Das Beklemmende am Buch Habakuk ist seine Aktualität. Die Aktualität dieser Schrift liegt nicht darin, dass hier eine demnächst bevorstehende Invasion des Antichristen in das „Heilige Land“ vorausgesagt wird, wie es kürzlich in einer apokalyptisch orientierten Zeitschrift zu lesen war. Um Derartiges in diesen drei Kapiteln zu entdecken, müsste man zunächst eine Auslegungsweise (Hermeneutik) der Bibel akzeptieren, bei der man in die biblischen Weissagungen neben dem historisch–wörtlichen Sinn noch eine weitere, auf die „Endzeit“ gerichtete Sinnebene hineinliest („doppelte Erfüllung“).2 Derartiges mag zuweilen eine gewisse Sensationslüsternheit wecken, aber mit einer gesunden Auslegung des Wortes Gottes hat das nichts zu tun.
Die Gegenwartsnähe dieses Buches liegt auch nicht darin, dass wir hier eine Antwort auf die Frage bekommen, warum die Kleinen immer wieder unter die Füße der Großen und Mächtigen geraten und von ihnen niedergetrampelt und zertreten werden. Vielmehr ist die Botschaft des Propheten Habakuk, dass Gott in seinem Handeln unbestechlich ist, und zwar sowohl gegenüber seinem Volk, seiner Gemeinde, als auch gegenüber denjenigen, die er als seine Gerichtswerkzeuge gebraucht. Gottes Botschaft an Habakuk lautet: Du wirst keineswegs immer meine Wege verstehen, aber traue mir: „Denn der Gerechte wird aus Glauben leben“ (Hab. 2,4)! Diese Wahrheit ist so gewichtig, dass sie mehrfach im Neuen Testament an zentralen Stellen zitiert wird.
Zum anderen zeigte Gott dem Beter, dass er auch die Babylonier für ihr Tun am Volk Gottes zur Verantwortung ziehen werde (Hab. 2,6–19). Er wird sie also ähnlich behandeln, wie er mit den Assyrern umgegangen ist: Auch sie waren zwar die „Rute des Zornes Gottes“, aber weil sie sich nicht als Instrument Gottes begriffen, sondern in ihrem Herzen überheblich auftraten, wurden auch sie gerichtet (siehe dazu Jes. 10,1–18). Entsprechendes, so verheißt Gott, wird mit den Babyloniern geschehen. Indem die Antwort Gottes in die Aufforderung mündet, „Schweige vor Gott, ganze Erde!“ (Hab. 2,20) wird das Handeln Gottes an den Babyloniern gleichsam zu einer Folie, an der wir lernen können, wie Gott immer wieder in der Geschichte verfährt. Also auch in unseren Tagen.
Habakuk, der in einer was die Gesetzlosigkeit anbelangt, vergleichbaren Situation zu der unsrigen lebte, bekommt von Gott die Botschaft: Setze dein Trauen auf diesen Gott. Denn nicht du, sondern er hat den Überblick. Nachdem Habakuk diese Botschaft verstanden hatte, folgte seine Reaktion. Diese finden wir im dritten Kapitel des Buches Habakuk. Bitte lesen Sie zunächst dieses Kapitel in einer guten Bibelübersetzung.
Gebet im Glauben
Die Anweisung Gottes, „vor dem Herrn, still zu sein“ (Hab. 2,20), führte den Propheten nicht in eine meditative Haltung. Vielmehr wandte er sich erneut an Gott. Er betete. Aber dieses Mal ist das Gebet anders als die vorherigen Male. Es erwächst aus dem Vertrauen auf Gott, der alles, so hatte es Habakuk mittlerweile erkannt, bis ins Kleinste im Griff hat.
Damit soll nicht gesagt werden, dass Habakuk sich bisher als ein Ungläubiger oder gar als Gottloser erwiesen hatte. Sicher nicht! Das kann schon daran deutlich werden, dass er immer wieder zu dem betete, von dem allein er seine ihn bedrängenden Fragen beantwortet haben wollte. Aber gleichzeitig fiel es in den ersten beiden Kapiteln des Buches Habakuk auf, dass der Prophet sich seine eigenen Vorstellungen darüber machte, wie Gott in der Geschichte handeln müsse.
