Grußwort des Schriftleiters

Grußwort des Schriftleiters

Was ist der Mensch, dass du an ihn gedenkst, und der Sohn des Menschen, dass du auf ihn achtest? Du hast ihn ein wenig niedriger gemacht als die Engel; mit Herrlichkeit und Ehre hast du ihn gekrönt. Du hast ihn zum Herrscher über die Werke deiner Hände gemacht; alles hast du unter seine Füße gelegt.

Psalm 8,5-7

Das ansonsten häufig ereignisarme politische Sommerloch fiel in diesem Jahr in Deutschland aus. Es galt im Vorfeld drei neue Richter ans Bundesverfassungsgericht zu entsenden – ein Vorgang, der normalerweise für wenig Aufsehen sorgt. Nicht so in diesem Jahr. Eine von der Fraktion der SPD vorgeschlagene Kandidatin, die Potsdamer Jura-Professorin Frauke Brosius-Gersdorf, wurde so heftig kritisiert, dass zunächst die Wahl der Richter verschoben wurde und die Kandidatin schließlich ihre Kandidatur zurückzog.

Was war passiert? In der Vergangenheit hatte sich Brosius-Gersdorf wiederholt zu den Themen Abtreibungen und Menschenwürde geäußert. Schlicht gesagt vertritt sie die These, dass die Menschenwürdegarantie erst ab der Geburt gelte. Später betonte sie vehement, niemals Abtreibungen bis zur Geburt befürwortet zu haben. Aber allein ihre Aussage zur Menschenwürde muss mindestens aufhorchen lassen.

In ihrer Verteidigung betonte die Juristin, dass ihre Position der Mitte der Gesellschaft entspreche, womit sie durchaus Recht haben könnte. Deswegen ist die Debatte auch mit ihrem Rückzug nicht geklärt, sondern sie schwelt unterschwellig weiter.

Denkweisen dahinter

Um die Diskussionen zu verstehen, ist es wichtig, auf dem Schirm zu haben, woher diese Äußerungen kommen. Denn die Frage nach der Abtreibung und der Menschenwürde von ungeborenem Leben ist nur die vordergründige Debatte. Dahinter steckt eine sehr viel tiefere Tragik: Der Mensch von heute hat vergessen, wer er als Mensch ist.

Als man im Rahmen der Aufklärung das Denken des Menschen von der Offenbarung der Heiligen Schrift löste, wurde die westliche Kultur nicht von heute auf morgen säkular oder antichristlich. Zunächst blieb der Glaube an Gott und das biblische Menschenbild (weitgehend) erhalten. Doch von Jahrzehnt zu Jahrzehnt wurde die westliche Gesellschaft orientierungsloser. Zunächst betraf das vor allem das Gottesbild. Gott wurde auf viele verschiedene Arten gedeutet und verschwand langsam als Grundlage für das Denken und die Wissenschaften. Religion wurde zwar weiter toleriert und sogar häufig gefördert, aber der christliche Glaube wurde nicht länger als Weltanschauung, also als Grundlage des Denkens, akzeptiert.

Beim Menschen dauerte der Prozess etwas länger als bei Gott. Auch wenn man den Menschen nicht explizit als Geschöpf Gottes bezeichnete, behandelte man ihn doch weitgehend so. Artikel 1 des Grundgesetzes mit seinem Bekenntnis zur Unantastbarkeit der Menschenwürde ist ein sehr bekanntes Zeugnis dafür. Aber schon Ideologie und verbrecherische Praxis des Nationalsozialismus hatten gezeigt, wie dünn der Boden der Zivilisation hier im Westen ist – gerade auch bei der Frage der Würde und des Lebensrechts eines jeden Menschen. Scharfsinnig warnte C.S. Lewis bereits 1943 vor dieser Entwicklung in seinem Buch Die Abschaffung des Menschen.

Tragische Gottvergessenheit

Die derzeitigen Diskussionen rund um Brosius-Gersdorf sind nur das Ergebnis einer konsequenten Weiterentwicklung dieser Art zu denken. Der Mensch im Westen hat Gott vergessen. Da er selbst im Ebenbild Gottes geschaffen ist (1Mos 1,27), findet er seine Identität nur, wenn er sich selbst als Gottes Geschöpf versteht – mit seinen Gaben und Grenzen. In Psalm 8 lesen wir, dass Gott der Schöpfer ist und wir seine Geschöpfe. Es ist ein Wunder, dass Gott an uns denkt (8,5).

Und doch hat er uns Menschen zum Herrscher über diese Welt eingesetzt (8,6.7; 1Mos 1,28; 2,15). Als seine Ebenbilder, als seine Unterkönige, haben wir den Auftrag, über den Rest der Schöpfung zu regieren. Darin liegt unser Wert, unsere Würde und unsere Bestimmung. Und zwar die Würde jedes einzelnen Menschen von der ersten Sekunde seiner Existenz im Mutterleib an. Denn auch wenn die Ebenbildlichkeit durch die Sünde stark entstellt ist und der Mensch seinen Herrschaftsauftrag häufig missbraucht, gilt der Auftrag Gottes und damit die Würde des Menschen weiterhin (1Mos 9,6; Jak 3,9).

Ohne den Glauben an Gott wird auch die Ebenbildlichkeit des Menschen eine leere Hülle. Wenn Gott nicht existiert oder beliebig definiert werden kann, dann gilt gleiches für den Menschen. Und von daher sind solche Aussagen wie die von Brosius-Gersdorf nicht verwunderlich, sondern die logische Konsequenz gelebter Gottlosigkeit in unserer Kultur.

Der einzige Ausweg

Retten kann uns nur ein Zurück zu Gott und zu seiner Offenbarung in der Heiligen Schrift. Es geht nicht einfach darum, dass wir zurückfinden zu einer gewissen Religiosität oder zum Glauben an das Übernatürliche. Es geht darum, dass wir den lebendigen Gott erkennen und davon ausgehend verstehen, wer wir selbst sind: mit Herrlichkeit und Ehre gekrönte Geschöpfe und Diener unseres herrlichen Königs.

Es ist mein Gebet, dass diese 102. Ausgabe der Bekennenden Kirche einen kleinen Beitrag dazu leisten kann.

Ihr

Jochen Klautke