Leere statt Lehre…?

Wie hoch ist der Stellenwert der Lehre in der Kirche einzuschätzen? Ist es möglich, dass wir die Lehre in unseren Gemeinden überbetonen und dabei das viel wichtigere „praktische Christsein“ im Alltag vernachlässigen?

So jedenfalls argumentierte kürzlich ein Pastor einer größeren Freikirche, als ich ihm gegenüber erwähnte, dass ich die Lehre und Verkündigung als das zentrale Element für das geistliche Wachstum und das Leben der Gemeinde halte.

Er war der Ansicht, es käme zu viel Lehre, zu viel Theologie von den Kanzeln und zu wenig Anleitung zum praktischen Leben. Dieser Pastor steht bei weitem nicht allein mit seiner Ansicht. Sie ist sogar weit verbreitet und hat längst die Orientierung vieler evangelikaler Gemeinden geprägt. Gesunde Lehre in Form von gründlicher Auslegung der Bibel und Vermittlung biblischer Wahrheit wird als trockene Theorie empfunden und einer farbenfrohen, mit Beispielgeschichten verzierten Anleitung zu einem gelingenden Leben gegenübergestellt.

Ich sehe zwei Probleme bei dieser Ausrichtung. Erstens kann man nicht die Lehre und das praktische Christenleben gegeneinanderhalten, als wären sie zwei Dinge, die im Widerstreit miteinander stehen. Zweitens werden wir, wenn wir uns gegen eine gründliche Darlegung der biblischen Wahrheit in der Gemeinde wenden, uns selbst den Boden unter den Füßen wegziehen.

Es ist sicher niemals falsch, Wege zu suchen, wie ich (ganz praktisch) ein Leben führen kann, das Gott Ehre und mir selbst Freude bereitet. Das ist ja das Ziel des christlichen Lebens, wie es auch der Westminster Katechismus lehrt1. Nur werde ich das ganz sicher nicht zustande bringen, wenn ich dabei ein gründliches Studium der Bibel vernachlässige und damit den Wagen vor das Pferd spanne.

Ich möchte im Folgenden anhand einiger Beispiele demonstrieren, wie sehr das Neue Testament die gute und richtige Lehre als Grundlage für ein Gott gefälliges Leben betont.

Die Lehre bei Christus

Der Sohn Gottes ist gekommen, um an unserer Stelle ein gerechtes Leben zu leben und um unsere Sünde und die göttliche Strafe dafür zu tragen. Die Zeit seines öffentlichen Auftretens war aber vor allem eine Zeit, in der er die Menschen, allen voran seine Jünger, lehrte.

Der Evangelist Markus berichtet, dass Jesus die vielen Menschen sah, die ihm gefolgt waren und dass sie ihm Leid taten, weil sie wie Schafe waren, die keinen Hirten haben. Was unternahm er? „Er fing an, sie vieles zu lehren“ (Mk. 6,34).

Die Evangelien berichten neben den Wundern, die Jesus tat, hauptsächlich über seine Lehrtätigkeit. Er lehrte mit Vollmacht, so das Urteil seiner Hörer. Seine Wunder waren Zeichen, die seine Lehre bekräftigten. Jesus lehrte seine Zeitgenossen die Wahrheit über Gott, den Menschen, über die Sünde und das Heil. Das tat er in verschiedenen Situationen – in der Synagoge, im Tempel, im Freien vor großen Menschenmengen, in Streitgesprächen mit jüdischen Theologen seiner Zeit sowie mit den Jüngern allein.

Wenn das Neue Testament über solche Anlässe berichtet, liegt die Betonung auf der Lehre Jesu. Sehr oft geht es sogar um die genaue Unterscheidung von richtiger und falscher Lehre, richtiger und falscher Auslegung des Alten Testaments. Zum Beispiel in Streitgesprächen mit Gesetzesgelehrten über Fragen der Ehescheidung, der Auferstehung oder der Typologie bei David. Oder als er in der Bergpredigt über die traditionelle Auslegung des Gesetzes spricht und seine richtige Auslegung der Texte entgegenhält. Dabei konnte der Herr jeweils sehr wohl ins Detail gehen.

Sicher spricht Jesus oft über das praktische Leben zu Gottes Ehre. Aber er stützt dies immer auf das richtige Verständnis des Wortes Gottes. Wenn wir das Neue Testament unvoreingenommen lesen, können wir niemals sagen, dass der Herr Jesus ein praktisches Christenleben der Lehre gegenüberstellt. Jesus lehrte die Menschen, damit sie leben könnten.

