Gottesdienst als Spielfläche

Gottesdienst als Spielfläche

Geistlicher Aufbruch durch neue Gottesdienstkulturen?

1. Einleitung

Der Name Gottesdienst geht auf die deutsche Übersetzung des lateinischen Ausdrucks cultus (deorum) zurück. Seit dem 16. Jahrhundert fand dieser Begriff eine große Verbreitung, was möglicherweise mit der Wirkung Martin Luthers zusammenhängt.1 Die Reformatoren drängten auf die Erneuerung des Gottesdienstes durch die Heilige Schrift. Luther betonte im Gegensatz zur katholischen Gepflogenheit die Gnade Gottes, die der versammelten Gemeinde im Gottesdienst verkündet wird. Er wollte, dass die Gemeinde versteht, was im Gottesdienst geschieht. Vorsichtig reformierte er deshalb die Liturgie: Schriftlesung, Predigt und Lieder erfolgten bald in der Volkssprache.

Luther, Calvin2 und anderen Reformatoren wie dem Polen Johannes Laski (1499–1560) oder dem Schotten John Knox (1514–1572) lag sehr viel daran, dass im Gottesdienst das Evangelium hervorscheint und Gott durch Anbetung und Anrufung verherrlicht wird. Liturgie sollte im Gottesdienst ausgeformte Lehre sein. Maßstab für den Aufbau war die Heilige Schrift. Im Artikel VII des Augsburger Bekenntnisses von 1530 heißt es entsprechend: „Denn dies ist genug zu wahrer Einigkeit der christlichen Kirchen, dass da einträchtiglich nach reinem Verstand das Evangelium gepredigt und die Sakrament dem göttlichen Wort gemäß gereicht werden.“

Durchaus waren sich die Reformatoren darüber im Klaren, dass sich aus der Bibel kein einheitlicher liturgischer Aufbau entnehmen lässt. Im Gottesdienst soll alles gemäß 1Korinther 14,40 in Ordnung geschehen. Diese Ordnung schafft auch Gestaltungsfreiheit. In seiner deutschen Messe und Ordnung des Gottesdienstes von 1526 erklärte Luther, dass der von ihm vorgeschlagene Aufbau nicht als Gesetz missverstanden werden dürfe. Man solle „ja kein notwendiges Gesetz daraus machen … sondern sie, der christlichen Freiheit entsprechend, nach … Gefallen gebrauchen“.

Der strenge Calvin hat ebenfalls vor einer Vergötzung der Formen gewarnt. Im Hinblick auf die Abendmahlsfeier schrieb er: „Was den äußeren Vorgang der Handlung betrifft, ob die Gläubigen das Brot in die Hand nehmen oder nicht, unter sich teilen oder ob ein jeder insonderheit das, so ihm gegeben wird, isst, ob sie den Kelch in des Kirchendieners Hand liefern oder dem Nächsten reichen, ob das Brot gesäuert oder ungesäuert ist, ob’s roter oder weißer Wein ist, so ist daran nichts gelegen. Dies sind in der Kirche Mittel- und freigelassene Dinge.“3

An anderer Stelle wendet er sich scharf gegen die Gleichförmigkeit in den äußeren Dingen: „Es wäre unerhört, wenn wir in den Dingen, in denen uns der Herr Freiheit gelassen hat, damit wir um so mehr Möglichkeiten hätten, die Kirche zu erbauen, eine sklavische Gleichförmigkeit erstreben wollten, ohne uns um den wahren Aufbau der Kirche zu kümmern. Denn wenn wir einmal vor den Richterstuhl Gottes treten werden, um Rechenschaft abzulegen von unseren Taten, werden wir nicht nach den Zeremonien gefragt werden. Überhaupt wird eine solche Gleichförmigkeit in den äußeren Dingen keine Beachtung finden, wohl aber der rechte Gebrauch der Freiheit. Als rechter Gebrauch wird aber der gelten, der am meisten zur Auferbauung der Kirche beigetragen hat.“4

