommen. Rechnen wir täglich mit diesen beiden Möglichkeiten?
- Jeremia ist überraschter Hoffnungsträger. Das hinderte ihn nicht, die Größe und Macht Gottes zu preisen und gleichzeitig (!) seine Ratlosigkeit und Verwunderung zu äußern. Gerade das Buch Jeremia zeigt, dass der Prophet selbst durch Täler der Verunsicherung und des Zweifels ging (Jer 12-20).
- Außergewöhnliche Zeiten sind keine Rechtfertigung für die Preisgabe von Gottes Geboten. Geben wir also dem gesellschaftlichen Zerren in eine andere Richtung nicht nach!
- Rechnen wir damit, dass unser Glaube auf die Probe gestellt wird. Wir haben das zuverlässige Wort, das uns auch und gerade in den Zeiten der Anfechtung festen Halt gibt.
- Auch wenn wir in diesem Leben und in dieser Zeit eventuell Nachteile erfahren und scheinbar als Verlierer vom Platz gehen: Am Ende bleibt die Verheißung Gottes. Und auf nichts anderes kommt es auf lange Sicht an.
Hanniel Strebel ist studierter Betriebswirt und promovierter Theologe. Beruflich begleitet er seit über 20 Jahren Lern- und Entwicklungsprozesse in Unternehmen. Mit seiner Frau Anne Catherine hat er fünf Söhne und gehört zur Presbyterianischen Gemeinde in Zürich.