Die Lehre bei Paulus

Der Apostel Paulus, der größte Missionar aller Zeiten, war gleichzeitig der größte Theologe aller Zeiten. Es gab vielleicht keinen anderen, der sein Leben so – ganz praktisch[!] – in den Dienst für das Evangelium stellte. Wir sehen bei ihm, dass er sehr darauf achtete, ein gutes Leben zu führen und zur Freude und Erbauung anderer Menschen da zu sein. Es war ihm sehr wichtig, darin auch ein Vorbild für andere zu sein.

Aber gerade bei ihm sehen wir wie bei keinem anderen, dass er dieses gute Leben auf einer gründlichen und genauen theologischen Lehre gründete.

Wir sehen das bereits, wenn wir nur die Struktur seiner Briefe anschauen. Wir finden bei Paulus wohl vieles an Ermahnung und Anleitung in ganz alltäglichen Bereichen des Christseins. Aber sie sind von der Menge her geringer als die mehr ‚theoretische‘ Lehre und stehen jeweils im hinteren Teil seiner Briefe. Im Römerbrief zum Beispiel fängt die praktische Anleitung erst im zwölften Kapitel an. Im Galaterbrief im fünften, im Epheserbrief im vierten Kapitel usw. Auch in den Briefen, die nicht so eine klare Aufteilung haben, stellt der Apostel die theologische Wahrheit der Ermahnung oder Anleitung voran.

Regelmäßig zeigt er den Indikativ (in der Grammatik die Wirklichkeitsform, die eine bestehende Tatsache beschreibt) des Heils und hängt dann den Imperativ (Befehlsform) daran. In Worten sieht das jeweils so aus, dass er sagt: „Weil…[es so ist – Lehre], deshalb…[tut dies oder das – praktische Anleitung]“. Die Lehre geht also der praktischen Ausübung immer voran.

Paulus weist seinen Nachfolger Timotheus an, es ebenso zu tun. Er weist ihn an, „auf die Lehre achtzuhaben“ (1Tim. 4,16) und die Wertschätzung der Lehre zu fördern: „Die Ältesten, die ihr Amt gut versehen, seien doppelter Anerkennung wert, besonders die, die in Verkündigung und Lehre ihr Bestes geben“ (1Tim. 5,17).

Der Apostel ermahnt seinen jungen Nachfolger mehrfach, sich für die Erhaltung der rechten und gesundmachenden Lehre einzusetzen. Auch dann, wenn es einigen nicht gefällt und sie lieber Geschichten hören wollen, die nicht allzu sehr herausfordern.

Auch der Gemeindeleiter Titus erhält die gleichen Anweisungen, sein Augenmerk vor allem auf die Lehre zu richten. Besonders dann, wenn er in der Gemeinde weitere Leiter einsetzt: „Er muss am Wort festhalten, das zuverlässig ist und der Lehre entspricht, damit er imstande ist, sowohl durch gesunde Unterweisung zu ermahnen als auch die Widerspruchsgeister zu überführen“ (Tit. 1,9).

Geistliche Leiter der Gemeinde sollen hauptsächlich deshalb in der Lehre zu Hause sein, weil sie durch die Lehre die Gemeinde leiten, den Gläubigen dadurch helfen, in ihrer Erkenntnis der Wahrheit zu wachsen. Wenn sie in der Lehre wachsen und standfest darin werden, dann werden sie entsprechend besser zu Gottes Ehre leben können.

Paulus schreibt in Römer 6,17, dass die Gläubigen nicht mehr Sklaven der Sünde sind (und ihr nicht mehr dienen müssen), sondern dass sie „dem Bild der Lehre übergeben worden sind„, der sie nun gehorsam sind. Dieses Bild (oder Gestalt), dieser Rahmen der Lehre bestimmt ihr Leben. Das bedeutet nichts anderes, als dass es die Wahrheit über Gott, den Menschen, die Sünde, die Erlösung usw. ist, die unserem Leben die entsprechende Form gibt.

Im Grunde lehrt Paulus nichts anderes, als dass es biblisch-theologische Wahrheit ist, die uns Sieg über die Sünde beschert. Es sind nicht die guten Ratschläge und Beispielgeschichten eines Predigers, die uns helfen, im Alltag praktisches Christenleben besser auszuüben. Es ist Theologie, die uns hilft, richtig – das heißt, zu Gottes Ehre – zu leben.

Das bestätigt auch die Aufforderung des Apostels am Anfang des 12. Kapitels des Römerbriefes. Gerade dort, wo er beginnt, Anweisungen für das praktische Christsein zu geben, greift er noch einmal darauf zurück, was er bisher gelehrt hat, und erklärt, was die Grundlage des praktischen Lebens ist: „Ich ermahne euch nun, Brüder, durch die Erbarmungen Gottes, eure Leiber darzustellen als ein lebendiges, heiliges, Gott wohlgefälliges Opfer, was euer vernünftiger Gottesdienst ist. Und seid nicht gleichförmig dieser Welt, sondern werdet verwandelt durch die Erneuerung des Sinnes, dass ihr prüfen mögt, was der Wille Gottes ist: das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene“ (Röm. 12,1.2).