Wenn es hier meine Aufgabe ist, moderne Gottesdienstkulturen vorzustellen und zu beurteilen, so will ich damit nicht eine einzige Gottesdienstform verteidigen. Es gibt unterschiedliche empfehlenswerte Liturgien für einen gottgefälligen Gottesdienst. Gleichzeitig wird hoffentlich deutlich werden, dass wir Freiheit nicht mit Grenzenlosigkeit verwechseln dürfen. Wenn Freiheit zur Beliebigkeit entwertet wird, führt das zu einer brisanten „Entstaltung“ der Gottesdienstfeier.

Um diese Entwicklung zur „Entstaltung“ besser einordnen zu können, werde ich zunächst etwas über den prekären Anthropozentrismus sagen. Anschließend versuche ich, die Entwicklung der Gottesdienstkultur tabellarisch zu skizzieren. Nachdem ich Sie mit einigen Beispielen aus der Praxis vertraut gemacht habe, werde ich mit einem kurzen Appell schließen.

2. Neue Gottesdienstkulturen: Der Anthropozentrismus

Was meine ich mit „Anthropozentrismus“? „Anthropos“ ist das griechische Wort für „Mensch“. „Zentrismus“ meint die Bildung eines bestimmten Mittelpunktes. Anthropozentrismus bezeichnet demnach die Zentrierung auf den Menschen.

Die Neuzeit oder, wie wir auch sagen, die Moderne, die im 15. und 16. Jahrhundert einsetzte, beginnt mit dem Menschen. Während die Reformatoren ihre Theologie und Ethik mit dem Verweis auf Gott zu legitimieren suchten, steht im Mittelpunkt der Moderne der Mensch. Alles dreht sich um den Menschen und sein Selbstverständnis. Das Denken beginnt nicht bei Gott, der sich uns Menschen gnädigerweise offenbart hat, sondern beim „Ich“.

Diese Dynamik hat in der westlichen Welt tiefe Spuren hinterlassen. Wir können das überall in unserer Kultur ablesen. Besonders lässt sich das an der Frage der Rechtfertigung Gottes veranschaulichen. Das große Thema der Reformatoren war die Rechtfertigung des Menschen. Gefragt wurde, wie wir als Sünder vor einem heiligen Gott bestehen können („Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?“). Der moderne Mensch tritt dagegen als Richter auf, vor dem sich Gott zu verantworten hat. Gott sitzt auf der Anklagebank. Wir zweifeln nicht nur, wir „halten Rat über Gott“. Um es in der Sprache eines Bildes auszudrücken, das von Jesaja (Jes. 64,8), Jeremia (Jer. 18,6) und dem Apostel Paulus (Röm. 9,21.22) gezeichnet wurde: Der Ton verklagt seinen Töpfer.

Diese hochmütige und „aufgeklärte“ Grundstimmung dominiert unsere Kultur und leider zunehmend den Duktus der in evangelikalen Kreisen verbreiteten Literatur. Wir wollen Gott vorschreiben, wie er zu sein hat, damit wir ihm vertrauen können. Wir Menschen richten uns nicht mehr nach Gott, Gott hat sich nach uns zu richten.

Nun trifft es gewiss zu, dass Gott den Menschen sucht, uns also in Jesus Christus entgegenkommt. In einer gewissen Weise ist es auch richtig, einzufordern, dass wir als Botschafter an Christi statt die Verlorenen suchen und ihnen das Evangelium so verkündigen, dass die Menschen verstehen können, dass Jesus Christus unsere Versöhnung ist.

Doch darf diese Bewegung hin zum Menschen gerade nicht mit dem Anthropozentrismus verwechselt werden. Gottesdienst als Glaubensantwort auf die Gnade Gottes dreht sich nicht um den Menschen, sondern um das, was Gott uns in seinem Wort und in den Sakramenten darreicht.

