Der Beitrag stammt aus Christianity & Society XII, 1/2002; S. 20–23. Der Artikel wurde von der Redaktion übersetzt, gekürzt und mit Zwischenüberschriften versehen. Prof. Dr. Paul Wells lehrt Systematische Theologie an der Faculté Libre de Théologie Réfomée in Aixen-Provence, Frankreich.
Das Gesetz muss gepredigt werden, damit die Menschen erkennen, dass sie verloren sind
Im Studium der christlichen Ethik ist vielleicht nichts so verwirrend wie die Behandlung des Verhältnisses des Gesetzes zum Evangelium. Das ist sehr bedeutsam, denn vielleicht nie zuvor war es so nötig, das Gesetz zu predigen, um der offenen Gegnerschaft gegen die Maßstäbe Gottes, wie sie heute gang und gäbe ist, zu widerstehen. Trotz der maßlosen Sündhaftigkeit versagt die Kirche, die Gebote Gottes als maßgebliche Norm zu verstehen und sie auf den Abfall in unserer Gesellschaft hin anzuwenden. Was bedeutet es, das Gesetz Gottes zu predigen, insbesondere zu den Menschen, die Christus nicht kennen?
Man sollte dies nicht für eine zweitrangige Frage halten, denn es ist die Pflicht des Pastors, in seinen Hörern das Bewusstsein zu erzeugen, dass sie gerettet werden müssen. Es ist zu bezweifeln, dass dies ohne das Gesetz und ohne die Sündenerkenntnis, die das Gesetz mit sich bringt, geschehen kann. Die Fähigkeit des Pastors, das Gesetz sowohl im Blick auf die Heiligkeit Gottes als auch im Blick auf die Not des Menschen zu predigen, ist für einen effektiven Dienst von großer Bedeutung. Die Unterscheidung im Verstehen und Anwenden der Normen Gottes ist wesentlich. Wenn man in dieser Frage irrt, verdreht man nicht nur Gottes Wort und beschmutzt die Heiligkeit Gottes, sondern man ist ein blinder Blindenleiter. Falsches Predigen des Gesetzes wird den Sünder entweder dahin bringen, dass er ausschließlich verzweifelt oder dass er sich in falscher Sicherheit wiegt. Berücksichtigt man aber die Bestimmung der Seele für die Ewigkeit, dann ist es gleichermaßen wichtig, dass der Prediger sich über seine Position Rechenschaft ablegt und sich vergewissert, dass das Gesetz wirklich strikt gepredigt wird, um die Menschen darauf aufmerksam zu machen, dass sie Sünder sind und der Gnade bedürfen.
Weil das Gesetz Gottes dem Menschen in Gestalt von Sätzen gegeben ist, die der allmächtige Gott offenbart hat, darum kann der Mensch nicht dem Gesetz begegnen, ohne Gott zu begegnen. Das Gesetz nämlich ist ein Ausdruck der moralischen Vollkommenheit Gottes. Wenn der Mensch nicht dem vollkommenen Maßstab Gottes entspricht, dann wird durch das Gesetz der Ungehorsam erkannt. Der Heidelberger Katechismus (Frage 2) sagt, dass der Mensch „aus dem Gesetz Gottes“ sein Elend erkenne. Das Gesetz offenbart dem Menschen das Wesen der Sünde. Das Gesetz erschließt die Sünde und vergrößert sie sogar im Licht der Heiligkeit Gottes, und erst danach kann die Bedeutung der Vergebung richtig verstanden werden.
Heißt das nun, dass wir das Gesetz predigen sollen vor dem Evangelium, um die Menschen darauf vorzubereiten, dass sie Christus annehmen? Wie funktioniert das Gesetz als Lehrer des Sünders im Verhältnis zum Evangelium?
Die Zehn Gebote sprechen aus, was der Mensch durch die Offenbarung in der Schöpfung wissen kann
Traditionell wurde von reformierten Theologen und Bekenntnissen der Gebrauch des Gesetzes beschrieben im Sinne der Aufdeckung der Sünde. Indem es die Vollkommenheit Gottes und seinen Willen für den Menschen aufzeigt, hat der, der das Gesetz hört, Kenntnis der Sünde. Das Gesetz informiert hinsichtlich der Sünde, weil es den Charakter des Gesetzgebers offenbart sowie dessen Heiligkeit, Gerechtigkeit und Güte.
