Kürzlich sahen wir uns als Familie Fotos vom Umbau eines Hauses an. Die Besitzer hatten das ganze Gebäude ausgehöhlt. Nur einige Balken blieben übrig, die das gesamte Gebäude stützten. Dies ist ein treffendes Bild für das, worum es in diesem Beitrag geht: Was sind die tragenden Balken unseres Glaubens?
Die zweite Frage des Heidelberger Katechismus von 1563 gibt nicht nur die Struktur für die insgesamt 129 Fragen und Antworten vor. Sie beschreibt in Kürze auch das Grundgerüst des christlichen Glaubens: „Was musst du wissen, damit du in diesem Trost selig leben und sterben kannst? Erstens: Wie groß meine Sünde und mein Elend ist. Zweitens: Wie ich von allen meinen Sünden und meinem Elend erlöst werde. Drittens: Wie ich Gott für solche Erlösung danke.“
Unser Glaube besteht demnach aus dem Dreitakt: Elend – Erlösung – Dankbarkeit. Alle drei Stücke gehören zusammen. Wird ein Teil herausgenommen, stürzt das gesamte Gebäude ein. Deshalb ist diese kurze Zusammenfassung ein geeignetes Instrument, um zu prüfen, ob wir die Botschaft des Evangeliums ausgewogen verstehen und ob sie in unserer Gemeinde ebenmäßig verkündet wird. Von daher bietet sie auch eine Basis für ein Kontrastbild zu den Auffassungen, die uns in unserer Umgebung begegnen.
Jeder Mensch muss nämlich eine Erklärung für das Elend liefern und eine Lösung bereithalten, die es ihm ermöglicht, sein Leben und sein Handeln zu rechtfertigen. Wenn sein Denken nicht vom Heiligen Geist erneuert worden ist, geht er in allen drei Stücken fehl.
Jede Frage und jede Antwort des Heidelberger Katechismus ist sorgfältig aus der biblischen Gesamtbotschaft abgeleitet. Dieselbe Grundstruktur wie im Heidelberger Katechismus finden wir beispielsweise in einer Argumentation des Apostels Paulus. Es geht um die Spannung des erlösten Menschen: Einerseits ist das Verlangen nach Gottes Gesetz tief in ihm verankert. Er macht jedoch die Erfahrung, dass er nicht nach dem Gesetz handelt, und zwar wegen der in ihm wohnenden Sünde (Röm. 7,13-25). Der Ausruf von Paulus beinhaltet in Kürze den Ausweg aus dem Dilemma und skizziert gleichzeitig die Konturen der rettenden Botschaft des Glaubens (Röm. 7,24.25): „Ich elender Mensch! Wer wird mich erlösen von diesem Todesleib? Dank sei Gott durch Jesus Christus, unseren Herrn.“
Die Diagnose: Ich elender Mensch!
Von der zweiten bis zur zweitletzten Seite des Wortes Gottes lautet eine der Hauptbotschaften: Die Sünde hat das Sein und das Tun aller Menschen nachhaltig vergiftet. Wir haben ein korruptes Herz. Aus unserem Inneren kommt jede Art von Unreinheit hervor. Wir haben eine irrende Seele und einen stolzen Geist, ein verunreinigtes Gewissen und einen Willen, der unfähig ist Gutes zu tun.
Im Alten und im Neuen Testament hallt das Echo wider: Die Welt ist nicht so, wie Gott sie ursprünglich geschaffen hat. Nicht weil wir sündigen, sind wir Sünder, sondern: Weil wir Sünder sind, sündigen wir.
David bekennt dies, nachdem er durch seine schweren Sünden, den Ehebruch und den Mord, sich und seine Familie in schweres Leid gestürzt hat: „Vor dir allein habe ich gesündigt.“ Sünde findet in erster Linie vor Gott statt. – „In Schuld bin ich geboren.“ Sünde ist ein Zustand, in dem sich der Mensch von Anfang an vorfindet. – „Ich erkenne meine Übertretungen.“ David legt ein Schuldbekenntnis ab. (Ps. 51,5-7).