Aus der Sicht der neuen, experimentellen Gottesdienstformen verhält sich das anders. Dort geht es vor allem um den Menschen, dort wird alles um des Menschen willen entschieden. Dan Kimball sagt das folgendermaßen: „Solange wir uns nach den Prinzipien der Bibel richten, gibt es keinen richtigen oder falschen Weg für unsere Arbeit und für unsere Gottesdienste. Entscheidend sind dafür allein die Menschen, die wir mit unserer Arbeit erreichen wollen.“5

Die Verankerung in den biblischen Prinzipien klingt zwar beruhigend. Letztlich wird aber die Heilige Schrift doch an den Rand gedrängt, da soziologische Urteile über die Ausrichtung des Gottesdienstes entscheiden. Da wir sowieso nicht genau verstehen, was Gott denkt, tut und fordert, wird in den Gottesdiensten mit den eigenen Gottesbildern experimentiert. Rob Bell, eine Schlüsselfigur innerhalb des postmodernen Evangelikalismus, hat es ungefähr so gesagt: „Gott hat gesprochen, alles andere ist menschliche Interpretation.“6 In die Mitte rückt, was wir Menschen über Gott denken und besonders fühlen. Damit wird zum Gegenstand dessen, was im Gottesdienst geschieht, oft das eigene Erleben.

Die „Entstaltung“ der Gottesdienstkultur

Ich möchte einmal anhand einer Tabelle die Gottesdienstkulturen miteinander vergleichen. Solche Vergleiche sind natürlich immer vereinfachend, können aber helfen, Trends zu verstehen.7

Ich unterscheide zwischen drei Ansätzen. Mit der Bezeichnung „reformatorisch“ ist der klassische Gottesdienst gemeint, so wie er in den reformatorisch orientierten Kirchen zu finden war bzw. ist. „Modern“ steht für Ansätze, die ab den 70er Jahren bis hin zur Jahrtausendwende entwickelt wurden. Abgelöst werden „moderne“ Gottesdienste heute gern durch experimentelle Gottesdienstformen, die sich seit Ende der 90er Jahre ausbreiten und die ich hier „postmodern“ nenne.

Gottesdienste im Wandel

 

Reformatorisch Modern Postmodern
Welche Lehrnorm gilt?
Wahr ist, was Gott in der Heiligen Schrift offenbart hat. Wahr ist, was der Mensch über Gott und die Heilige Schrift denkt. Wahr ist die Empfindung des Menschen über Gott – ein „was“ gibt es nicht mehr
An wen richten sich die Gottesdienste?
Der Gottesdienst ist auf die gläubige Kerngemeinde ausgerichtet. Der Gottesdienst richtet sich sucher-orientiert an Kirchendistanzierte. Der Gottesdienst hat keine Ausrichtung mehr, sondern ereignet sich …
Wo findet der Gottesdienst statt?
In der Kirche oder einem ähnlichen Versammlungsraum mit Blick auf Altar, Kreuz und Kanzel. In einem theaterähnlichen Raum mit Bühne und bequemen Sesseln. In einem Raum, der einem Wohnzimmer oder Café gleicht, so dass Gemeinschaft und Gespräch ermöglicht werden.
Wer leitet den Gottesdienst?
Eingesetzte Pfarrer, Pastoren, Älteste. Ein Moderatorenteam. Jeder ist eingeladen, sich am Gottesdienst zu beteiligen.
Wie ist der Ablauf gestaltet?
Eine an der Heiligen Schrift orientierte Liturgie bestimmt den Gottesdienstablauf. Die Gemeinde hört, bekennt, singt und betet. Gottesdienste sind wie unterhaltsame Shows inszeniert. Sie enthalten Pop-Elemente und werden hauptsächlich „konsumiert“. Gottesdienste sind Experimente. Alles, was „authentisch“ erscheint und berührt, ist erlaubt.