Man darf nicht meinen, die Offenbarung des Gesetzes Gottes mittels bestimmter Gebote nötige dem Menschen etwas auf, was dem Wesen der Schöpfung nicht entspreche. Das Werk des Gesetzes ist dem Menschen „ins Herz geschrieben“ (Röm 2,15) und führt ihn dazu, von Natur aus zu tun, was das Gesetz fordert. Im Blick auf die Kenntnis des Gesetzes ist es bei den Heiden so, dass Heiden durch das, was in ihr Herz eingepflanzt ist, sich selbst mit dem Gesetz Gottes konfrontieren. Werke zu tun, die dem Gesetz entsprechen, ist nichts anderes als das, was im Herzen des Menschen angelegt ist. Selbst diejenigen, die nicht (wie einst Israel im Alten Testament, BK) unter speziellen Offenbarung und unter dem Gesetz stehen, das ehedem auf steinernen Tafeln geschrieben stand, werden mit der Notwendigkeit konfrontiert, Gott in der Weise zu gehorchen, dass sie ein reines Gewissen haben. Der Mensch als Geschöpf Gottes, das in der Schöpfung Gottes tätig ist, besitzt also in seinem ureigensten Wesen eine Kenntnis des Gebotes Gottes, die ihn darüber informiert, wie er handeln soll, um seine Bestimmung als Geschöpf zu erfüllen.
Darum ist die Predigt des Gesetzes in Gestalt der Zehn Gebote nicht an einen Sünder gerichtet, der überhaupt nichts wüsste und dem die Gebote völlig fremd wären. Auch als gefallenes Geschöpf besitzt er mit seiner Geschöpflichkeit den Grund, auf dem die aus der Offenbarung Gottes kommenden Gebote wirksam werden. So gesehen kann man nichts dagegen einwenden, dass Gott seine Gebote offenbart, denn sie bringen nicht etwas Neues, sondern machen die Offenbarung Gottes nur konkreter. Als Offenbarung Gottes richtet sich das Gesetz an alle Menschen, indem es über Gottes Willen informiert. Man kann es predigen im Vertrauen, dass es von Gott gegeben ist und dessen Autorität hat und dass es infolgedessen allen Menschen gilt.
Was bewirkt das Gesetz beim Menschen?
An dieser Stelle ergibt sich eine Frage, die die Aufgabe des Gesetzes betrifft und für die Predigt ganz wichtig ist: Welche Wirkung hat das Hören des Gesetzes beim Sünder? Kann der natürliche Mensch das, was er hört und vom Gesetz lernt, gut gebrauchen, indem er es als gerecht und wahr annimmt? Erregt es die Bereitschaft, das Evangelium aufzunehmen? Ist die Predigt des Gesetzes notwendig als der erste Schritt bei der Errettung des Sünders? Die Antworten auf diese Fragen müssen bestimmt werden durch eine Klärung seiner Aufgabe als „Zuchtmeister“ (Gal 3,24-25). Ist das Gesetz als Lehrer oder als Aufseher zu verstehen? Führt es den Sünder zur Reife oder sperrt es den Sünder ein, ohne dass Hoffnung auf Befreiung besteht? Welche Aufgabe nimmt das Gesetz wahr auf dem Weg zur Gnade?
Die beiden Stellen, die in großer Klarheit von diesem Gegenstand sprechen, findet man in Galater 3 und Römer 3. Hauptsächlich anhand dieser können wir bestimmen, ob Paulus dem Gesetz eine vorbereitende Wirkung bei der Heilszueignung zumisst oder nicht.
