Schon auf den ersten Seiten der Bibel finden wir einen der zentralsten Verse der gesamten Heiligen Schrift. In einer hochbrisanten historischen Situation ergeht aus dem Mund Gottes ein Gerichts- und Verheißungswort, das die Richtung der gesamten Heilsgeschichte bestimmt. Es handelt sich um den Vers 1Mose 3,15: „Und ich will Feindschaft setzen zwischen dir und der Frau, zwischen deinem Samen und ihrem Samen: Er wird dir den Kopf zertreten, und du wirst ihn in die Ferse stechen.“
Im Folgenden geht es darum, den historischen Hintergrund und die Bedeutung dieses Wortes nachzuzeichnen.
Sündenfall und Fluch
Diese Aussage steht nicht isoliert inmitten der Berichte über die Anfangsgeschichte der Welt und der Menschheit. Sie steht in einem konkreten historischen Bezugsrahmen, der in den vorangehenden Versen geschildert wird.
Gerade hatten unter Anstiftung der Schlange der Mensch, Adam, und seine Frau das Gebot Gottes übertreten und von dem Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen gegessen. Dieser mutwillige Ungehorsam, dieser Aufstand gegen ihren Schöpfer und Herrn, hatte schlimme Folgen, die ja bereits angekündigt worden waren: „An dem Tag, da du davon isst, musst du gewisslich sterben!“ (1Mos. 2,17).
Tod und Verderben hielten Einzug in die vormals „sehr gute“ (vgl. 1Mos. 1,31) Schöpfung, nicht zuletzt unter den Menschen. Der Mensch war aus der Gemeinschaft mit seinem Schöpfer herausgefallen. Er hatte mutwillig den Bund mit Gott gebrochen. Aus dem vormaligen Zustand der Freundschaft mit Gott stürzte er aber nicht in eine „Neutralität“. So etwas gibt es gegenüber Gott nicht: „Wer nicht mit mir ist, der ist gegen mich.“ (Mt. 12,30). Der Mensch wurde nicht neutral, sondern in seinem Ungehorsam wurde er ein aktiver Feind Gottes. Das zeigte sich in der Übertretung selbst, aber auch danach, als er sich – was vorher undenkbar gewesen wäre – vor Gott in die Büsche flüchtete. Sein neuer Freund war jemand anders: die Schlange. Und hinter der Schlange, das wissen wir aus dem Rest der Bibel, verbarg sich Satan selbst. Er ist der wahre Verführer und Brandstifter, durch den der Mensch zum Feind Gottes geworden ist und sich auf die Seite des Gegners geschlagen hat.
Ungehorsam, Entfremdung, Flucht, Feindschaft – darauf konnte es nur eine Antwort geben: den Tod. Wer die allerhöchste Majestät Gottes derart beleidigt und entehrt, kann nur die höchste denkbare Strafe erwarten.
Das war die Situation, in der sich die Menschen wiederfanden. Vom Wort Gottes überführt, standen sie hilflos, unfähig da und schoben sich gegenseitig die Schuld an ihrer Misere zu. Was für ein Elend!
In dieser Situation sprach der Herr seinen Fluch aus. Die Schlange, die eben noch schadenfroh und triumphierend dasaß, wurde zu einem Dasein im Staub verdammt. Der Mensch, eben noch Haupt der Schöpfung, die ihm zu Diensten sein sollte, wurde fortan bei seiner Arbeit von Dornen und Disteln geplagt. Und der Frau, die doch die Gehilfin des Mannes sein sollte, die ihm entsprach und zu ihm passte, wurden Geburtsschmerzen und ein Leben nicht länger unter der gütigen Führung, sondern unter der Herrschaft des Mannes angekündigt (vergleiche 1Mos. 3,14–19).
Die Verheißung des Erlösers
Doch inmitten dieser schrecklichen Ankündigungen, dieser schlimmen zeitlichen Strafen, die selbst nur ein Abbild der ewigen Strafen sind, ertönt ein großes Wort des Trostes. Nicht für die Schlange, aber für die Menschheit: „Und ich will Feindschaft setzen zwischen dir [Schlange] und der Frau, zwischen deinem Samen und ihrem Samen: Er wird dir den Kopf zertreten, und du wirst ihn in die Ferse stechen.“ (1Mos. 3,15).