Alles Denken und Streben des Menschen ist „böse von seiner Jugend an„. (1Mos. 8,21) So protokolliert es Gott nach der Sintflut. David weiß: „Es gibt keinen Gerechten, nicht einen einzigen“. (Ps. 14,3) Salomo fasst zusammen: „Es gibt keinen Menschen, der nicht sündigt„. (Pred. 7,20) Hiob ruft in seinem Schmerz: „Kann ein Reiner von einem Unreinen kommen?“ Unmöglich! (Hi.14,4). Jesus verkündete: „Tut Buße!“ (Mt. 4,17) „Ihr müsst von neuem geboren werden„. (Joh. 3,3)
Auch zu Paulus wird bei seiner Bekehrung gesagt, dass seine Sünden abgewaschen werden (Apg. 22,16). Johannes fasst zusammen: „Die ganze Welt liegt im Bösen“ (1Joh. 5,19). Das letzte Buch der Bibel beginnt mit einem Lob auf Jesus, „der uns von unseren Sünden durch sein Blut gewaschen hat“ (Offb. 1,5).
Nun besteht eine große Spannung zwischen diesen biblischen Aussagen und der Weise wie die heutige Gesellschaft die Wirklichkeit auffasst. Sie erzählt uns, dass wir in einer Umgebung leben, in der Sünde als Trennung von Gott keine Bedeutung hat. Tatsächlich wurde seit der Aufklärung der Sündenbegriff in Raten abgeschafft. Wer die Werbung aufmerksam studiert, merkt schnell, dass zwar der Begriff „Sünde“ oft verwendet wird. Ein Prominenter bekannte auf der Titelseite eines Hochglanzmagazins: „Ich genieße, ich sündige nicht.“ Aber das Wort ist nur noch eine Hülse, die mit einem anderen Inhalt als dem biblischen gefüllt worden ist. Sünde erscheint als etwas Prickelndes und Aufregendes. Vor allem aber beanspruchen die Menschen darüber zu befinden, was Sünde überhaupt ist.
Aber obwohl die Menschen in der Moderne die Sünde abgeschafft haben, besteht sie nach wie vor. So sehr man sie ausgeblendet hat, jeder ist gezwungen, sie irgendwie neu zu interpretieren. Drei Alternativen bieten sich an, um dem Ausruf von Paulus „Ich elender Mensch“ auszuweichen. Alle drei Ausflüchte sind in sich eine Bestätigung, dass der Mensch Sünde sehr wohl wahrnimmt.
Die erste Möglichkeit: „Du elender Mensch!“
Was gibt es Einfacheres, als die Schuld dem Nächsten zuzuschieben? Ich nenne dies den „Eva-Reflex“. Von Gott auf ihre Verfehlung angesprochen, gab sie die Beschuldigung flugs weiter (1Mos. 3,13). Ganz unrecht haben die Menschen, die so sprechen, nicht. Auch andere sind von der Sünde betroffen. Doch das entschuldigt uns selbst keineswegs.
Die zweite Möglichkeit: „Du elender Gott!“ Manche Menschen, bei denen Gott im Leben eine Statistenrolle spielt, holen ihn dann auf die Bühne ihres Lebens, wenn ihnen Unrecht widerfährt oder sie im Matsch ihres Alltags feststecken. Dann machen sie reflexartig Gott dafür verantwortlich.
Die dritte Möglichkeit: „Diese elende Umgebung!“
Wie beliebt ist diese Variante! Die Schuld wird delegiert an das falsche Arbeitsumfeld, das falsche Wohnquartier, die falsche Schulklasse. Auch hierzu muss ergänzt werden: Die Umgebung beeinflusst tatsächlich. Auch ist sie von der Sünde betroffen. Aber dies als Ursache für das eigene Elend zu nehmen, ist genauso sinnvoll, wie wenn man eine Blume allein aus dem Dünger erklären wollte.
Lösung: Wer wird mich retten?