 

Wie wird verkündigt?
Lehrmäßige Auslegungspredigt als Glaubens- und Lebensgrundlage. Praxisbezogene (Themen)-Predigten als Lebenshilfe. Zeugnishafte Geschichten über Erfahrungen mit Gott als Impuls.
Wer ist Jesus?
Jesus ist „Retter“ und „Herr“. Jesus ist der „Freund“ und „Helfer“. Jesus ist „Geliebter“ und „Reformer“.

Ich möchte nun einige Beispiele anführen. Dabei kann ich aus der Fülle des mir vorliegenden Materials nur wenig auswählen und setze voraus, dass Sie mit traditionellen und modernen Gottesdiensten vertraut sind. Klassische Gottesdienste finden wir heute noch in vielen Kirchengemeinden, moderne Gottesdienste können wir beispielsweise im Einzugsgebiet von „Willow Creek“ kennenlernen. Deshalb ein paar wenige Impressionen aus der postmodernen Gottesdienstkultur. Ich werde die Beispiele nicht besonders kommentieren. Ich fange mit einem verhältnismäßig harmlosen Beispiel an.

Predigen wir mal über Kinofilme

Wir leben in einer Kultur der Bilder, besonders in einer Kultur der bewegten Bilder. Die Jugendlichen nehmen heutzutage die Welt weitgehend durch digitale Fenster wahr. Sie sehen die Welt durch ihre Smartphones, Computerbildschirme oder das Fernsehen.

Die Pastoren und Prediger fragen sich angesichts dieser Entwicklung, wie sie die jungen Leute überhaupt noch erreichen können. Da liegt natürlich der Gedanke nahe, dass man die Kultur, mit der die jungen Leute aufwachsen, in den Gottesdienst holt. So gibt es heute Pastoren, die ganze Predigtreihen auf Kinofilmen aufbauen. Predigtgrundlage ist nicht mehr ein Bibeltext, sondern ein Kinofilm. Sicher wird der Film auch aus christlicher Sicht gedeutet. Aber der Kinofilm dient nicht zur Illustration einer biblischen Aussage, sondern steht selbst im Zentrum der Predigt.8

Partizipative Gottesdienstgestaltung

Oft finden postmoderne Gottesdienste in einer Wohnzimmeratmosphäre statt. Die Raumarchitektur soll Gemeinschaft und das Gespräch begünstigen. Jeder ist eingeladen, an dem Gottesdienst zu partizipieren. Die Kirchenbesucher sollen nicht konsumieren, sondern werden in den Gottesdienst integriert.

Ein Beispiel dafür ist die „holistische“ und „missionale“ Kirchengemeinschaft „Solomon’s Porch“ (Minneapolis), ein Vorzeigeprojekt der Emergenten Bewegung in den USA rund um den Pastor und Autor Doug Pagitt.9 Während des Gottesdienstes wird Kaffee oder Tee getrunken. Interaktionen sind erwünscht.

„GoSpecial“-Gottesdienste

Die Andreasgemeinde in Eschborn (20 km nordwestlich von Frankfurt am Main) bietet seit einigen Jahren einen sogenannten „GoSpecial“-Gottesdienst an. Über das Konzept schreiben die Verantwortlichen:

„GoSpecial ist eine neue Form des Gottesdienstes für das neue Jahrzehnt, ein Ort, der hunderte Lebenshungrige, Kirchendistanzierte und Suchende anspricht und reizt, dem Sinn ihres Lebens auf die Spur, und Gott näher zu kommen.

GoSpecial ist …

… ein Brunnen, an dem man spirituell auftankt und Ausrichtung für seinen Alltag findet.

… ein Lagerfeuer, an dem man Gemeinschaft feiert, Lebensgeschichten austauscht, Abenteuer plant.