In Galater 3 wird die Aufgabe des Gesetzes als Aufseher (V. 24) diskutiert. Wie bringt uns das Gesetz als „Zuchtmeister“ zu Christus? Einige haben dies so verstanden, dass sie dem Gesetz die positive Aufgabe zubilligten, dass es den Menschen so lange von der Vollkommenheit Gottes und seinem eigenen Ungehorsam unterrichte, bis er zu Christus komme. Es scheint aber klar zu sein, dass Paulus hier nicht eine Funktion als Lehrer vor Augen hat, sondern die eines strengen Herrschers, der ein drückendes Joch auferlegt. Der Sünder wird als solcher, der dem Gesetz unterworfen ist, nicht für die Freilassung gepflegt, sondern er erfährt vielmehr seine Armut und Unfähigkeit, dem Gesetz unterworfen zu sein. Als Mittel der Vorbereitung ist die Wirkung des Gesetzes ganz und gar negativ. Es nimmt dem Menschen die Hoffnung auf Befreiung von den Banden der Sünde. Es bindet den Menschen unter die Sünde, indem es seine Situation hoffnungslos macht und so die wahre Bedeutung von Gefangenschaft verdeutlicht. Der Sünder wird also durch das Gesetz unter der Sünde eingeschlossen. So macht es die Sünde groß.
Weil der Mensch bewusst gegen Gott sündigt, wird unter der Gefangenschaft des Gesetzes die Sünde vermehrt (vgl. Röm 4,15; 5,20). Das Gesetz sei, so Paulus, hinzugekommen, damit die Sünde wirklich als Sünde erscheine, und damit sie durch das Gebot über alle Maßen sündig würde (Röm 7,13). Diese Passage beschreibt die Aufseherfunktion des Gesetzes recht gut. Das Gesetz selbst ist nicht sündig. Es wurde gegeben, mit Blick auf einen guten Weg, aber weil der Mensch Sünder ist, findet er in ihm die Gelegenheit zur Sünde. Die Bosheit, die in ihm steckt, wird durch das Gesetz aktiviert. Die Fähigkeit des Gesetzes ist also, die Sünde anzustacheln, und seine Schwäche liegt darin, dass es den Menschen nicht von Sünde freimachen kann. Es ist kein Heilsmittel.
Es verschließt dem Sünder jeden anderen Weg zum Heil. Es steht außer Zweifel, dass Paulus in Gal 3 von der Aufgabe des Gesetzes spricht in seinem Verhältnis zum Evangelium unter einer offenbarungsgeschichtlichen Perspektive. Trotzdem lassen sich die Prinzipien, die er hier herausstellt, nämlich die negative Funktion des Gesetzes als Aufseher auf die heutige Predigt des Gesetzes an den Sünder anwenden. Der ungehorsame Sünder steht unter dem Gesetz und seinem Urteil, solange bis er durch die Wiedergeburt davon befreit wird. Dieser Sachverhalt wird dadurch veranschaulicht, dass Paulus die Wendungen „unter dem Gesetz“ und „Herrschaft der Sünde“ in Röm 6,14 gebraucht. Unter dem Gesetz zu sein heißt, ein Sklave der Sünde zu sein, und dies wiederum, dem Urteil des Gesetzes unterworfen zu sein.
Diese Kenntnis der Sünde, die daher kommt, dass das Gesetz in die Offenbarungsgeschichte eingeschlossen wird, ist ein Beweis der Gnade Gottes. Indem es die Menschen ihrer Sünde überführt und ihnen zeigt, dass sie es nicht erfüllen können, zeigt es, dass die Rechtfertigung nicht aus dem Gesetz kommt. Die Anwesenheit des Gesetzes schafft keine Gerechtigkeit, sondern das Gegenteil: die Vergrößerung der Schuld. Es offenbart die Tatsache, dass nach dem Maßstab von Gottes Heiligkeit, der im Gesetz vorgetragen wird, niemand, auch nicht ein einziger gerecht ist (Röm 3,10).
Alle, die unter dem Gesetz sind, sind Sklaven der Sünde und stehen ohne Verteidigung vor Gott (Röm 3,19). Deswegen wird Sünde als das gesehen, was sie ist, und die Wirklichkeit der Schuld wird nun dem Sünder angelastet. Sünde wird durch das Gesetz lebendig (Röm 7,8) und die Lebendigkeit der Sünde im Leben des Menschen garantiert dessen geistlichen Tod (7,11). Wenn Sünde im Leben eines Menschen vor dem Angesicht des heiligen Gottes lebendig ist, dann ist der Mensch vor Gott tot, und er ist unfähig, das Leben zu finden ohne die neue Geburt, durch welche er in Jesus Christus lebendig gemacht wird. Das Gesetz trägt also nicht zur Erneuerung des Sünders bei, sondern im Gegenteil, es offenbart die volle Wirklichkeit seiner Schuld und seines Totseins vor Gott.