Stellen wir uns folgende Szene vor: Mein Sohn kommt mit einem Mathematikproblem zu mir. Ich schicke ihn mit der Lösung weg, er solle doch ein Stück in seinem aktuellen Buch weiterlesen. Oder: Mein Arzt schickt mich mit Magenschontabletten heim, obwohl ein akuter Verschluss der Herzkranzgefäße vorliegt. Was will ich damit sagen? Wer falsch diagnostiziert, bietet auch eine falsche Lösung an. Wer das Elend des Menschen ausblendet, geht fehl bei der Beseitigung dieses Elends. In der Regel sucht man die Lösung für das Problem im Menschen selbst, weil man auf niemand anderen zurückgreifen kann. In meinem eigenen beruflichen Umfeld, der Beratung und Therapie, treffe ich drei Lösungsansätze an:
Die Lösung über den Verstand: „Du musst mehr wissen.“ Der menschliche Verstand erhebt sich über die eigene Situation und entwirft eine entsprechende Strategie. In anderen Worten: Das Problem liegt in fehlender Kenntnis. Der Bildungsstand muss angehoben werden! Allerdings gibt es immer wieder Situationen, in denen der Mensch „am Ende seines Lateins“ angelangt ist.
Die Lösung über den Willen: „Du musst einfach wollen.“ Wer seine ganze Kraft zusammennimmt und Durchhaltevermögen zeigt, wird schon zum Ziel kommen. Nur treffe ich sehr häufig Menschen, die gar nicht mehr in der Lage sind zu wollen.
Die Lösung über die Gefühle: „Du musst es für dich stimmig machen.“ Die Neuordnung des Gefühlshaushalts hilft, nicht Stimmiges neu zu interpretieren. Vertreter des positiven Denkens rufen uns zu, uns täglich unserer negativen Gefühle zu entledigen. Allerdings begegne ich ständig Menschen, deren Gefühle sie regelmäßig einholen.
Hier versperrt uns eine fehlende Unterscheidung den Blick für die wahre Lösung. Nur das Wirken des Heiligen Geistes kann diese Einsicht schenken. Der Verstand ist zwar in der Lage, neue Dinge zu erfinden und die Lebensbedingungen des Menschen zu verändern. Der Wille des Menschen treibt ihn an, schwierige Unterfangen in Angriff zu nehmen und zu Ende zu führen. Die Neuordnung der Gefühle unterstützt ihn beim Erreichen von Zielen. Dies liegt daran, dass der Mensch im Bild Gottes geschaffen ist und trotz Sünde noch immer in der Lage ist, Gottes Schöpfung, wenn auch mangelhaft, zu bewahren und zu entwickeln. Aber bezogen auf das Heil und damit auf sein Kernproblem bringt ihn alles dieses keinen Zentimeter weiter!
Die Lösung kommt ganz von außen her zum Menschen. Der dreieinige Gott, der den Menschen geschaffen hat, bewerkstelligt auch dessen Erlösung. Wie? Gottes Sohn gab seine Herrlichkeit auf, um Mensch zu werden. Er erfüllte während seines irdischen Lebens Gottes Gesetz vollkommen und gab dann sein eigenes Leben stellvertretend für die Schuld der Menschen dahin. Im Glauben tauschen wir unsere Selbstgerechtigkeit mit der geschenkten Gerechtigkeit Gottes ein. Gott nimmt unsere Schuld und vergibt uns diese in Jesus Christus. Der Sohn Gottes hat sie an unserer Stelle mit seinem Leben bezahlt. Als Tausch schenkt er uns seine Gerechtigkeit als Kleid, um unsere Blöße zu bedecken vor den eigenen kritischen Augen und denjenigen, die uns missbilligen. Mit diesem „Mantel der Gerechtigkeit“ bedeckt und von Gott als gerecht bezeichnet, sind wir Menschen nicht mehr „nackt“. Wir brauchen uns nicht mehr selbst zu rechtfertigen, weil wir eine wunderbare Gerechtigkeit empfangen haben.
Welchen Auftrag vermittelte Jesus bei seinem Weggang seinen Jüngern? Was war sein Vermächtnis? Er beauftragte seine Jünger als Stellvertreter, weltweit Buße und Vergebung der Sünden zu verkünden (Luk. 24,47). Diesen Befehl befolgten sie beim Siegeszug des Evangeliums durch das Römische Reich und darüber hinaus. (Siehe zum Beispiel die Verkündigung von Petrus vor dem römischen Hauptmann und seinen Verwandten und Bekannten, Apg. 10,43.) Der wichtigste Auftrag der Kirche besteht deshalb darin, diese umfassende Lösung in die entferntesten Winkel der Erde zu tragen.
Leben: Gott sei Dank!