… ein Kokon, ein Ort der Lebensverwandlung, in dem aus Raupen Schmetterlinge werden, mit dem Potenzial einen Orkan auszulösen.10

Dieser so genannte „Offene Gottesdienst“ findet im Kino statt oder wandert durch verschiedene Austragungsorte (Flughafen, Bürgerzentrum). Zum Einsatz kommt viel Pop-Musik und Theater. Im Gottesdienst gibt es auch einen Austausch.

Karnevalisierung der Kirche

Abschließend möchte ich illustrieren, was ich als „Karnevalisierung“ der Kirche bezeichne. Der Begriff wird auf den russischen Sprach- und Literaturwissenschaftler Michail Bachtin zurückgeführt. Er unterteilte die Gesellschaft in eine ernste und in eine Lachkultur. Die ernste Kultur wird von Staat, Kirche und Feudalherrschaft betrieben. Die oppositionelle Lachkultur beschreibt er als utopisch und befreiend, repräsentiert wird sie durch das einfache Volk.

Zentral für diese Lachkultur war die Zeit des Karnevals. Bachtin sieht das karnevalistische Spiel als eine Vorstellung von einer anderen Welt, in der Autorität und Dogmen hinterfragt werden. Die Lachkultur steht für Offenheit und Toleranz.

Diese Karnevalisierung zieht meines Erachtens nun auch in die Kirche ein, typische Repräsentanten sind Elemente aus dem Zirkus.

Im Herbst 2010 traf sich in Halle (Saale) die bundesweite Versammlung von Kirchenclowns. Auf dem Programm standen „Clownskurse und Diskussionen über das Spannungsfeld Humor und Glauben. Initiator des Treffens war Steffen Schulz alias Clown Leo aus Halle, der seit über elf Jahren hauptberuflich als Kirchenclown in ganz Deutschland unterwegs ist“.11

In den USA gibt es eine Gemeinde, die einen so genannten „Zirkustag“ veranstaltet. Wenn die Leute in die Kirche kommen, werden sie von Clowns begrüßt und das ganze Ereignis hat den Charakter einer Zirkusveranstaltung.12

Adrian Jaggi aus Pfäffikon in der Schweiz veranschaulicht seine Botschaften mit Zaubertricks und zieht die Zuhörer auf diese Weise in seinen Bann. „Er lässt Gegenstände verschwinden, vermehrt Geldnoten oder zaubert aus dem Nichts ganze Kartenhäuser.“13

Die Northpoint Church Adult Youth Group (USA) hat sich darauf spezialisiert, durch ausführliche Einbindung von Popmusik die Gottesdienste attraktiver zu gestalten. Am Ostersonntag 2011 „performte“ die Jugendband das Lied „Sympathie für den Teufel“ von den Rolling Stones.14 Im Refrain sowie in der letzten Strophe des Liedes heißt es:

„Erfreut dich kennenzulernen, ich hoffe, du errätst meinen Namen. Aber was dich verwirrt, ist die Art, wie ich mein Spiel treibe. So wie jeder Bulle kriminell und jeder Sünder heilig ist – Kopf oder Zahl! Nenn mich einfach Luzifer, denn ich könnte Zurückhaltung gebrauchen. Also, wenn du mich triffst, sei höflich, zeig Sympathie und Geschmack, benutz all deine erlernte Diplomatie und Höflichkeit – oder ich werfe deine Seele in den Müll!“

Ausblick

Gottesdienste sind heute vielerorts eine Spielfläche für Experimente geworden. Der Mensch ist das Maß aller Dinge, auch bei der Ausgestaltung der Gottesdienste. Dieser Anthropozentrismus sorgt dafür, dass wir in den Gottesdiensten immer häufiger dem begegnen, was wir sowieso gut kennen, nämlich unsere Alltagskultur. Sind Gottesdienste dafür da?

Obwohl ich keine Antwort auf diese Entwicklung geben soll und will, möchte ich mit einer Geschichte abschließen, die auf den dänischen Schriftsteller Sören Kierkegaard zurückgeht.