Es fällt auf, dass diese Worte sich eigentlich nicht an die Menschen richteten. Nein, die Schlange war der Empfänger und damit der hinter der Schlange stehende Satan! Die Menschheit empfing dadurch Trost, dass Satan das Gericht angekündigt wurde.
In dem Vers sind mehrere Personen und Gruppen erwähnt. Im ersten Teil steht auf der einen Seite die Schlange, auf der anderen die Frau. Zwischen diesen beiden wird Feindschaft gesetzt. Interessant ist, dass hier ausdrücklich von der Frau die Rede ist und nicht allgemein vom Menschen. Hiermit setzt der Heilige Geist ein Achtungszeichen. Er will uns vor der falschen Annahme bewahren, hier werde eine rein natürliche Abneigung zwischen Mensch und Tier geschaffen. Dass nachdrücklich die Frau zur Gegenpartei der Schlange erklärt wurde, ist für das Verständnis des Folgenden wichtig.
Im zweiten Teil des Verses kommen der Samen der Schlange sowie der Samen der Frau zur Sprache. Auch zwischen diesen beiden soll nach dem Wort und dem Willen Gottes Feindschaft herrschen. „Samen“ meint hier, wie auch meist sonst in der Bibel, „Nachkommen“. Auf der einen Seite steht also die Nachkommenschaft der Schlange, auf der anderen die der Frau. Auf die Nachkommen der Schlange wird im Folgenden nicht weiter eingegangen, wohl aber auf die der Frau. Die Nachkommenschaft der Frau wird nämlich mit einem Personalpronomen belegt, mit dem Wörtchen „er„: „Er wird…„. Es geht also hier nicht um irgendwelche oder gar um alle Menschenkinder, sondern um einen ganz Besonderen. Dieser Eine führt einen Kampf nicht mit denen auf seiner Ebene, nicht mit dem Samen der Schlange, sondern mit der Schlange selbst: „Er [der Same der Frau] wird dir [Schlange] den Kopf zertreten, und du wirst ihn in die Ferse stechen.“
Trotz aller alttestamentlichen Bild- und Schattenhaftigkeit lässt diese Stelle an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. In dem Vers wird nichts Geringeres angekündigt als Jesus Christus und sein Sieg über Satan. Wir finden also in diesem Vers stark zusammengefasst, aber trotzdem vollständig das Evangelium, – das Evangelium von Jesus Christus, der geboren wird von einer Frau, gezeugt ohne Zutun eines Mannes, der durch sein eigenes Leiden triumphiert und der dem Satan das Genick bricht.
Darum wird dieser Vers manchmal zu Recht als die „Urverheißung“ bezeichnet. Denn das finden wir hier tatsächlich. Alle anderen Verheißungen, die wir im Lauf der Heilsgeschichte hören, im Alten wie im Neuen Testament, sind im Grunde nur Entfaltungen und Präzisierungen dieser einen Urverheißung.
Damit ist übrigens auch die immer wieder gestellte Frage beantwortet, ob denn die Menschen im Alten Bund das Evangelium kannten. Hier lesen wir es: Bereits Adam und Eva kannten das Evangelium! Unmittelbar nach ihrem schrecklichen Sturz wurde es ihnen verkündigt. Und es kann auch keinen Zweifel daran geben, dass die beiden gerettet wurden. Einige Verse später, in 1Mose 3,21, wird dies deutlich: Der Herr kleidete sie in Felle eines Opfertieres. Auf diese Weise bedeckte Gott schattenhaft ihre Sünde mit der Gerechtigkeit des Christus.
Das Warten auf den Erlöser
Mit dem Tag der Ankündigung des Erlösers begann eine lange Zeit des Wartens. Immer wieder dachten die Gläubigen, nun müsse der Christus doch endlich da sein. Schon Eva meinte möglicherweise, in ihrem ersten Sohn Kain den Erlöser geboren zu haben (vergleiche 1Mos. 4,1). Was für ein Irrtum! Oder denken wir an Abraham, der sich so glücklich wähnte, als er endlich zu seinem Sohn Ismael gekommen war. Würde dieser nicht der Erbe der Verheißung, vielleicht gar der Erbe sein (vergleiche 1Mos. 17,18)? Nein! Alle diese Hoffnungen wurden wieder und wieder enttäuscht. Man musste weiter warten.