Damit sind wir beim dritten Stück unseres Glaubens angelangt. Wir wurden geschaffen, um Gott zu ehren. Wir leben nicht zur eigenen Entfaltung. Unser Leben trägt zur Erfüllung seines Willens und seines Planes bei. Mit dem von Gott veranlassten und durchgeführten Werk der Versöhnung sind wir in die Lage versetzt, Gottes Willen zu erfüllen. Über unsere Unverständigkeit, unseren Eigenwillen und Stolz, unseren Streit und Hass können wir ein Schild hängen: „Einst“ (Tit. 3,3).
Aber Achtung! Wir tragen das alte Programm, die Sünde, noch in uns. In unserem Leben wird die Grundspannung noch immer erfahrbar, von der Paulus in Römer 7 schreibt. Einerseits verlangt das neue Leben nach dem Gesetz Gottes. Die noch durch das Fleisch innewohnende Sünde zieht jedoch in eine andere Richtung. Was ist der Ausweg aus diesem Dilemma?
Paulus beschreibt dies in Römer 6. Wir sind mit Christus gestorben und auferstanden und rechnen nun mit seinem Auferstehungsleben. Zurück ins Leben gekommen, betrachten wir das Leben unter dem Blickwinkel dieser neuen Identität. Unser ganzes Leben spielt sich vor dem Angesicht Gottes ab. Wegen des Werkes Christi auf Golgatha halten wir uns gegenüber der Sünde für tot und stellen uns mit unseren Fähigkeiten Gott zur Verfügung.
Verkürzungen und Entstellungen erkennen
Die drei Stücke des Glaubens werden von zwei Seiten her beschnitten: Entweder wird das Elend ausgeblendet. Dann erscheint es, so als ob der Mensch von sich aus in der Lage ist, sein Grundproblem zu lösen. Über diesem Versuch steht als Überschrift: Moralismus. Diese Auffassung ist von der Überzeugung getragen, dass es nur an uns liege, das Gute zu tun. Die Folge ist ein Konzept des Gutmenschentums. Ein solcher Mensch hält sich an eine Batterie von (selbst aufgestellten) Regeln. Dabei hängt er oftmals die eigene „Latte“ so niedrig, dass er durchaus noch in der Lage ist darüber zu springen. Er meint, sich auf diese Art dem Urteil Gottes entziehen zu können. Doch er bleibt in seinem Sein und in seinem Tun von Gott entfremdet. Er kann niemals durch eigene Kraft zu Gott kommen.
Die zweite Verfälschung schneidet das letzte Stück ab, das Leben in Dankbarkeit. Sie nimmt gerne die eigenen Unpässlichkeiten wie auch die Lösung von außen in Anspruch. Die „göttliche Versicherungspolice“ wird als Vorwand genommen, um das eigene Leben weiterzuleben. Es herrscht Relativismus. Das erweist sich jedoch als Selbstbetrug. Denn wer sein eigenes Elend tatsächlich erkannt hat und von Gott erneuert worden ist, strebt nach einem gottgefälligen Leben.
Beide Verkürzungen rauben letztlich dem „Mittelstück“, der Erlösung durch Christus, seine Großartigkeit und seine Wirkung. Wer durch eigene Kraft meint zu Gott zu kommen, braucht keinen Erlöser mehr. Wer das „Ticket für den Himmel“ als Freibrief für ein gottloses Leben nimmt, entehrt das Werk Gottes und erklärt es für wirkungslos.
Wie hilft uns dieser Dreitakt des Glaubens, die alternativen Evangelien unserer Gesellschaft zu beurteilen? Ich skizziere dies beispielhaft am Thema „Weihnachten“. Das Problem wird oft zweiteilig beschrieben. An oberster Stelle steht die Hektik und die fehlende Ruhe. Knapp dahinter folgen die familieninternen Streitigkeiten. Welche Lösung wird angeboten? Ein üppiges Essen vermag teilweise zu beruhigen. Darüber hinaus bieten neue elektronische Geräte eine willkommene Zerstreuung. Was bedeutet dies für die Lebensführung? Man erlaubt sich übermäßiges Essen und Trinken, betäubt sich mit „Endjahreskäufen“ und rechtfertigt schließlich die Buchung für einen Flug in die Wärme.
Fazit
Der Dreitakt unseres Glaubens lautet: Elend, Erlösung, Dankbarkeit. Erst eine richtige Diagnose ermöglicht eine angemessene Lösung und ein erfülltes Leben.