Sören Kierkegaard erzählte davon, dass ein Reisezirkus in Dänemark in Brand geraten war. Der Direktor schickte daraufhin den Clown, der schon zur Vorstellung gerüstet war, in das benachbarte Dorf, um Hilfe zu holen, zumal die Gefahr bestand, dass über die abgeernteten, ausgetrockneten Felder das Feuer auch auf das Dorf übergreifen würde. Der Clown eilte in das Dorf und bat die Bewohner, sie möchten eiligst zu dem brennenden Zirkus kommen und löschen helfen. Aber die Dörfler hielten das Geschrei des Clowns lediglich für einen ausgezeichneten Werbetrick, um sie möglichst zahlreich in die Vorstellung zu locken; sie applaudierten und lachten bis die Tränen kamen. Dem Clown war mehr zum Weinen als zum Lachen zumute; er versuchte vergebens, die Menschen zu beschwören, ihnen klarzumachen, dies sei keine Verstellung, kein Trick, es sei bitterer Ernst, es brenne wirklich. Sein Flehen steigerte nur das Gelächter, man fand, er spiele seine Rolle ausgezeichnet – bis schließlich in der Tat das Feuer auf das Dorf übergegriffen hatte und jede Hilfe zu spät kam, so dass Dorf und Zirkus gleichermaßen verbrannten.15

Harvey Cox griff diese Geschichte in seinem Buch Stadt ohne Gott auf.16 Sie sei ein Beispiel für die Situation des Theologen von heute. Der Clown könne seine Botschaft gar nicht mehr wirklich den Menschen zu Gehör bringen, weil er sich noch der metaphysischen oder religiösen Sprache – also der Sprache eines Clowns – bediene. Wir müssten lernen, weltlich von Gott zu reden.17

Obwohl Prediger des Evangeliums um Verständlichkeit bemüht sein müssen, erscheint es mir eher umgekehrt zu sein. Nicht auf die Anpassung der Botschaft an den Erwartungshorizont der Hörer, sondern auf das treue Hören und Verkündigen des Wortes Gottes und das Durchbrechen des säkularen Erwartungshorizontes kommt es an. Wir machen uns zum Clown, wenn wir die Zentrierung auf den Menschen nicht überwinden! Es geht nicht um uns. Wir sind dafür da, Gott zu verherrlichen. Die Ehre Gottes ist der Sinn von Schöpfung, Errettung und Verwerfung. Wir sind die Gefäße, an denen Gott seine Barmherzigkeit erweist. Unsere Aufgabe ist es, die Güte Gottes zu bezeugen und zu loben. Unsere Aufgabe ist es, auf die Gnade Gottes dankbar zu antworten, indem wir ihm unser ganzes Leben zur Verfügung stellen (Röm. 12,1–3).

Es ist ratsam, sich über die Erneuerung des Gottesdienstes Gedanken zu machen. Wir sind aufgefordert, dies mit viel Mut und Kreativität zu tun. Natürlich muss es uns dabei ein Anliegen sein, dass die „Gute Nachricht“ von den Hörern verstanden werden kann. Als Luther die Bibel in deutscher Sprache unters Volk brachte und deutsch predigen ließ, wurden mehr Menschen erreicht und die geistliche Mündigkeit der Gemeindeglieder immens gestärkt.

Aber Innovationen der Gottesdienstordnung können geistliche Aufbrüche nur dann fördern, wenn sie schriftgemäß sind. Nicht wir Menschen und der Zeitgeist gehören ins Zentrum. Das Evangelium von Jesus Christus muss die Mitte des Gottesdienstes sein. Wir brauchen vor allem den Mut, das Evangelium zu verkündigen. Das Wort Gottes muss Raum erhalten: durch Predigt, Schriftlesungen, Lieder, Gebete und die Sakramente. Das, was die Menschen brauchen und geistliche Erneuerung möglich macht, liegt nicht in uns, sondern kommt von Gott.