Diese Zeit des Wartens war jedoch keine Zeit des Stillstands. Unterdessen zeigte sich ja die angekündigte Feindschaft zwischen dem Samen der Schlange und dem Samen der Frau. Die gesamte Geschichte war und ist die Bühne, auf der sich die Feindschaft offenbart. Diese zwei Gruppen und Parteien bewohnen gemeinsam diese eine Welt und stehen sich unversöhnlich gegenüber. So zeichnet uns die Bibel die Geschichte.
Wir wollen uns zunächst noch einmal über die Begriffe klar werden. Oben wurde bereits gesagt, dass der Mensch sich in seinem Sündenfall von Gott ab- und dem Satan zugewandt hat. Das heißt: Der Mensch und der Satan bzw. die Schlange bilden seitdem eine gemeinsame Partei. Zum Samen der Schlange gehören alle diejenigen, die im gleichen Ungehorsam, im gleichen Aufstand gegen Gott, in der gleichen Sündhaftigkeit stehen wie Adam selbst. Das heißt: Es sind alle Menschen! Alle Menschen gehören als Sünder von Natur aus und von Geburt an zur Partei Satans und damit zum Samen der Schlange. Jesus selbst sagte das einmal zu den Juden, die ihn anklagten: „Ihr habt den Teufel zum Vater, und was euer Vater begehrt, wollt ihr tun!“ (Joh. 8,44).
Damit sprach der Herr keinen bedauerlichen Einzelfall an, sondern er wies auf die Realität der sündigen menschlichen Natur hin. Die sündige Menschheit füllt die Reihen der Nachkommenschaft der Schlange, und das ganze wird seinen Höhepunkt in dem Menschen der Sünde finden: in dem Antichristus. Das ist die eine Seite.
Auf der anderen Seite steht die Frau mit ihrer Nachkommenschaft. Wir hatten schon gesehen, dass diese Nachkommenschaft, dieser Same, im Wesentlichen auf den einen Samen hinzielt, nämlich auf Jesus Christus. Wenn aber Christus der Same der Frau ist, sind auch alle, die zu Christus gehören, Same der Frau: alle, die diesem Retter von Ewigkeit her gegeben sind und die der Verheißung glauben und durch Glauben in seinen Leib eingefügt sind. Sie alle gehören zum Samen der Frau. Sie alle haben die Seiten gewechselt und sind von der Finsternis ins Licht, vom Tod ins Leben hindurchgedrungen (vergleiche Joh. 5,24).
Aus diesem Grund gab Adam seiner Frau den bemerkenswerten Namen „Eva“. Gemäß 1Mose 3,20 bedeutet dieser Name übersetzt „die Mutter der Lebendigen„. Das ist keineswegs nur biologisch gemeint, sondern vor allem heilsgeschichtlich. Denn eine späte Nachfahrin Evas, Maria, brachte Jesus zur Welt. Er ist das Leben in Person, das Brot des Lebens, das Licht und die Wahrheit und das Leben, und er gibt allen ewiges Leben, die an ihn glauben. In der Menschwerdung des Sohnes Gottes hat sich der prophetische Name Evas erfüllt, denn durch ihn und in ihm ist sie tatsächlich die Mutter aller Lebendigen geworden.
Zeit des Wartens – Zeit des Kampfes
Hier die Erwählten in Christus, die Gläubigen im Alten wie im Neuen Bund, dort die Verworfenen, die Ungläubigen. Zwischen diesen beiden tobt von Beginn an ein erbitterter geistlicher Kampf.