Dass die Gläubigen ihr Leben Gott als ein lebendiges Opfer bringen, das heißt für ihn, zu seiner Ehre leben können (das ist praktisches Christsein!), ist nur möglich durch die Erbarmungen Gottes. Was diese Erbarmungen sind, hat er eben in den Kapiteln vorher erklärt (nämlich die Rechtfertigung und die Heiligung). Sie sollen nun prüfen, was der vollkommene Wille Gottes ist. Das geschieht dadurch, dass sie in ihrem Sinn erneuert werden. Wie wird der Sinn erneuert? Durch die rechte Lehre. Das lehrt Paulus unter anderem sehr deutlich im Epheserbrief (wiederum bevor er anfängt, Anweisungen für praktisches Christsein zu geben): „Und er hat die einen als Apostel gegeben und andere als Propheten, andere als Evangelisten, andere als Hirten und Lehrer, zur Ausrüstung der Heiligen für das Werk des Dienstes, für die Erbauung des Leibes Christi, bis wir alle hingelangen zur Einheit des Glaubens und der Erkenntnis des Sohnes Gottes, zur vollen Mannesreife, zum Vollmaß des Wuchses der Fülle Christi. Denn wir sollen nicht mehr Unmündige sein, hin- und hergeworfen und umhergetrieben von jedem Wind der Lehre durch die Betrügerei der Menschen, durch ihre Verschlagenheit zu listig ersonnenem Irrtum“ (Eph. 4,11–14).

Die in Vers 11 genannten Männer rüsten die Gemeinde aus, machen sie fähig zum Dienst. Das Ziel des Dienstes ist die Mündigkeit der Gemeinde, dass sie zur vollen Erkenntnis des Sohnes Gottes gelangt. Das Gegenteil dieser Mündigkeit nennt er in Vers 14. Es ist das Hin- und Hergeworfensein von jedem Wind der Lehre. Anders ausgedrückt: Wer nicht fest in der Lehre ist, wird von allen möglichen Meinungen und Irrlehren beeinflusst. Er kann schließlich auch kein gutes Leben führen, weil er die notwendigen Grundlagen nicht hat.

Interessant ist in dem Zusammenhang, dass die Apostel Paulus, Petrus und Johannes, immer wenn sie in ihren Briefen über Irrlehrer schreiben, auch auf ihre massiven moralischen Verfehlungen hinweisen. Falsche Lehre und schlechtes Leben hängen so zusammen wie gute Lehre und gutes Leben. Dies bestätigt schon ein oberflächlicher Blick in die Kirchengeschichte und auch auf die aktuelle Situation.

Gute, unverfälschte, biblische Lehre, die wir auch Theologie nennen können, ist niemals nur trockene Theorie, sondern ist die Grundlage für unser christliches Leben. Wir brauchen die Kenntnis der Wahrheit über Gott, über uns selbst, über die Sünde und das Heil, damit wir in der richtigen Beziehung zu Gott ein gutes, das heißt ein ihm gefälliges Leben führen können.

Darum müssen wir darauf bestehen, dass in unseren Gemeinden zuallererst darauf geachtet wird, dass wir die rechte Erkenntnis Gottes haben. Diese erhalten wir durch Unterweisung in biblischer Lehre, sprich: Theologie.

Deshalb zum Schluss nun noch eine Ermahnung: Beten Sie bitte für Ihre Hirten, dass sie bereit sind, allen Unkenrufen zum Trotz Lehrer der Gemeinde zu sein! Und lassen Sie sich belehren!

Frage: Was wird von denen gefordert, welche die Predigt des Wortes hören? 2

Antwort: Von denen, die die Predigt des Wortes Gottes hören, wird verlangt, dass sie mit Fleiß, Vorbereitung und Gebet darauf Acht geben, das Gehörte nach der Heiligen Schrift prüfen, die Wahrheit mit Glauben, Liebe, sanftmütig und ganz willig als das Wort Gottes aufnehmen, darüber nachdenken und sich besprechen, es in ihrem Herzen behalten und daraus Frucht bringen in ihrem Leben.


1) Kleiner Westminster Katechismus, Frage 1: Was ist das höchste Ziel des Menschen? Antwort: Das höchste Ziel des Menschen ist, Gott zu verherrlichen und sich für immer an ihm zu erfreuen.
2) Großer Westminster Katechismus. Frage 160.