1) Siehe dazu: Patrick Dondelinger, Gottesdienst. In: Die Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG4), Band 3, Spalte 1173.
2) Der reformierte Gottesdienst von Johannes Calvin nahm viele Anregungen der in Straßburg unter Martin Bucer entwickelten Liturgie auf. Die Genfer Liturgie war wesentlich eine französische Fassung der deutschen Kirchenordnung von Straßburg. „Der Sonntagmorgengottesdienst umfasste: Sündenbekenntnis, Psalm, Gebet vor der Predigt, Schriftlesung und Predigt, Fürbittgebet, Psalm und Segen.“ So: Robin A. Leaver, Gottesdienst. In: RGG4, Band. 3, Spalte. 1189.
3) J. Calvin, Institutio, IV,17,43.
4) J. Calvin, Opera Selecta (OS) 1, 432. Zitiert nach W. Niesel, Die Theologie Calvins. München [Kaiser] 1938, S. 206.
5) D. Kimball, Emerging Church: Die postmoderne Kirche – Spiritualität und Gemeinde für neue Generationen. Wetzlar [Gerth Medien] 2005, S. 97. Hervorhebung von mir.
6) Vergleiche Rob Bell, Velvet Elvis – ein neues Bild des Glaubens malen. Gießen [Brunnen] 2007.
7) Die Tabelle nimmt Anregungen auf aus: D. Kimball, Emerging Church. a.a.O. sowie: Fabian Vogt, Das 1 x 1 der Emerging Church. Glashütten [C&P Verlagsgesellschaft] 2006.
8) So liebt es Pastor Wayne Park von der Harvest Community Church (Houston, USA) über Filme wie X-Men, Midnight in Paris oder Harry Potter zu predigen. Siehe: URL: http://www.harvesthouston.org/sermon/sermon-2012-4-god-on-film [Stand: 21.12.2012].
9) URL: http://www.solomonsporch.com [Stand: 15.12.2012]. Die Gemeinde ist inzwischen sehr offen für esoterische Erfahrungen. Sie praktizieren das „Körpergebet“ und haben ein Wellness Center installiert. Im Angebot sind: Akupunktur, chinesische Medizin, Massagen, die Cranio-sacral-Therapie oder auch energetische Meditation (auch bekannt als Kundalini) oder Yoga.
10) URL: http://www.gospecial.de/was-ist-gospecial/ [Stand: 01.11.2012]. Im September 2012 gab es einen Gottesdienst unter dem Thema GoGay: Warum die Kirche homosexueller werden muss.
11) URL: http://www.bejm-online.de/index.php?id=1414&no_cache=1&tx_ttnews%5Btt_news%5D=1323&tx_ttnews%5Bpointer%5D=1 [Stand: 01.11.2012].
12) Ein Video über die Frauenkonferenz „The Circus 2012“ (Faith Church St. Louis, USA) gibt es unter: URL: http://www.youtube.com/watch?v=8B_N7nudHWU [Stand: 15.12.2012].
13) Siehe URL: http://www.livenet.ch/themen/kirche_und_co/kirchen_gemeinden_werke/231225-kirche_mit_witz_zaubertricks_und_vips.html [Stand: 18.12.2012].
14) Siehe: URL: http://www.youtube.com/watch?v=Dz7hYUjoPzQ&feature=player_embedded [Stand: 15.12.2012].
15) Hier wiedergegeben nach: Joseph Ratzinger, Einführung in das Christentum. München [Kösel] 201111, S. 13.
16) Harvey Cox, Stadt ohne Gott?, Stuttgart [Kreuz Verlag, 3. Auflage], 1967, S. 265-266.
17) Vergleiche Bonhoeffers Brief vom 30. April 1944. In: D. Bonhoeffer, Widerstand und Ergeb