Das Wesen dieses Kampfes gerade während der Zeit des Alten Bundes wird bildhaft in Offenbarung 12 geschildert: Der Drachen macht sich bereit, das Neugeborene, den Nachkommen der Frau, zu verschlingen. In der ganzen alttestamentlichen Geschichte ging es Satan darum, das Kommen des Christus zu verhindern: „Du wirst ihm in die Ferse stechen“ – eigentlich steht hier ebenfalls das Wort „zertreten“ – so dass er lahm werde und nichts ausrichten könne. Zu diesem Zweck warf Satan alle seine Truppen, also seinen gesamten Samen, in die Schlacht: die Ägypter, die Assyrer und die Babylonier, die das Volk Gottes zu vernichten trachteten, die gottlosen Könige über Israel mit dem Höhepunkt Herodes, der einen großangelegten Versuch unternahm, den gerade geborenen Heiland zu ermorden, und schließlich das Volk selbst, die Namenskirche, das fleischliche Israel, das den Unschuldigen tatsächlich kreuzigen ließ und damit – Ironie der Heilsgeschichte – sich selbst in den Abgrund stürzte.
Die Zeit des Alten Bundes war die Zeit des Wartens auf den Messias. Es war eine Zeit des Kampfes, der Verfolgung, des Leidens, manchmal sogar der Verzweiflung. Aber das einmal verkündigte Evangelium konnte nicht zunichte gemacht werden. Die Verheißung Gottes, die im Garten Eden ihren Anfang nahm, blieb bestehen, auch wenn fast 4000 Jahre vergehen sollten. Doch dann kam der Christus. Er bot Satan die Stirn. Er hat sich von ihm demütigen, stechen, treten und ans Kreuz nageln lassen. Aber er hat ihm durch eben dieses Leiden den vernichtenden Schlag versetzt.
Aber auch die Zeit des Neuen Bundes ist eine Zeit des Wartens. Der Feind ist besiegt und verurteilt. Doch er ist noch nicht gerichtet. Er ist, wie wir ebenfalls in Offenbarung 12 lesen, aus der himmlischen Herrlichkeit hinausgestoßen worden, hinab auf die Erde. Dort läuft er vor Wut brüllend umher. Er hat noch immer große Macht, aber keine unbeschränkte Macht. Er kann nicht alles tun, was er will. Er ist auch jetzt dem souveränen Willen Gottes unterworfen. Wie wir in diesem Zusammenhang aus Offenbarung 20 entnehmen können, ist Satan, bildlich gesprochen, an die Kette gelegt (vergleiche auch Mt. 12,29). Oft scheint es uns, als ob diese Kette sehr lang ist.
Die Feindschaft zwischen den beiden Lagern, den Nachkommen der Schlange und den Nachkommen der Frau, besteht unverändert fort. Mit List und Verführung gelingt es Satan immer wieder, in die Gemeinde einzubrechen, indem er sich unsere unverändert sündige Natur zunutze macht, um Verwirrung, Zweifel und Zwietracht zu säen.
Doch wie es Satan in der Vergangenheit nicht gelungen ist, das Kommen Christi aufzuhalten, so kämpft er auch jetzt einen aussichtslosen Kampf. Das Verheißungswort des Herrn, dass niemand uns aus seiner Hand reißen kann (vergleiche Joh. 10,28), ist stärker. Und ebenso stark klingt die Drohung aus der Urverheißung nach, dass der Same der Frau einmal der Schlange den Kopf zertreten wird. Erfüllen wird sie sich mit dem zweiten Kommen, der Wiederkunft, Christi. Der Herr wird zum Gericht erscheinen und unsere Erlösung in einer neuen Schöpfung vollkommen machen.
Auch die Kirche des Neuen Bundes ist also eine wartende und zugleich kämpfende Kirche. In diesem Kampf stoßen wir immer wieder an unsere körperlichen, geistigen und emotionalen Grenzen. Wollten wir uns auf die eigene Kraft verlassen, wäre dieser Kampf aussichtslos. Es gilt vielmehr, „den guten Kampf des Glaubens zu kämpfen“ (vergleiche 1Tim. 6,12). Glauben heißt, beständig bei Christus und seinem Werk unsere Zuflucht zu nehmen. Wir dürfen darauf vertrauen, dass sein Kommen, sein Tod, seine Auferstehung, seine Erhöhung zur Rechten Gottes uns etwas nützen, und zwar nicht nur irgendwann in der Ewigkeit, sondern bereits hier und jetzt. Denn in Christus als dem verheißenen Samen der Frau haben wir einen vollständigen Sieg errungen.