Wie soll man das Gesetz predigen?
Die Folgerungen aus dieser kurzen Untersuchung der Aufgabe des Gesetzes beim Sünder sind offensichtlich, wenn es gilt, das Gesetz dem Unbekehrten zu predigen. Das Gesetz zieht den Sünder nicht aus dem Sumpf der Übertretungen und es bringt ihn nicht an einen Platz, an dem er klar sehen könnte, dass er Jesus Christus braucht und die Rettung in ihm, der das Gesetz erfüllt hat, begehrt. Im Gegenteil, das Gesetz und die Kenntnis des Gesetzes bewirken, dass der Sünder tiefer in den Sumpf seiner Übertretungen sinkt. Es zeigt ihm, dass es keinen Weg gibt, auf dem er sich herauswinden könnte.
Das ist der Grund, warum ein falscher Gebrauch des Gesetzes in der Predigt an die Verlorenen eine unbegründete und unstillbare Verzweiflung herbeiführen kann. Die Kenntnis des Gesetzes allein kann den Sünder nicht dahin bringen, dass er seine Rettung in Christus sucht. Es verleiht vielmehr der Sündhaftigkeit Bedeutung, indem es sie als Aufstand gegen Gott beschreibt. Die Kenntnis des Gesetzes weist auf, dass der Mensch wirklich böse ist und sich im Aufstand gegen Gott befindet. Sie provoziert den Sünder, gegen Gottes Gebote zu rebellieren und zugleich zu verstehen, was er tut.
So gesehen kann man nicht sagen, dass das Gesetz einen lernfähigen Sünder zu Christus führe, sondern zu einer tieferen Kenntnis seiner Sünde, seiner Schuld, und der Gerechtigkeit und des Gerichtes Gottes gegen die Ungerechten. Wenn ein Prediger aus Liebe zu den Verlorenen das Gesetz predigt, sollte er nicht versuchen, sie auf die Annahme Christi vorzubereiten, indem sie sich äußerlich gesetzeskonform verhalten. Er sollte die Menschen andererseits auch nicht so tief in die Verzweiflung treiben oder sie in ihrem Aufstand gegen Gott bekräftigen, indem er das Gesetz predigt, ohne von dessen Erfüllung in Christus zu sprechen. Das Gesetz ist nur eine Art Wegweiser, der darauf weist, dass der Mensch vollkommen unfähig ist, seine Rechtfertigung durch den Gehorsam gegenüber dem Gesetz zu beschaffen, und dass er Lösung für seine Rebellion jenseits des Gesetzes in Gottes Weg zum Heil suchen soll: im Glauben an Christus, der das Ende des Gesetzes ist.
Wird das Gesetz in diesem Sinn gepredigt, dann wird das Evangelium nicht relativiert, sondern dann ist es die Verkündigung des Heils. Dass Jesus in seinem Gehorsam bis hin zum Tode das Gesetz erfüllt hat, erklärt die Bedeutung der Errettung. Was der Mensch für seine Rettung nicht beschaffen kann, das hat Gott in Christus getan. Der Aufstand des Menschen gegen das Gesetz kann nur nach den Kriterien des Gesetzes aufgehoben werden. Das aber geschieht nicht, indem der Mensch im Einklang mit dem Gesetz handelt, sondern im Gehorsam Christi gegenüber dem Gesetz. Der Gebrauch des Gesetzes in der Predigt besteht also darin, die Sünder dahin zu bringen, dass sie ihre Errettung in Christus suchen, außerhalb des Gesetzes, das sie nur in Handschellen legt. Das Gesetz vermittelt den Menschen nicht nur eine Kenntnis seiner Forderungen in einem bloß intellektuellen Sinn, sondern indem es jeden anderen Ausweg versperrt, schließt es den Sünder so ein, dass er keine andere Hoffnung auf Heil hat als Christus. Das ist das Wesen der Sache: Wenn wir das Gesetz predigen, dann müssen wir die Menschen mit Christus als ihrer einzigen Hoffnung „einschließen“, denn ohne ihn wird ihre Situation nur noch hoffnungsloser.
Noch eine weitere Warnung an die, die das Gesetz predigen, muss ausgesprochen werden. Auch dies geschieht auf der Grundlage, wie die Aufgabe des Gesetzes und sein Verhältnis zum Sünder oben beschrieben worden ist. Wir dürfen die Sündhaftigkeit des ungläubigen Menschen, der die Predigt des Gesetzes hört, nicht abschwächen. Er ist vollständig verdorben in allen Teilen und Kräften seiner Seele und seines Leibes (Westminster Bekenntnis VI,2). Dies bedeutet, dass der Mensch nicht nur mit seinen Taten gegen das Gesetz rebelliert, sondern auch in seinem Verstand und seinem Herzen. Gott hat das Gesetz gegeben, um seinen Heilsplan voranzubringen. Doch in seiner Verdorbenheit manipuliert der Sünder das Gesetz zu seinen eigenen Zwecken. Das, was in sich selbst heilig ist, wird in einer sündhaften Weise missbraucht.
Das geschieht, wenn entweder das Gesetz als Weg zur Selbstrechtfertigung gebraucht wird oder wenn der Sünder meint, seine Sünde sei zu groß, als dass Gott sie vergeben könnte. Beide Male wird das Gesetz auf eine unsachgemäße Weise gebraucht. Im ersten Fall wird Christi Werk für den Sünder als unnötig angesehen, weil der Sünder meint, seine eigene Gerechtigkeit entspreche dem Standard des Gesetzes oder komme ihm nahe. Im zweiten Fall betrachtet der Sünder seine Übertretungen, die er für unvergebbar hält, abseits des Opfers Christi, das doch wirklich ausreicht, um selbst den schlechtesten Menschen reinzumachen. In beiden Fällen wird Christus aus der Rechnung ausgeklammert. Das ist aber nicht die Aufgabe des Gesetzes als Aufseher. Es soll uns vielmehr an Christus übergeben, denn in ihm allein ist Hoffnung. Das Gesetz ist weder der Ausgangspunkt für die Herstellung unserer Gerechtigkeit, noch für unsere Verzagtheit, sondern nur für unsere Errettung in Christus. Darum ist es so wichtig, das Gesetz auch als ein solches zu verkündigen, das in Christus erfüllt ist. Das allein wird den Sünder daran hindern, das Gesetz zu missbrauchen.
Schlussfolgerung: Nur das Evangelium kann retten
Der Prediger muss beachten, dass die Funktion des Gesetzes als Aufseher eine negative Funktion für den Sünder hat. Ein Fehler in Teilen der reformierten Theologie ist, dass diese negative Funktion des Gesetzes nicht immer beachtet worden ist. Das Gesetz deckt das Wesen des Aufstandes gegen Gott auf, aber es verhindert nicht, ihn auszudehnen. Das Gesetz schließt den Menschen mit göttlicher Autorität in seiner Sünde ein, aber es veranlasst nicht seine Befreiung. Es ist schwach, denn indem es der Sünde mit Verboten und Verurteilungen begegnet, kann es sie nicht überwinden und das Leben geben (Röm 8,3-4). Zusammengefasst heißt dies: Das Gesetz kann niemanden rechtfertigen oder jemandes Gebundensein unter die Sünde aufheben, sondern es reizt zur Sünde und bestätigt so das Gebundensein an sie.
Es ist eine unbegründete und optimistische Sicht vom Werk des Gesetzes, wenn man behauptet, der normale Weg, auf dem man zu Christus komme, sei ein klares und erkennbares Werk des Gesetzes und der Demut. Das Gesetz bringt den Menschen nicht zu Christus, sondern verschließt ihn in seiner Sünde. Es stellt an allen vermeintlichen Auswegen ein Schild auf: „Einfahrt verboten!“ Nur die Botschaft des Evangeliums von Christus kann den Sünder aus der Verdammnis herausführen. Die neue Geburt kommt nur durch das Evangelium von Christus, und das Evangelium muss die Predigt des Gesetzes immer begleiten. Nur die Gerechtigkeit, die abseits vom Gesetz aus dem Glauben an Christus kommt, reicht dazu aus, und nur wenn der Sünder aus Gnade erneuert wird, kann er Gott wirklich gehorsam sein.