In dem ersten uns überlieferten Gebet zeigte Habakuk bereits in seiner Fragestellung sein Mit–Gott–Hadern: „Warum schaust du dem Unheil zu…?“ (Hab. 1,2–4). Habakuk war nicht damit einverstanden, dass Gott so lange zu den Machenschaften des Königs Jojakim und seiner ruchlosen Clique schwieg. Als Gott ihm schließlich antwortete und ihm mitteilte, dass er durchaus die Ungerechtigkeit Judas strafen werde, und zwar … durch die Babylonier (Hab. 1,6–11), da erschien dem Propheten dieses Handeln Gottes im wahrsten Sinn des Wortes „unglaublich“ (Hab. 1,5). Ihn packte das Entsetzen: Herr, auch wenn sich dein Volk im Abfall befindet, warum gebrauchst du, „der du heilig bist“, „der du Böses nicht ansehen kannst“, ein dermaßen gottloses Volk als Gerichtswerkzeug? Darf Nebukadnezar alle diese Grausamkeiten begehen? (Hab. 1,12–17).
Im Unterschied zu diesen Fragen hat das uns in Kapitel 3 berichtete Gebet einen anderen Grundton. Es fehlt nun jeder Protest gegenüber Gottes Handeln. Die Frage „Warum“ taucht nicht ein einziges Mal auf. Der Grund dafür: Habakuks Geist ist nicht mehr auf die frevelhafte Herrscherclique in Jerusalem gerichtet oder auf die noch gottloseren Babylonier, sondern er ist erfasst von Gottes souveränem Handeln.
Das Entsetzliche der Gerichtsschläge
Dabei fällt schon beim Überfliegen des dritten Kapitels auf, dass Habakuk keineswegs die Katastrophen in dieser Welt ignoriert. Sein Gebet ist ausdrücklich als „heftige Wehklage“ (Hab. 3,1) gekennzeichnet. Der Prophet ist voller Schrecken: „O Herr, ich habe deine Botschaft vernommen, und ich bin erschrocken“ (Hab. 3,2). Wir können auch übersetzen: „Mit Furcht vor deinem Werk bin ich erfüllt – Dein Werk!“
Dieses Werk Gottes wird uns gleich darauf in Bildern von furchtbaren Katastrophen vor Augen geführt: Schlag auf Schlag wirbeln die Ereignisse durcheinander, überlagern, ja überschlagen sich. Es beginnt mit Epidemien: „Pest und Fieberseuchen“ (Hab. 3,5). Dann folgen Erdbeben: „Er bleibt stehen und misst die Erde!“ [oder: „… macht die Erde schwanken].“ „Es zerbersten die uralten Berge, es sinken die Hügel aus der Vorzeit“ (Hab. 3,6). Unverzüglich darauf erblickt der Prophet die aus den Erderschütterungen resultierenden Verwüstungen: „In Nöten sehe ich die Hütten Kuschans (Äthiopien), es zittern die Zelte des Landes Midian“ (Hab. 3,7). Man ist noch außer Atem, da folgen Sturmfluten, Überschwemmungen: „Ist der Herr über die Ströme ergrimmt? Ergießt sich dein Zorn über die Ströme, dein Grimm über das Meer, dass du auf deinen Rossen reitest, auf deinen Wagen der Rettung?“ (Hab. 3,8).
Diese Aussage klingt, als ob Gott über die Wasser zürnen würde. Wem kommt hier nicht das fürchterliche Seebeben in Südostasien in den Sinn, als vor fünf Jahren zu Weihnachten eine riesige Flutwelle über die Küsten des Indischen Ozeans brach und alles hinwegfegte, was sich ihr in den Weg stellte! Wem stehen nicht die Meldungen von Tsunamis aus den verschiedensten Teilen der Welt vor Augen? Tatsächlich kann man da den Eindruck bekommen, als ob Gott nicht mehr Wolken, Luft und Winden Weg und Bahn gibt, sondern als ob er die Natur als Feind ansieht, gegen sie kämpft, so dass sie aus dem Gleichgewicht gerät.
Während Habakuk noch die verheerenden Orkane im Blick hat (Hab. 3,9–10), schaut er unversehens kosmische Erschütterungen: „Sonne und Mond treten in ihre Wohnung ….“ (Hab. 3,11). Als wenn das alles noch nicht ausreicht, sieht der Prophet schließlich Kriege mit ihren Verheerungen:
„… Im Zorn zerdrischst Du die Heidenvölker“ (Hab. 3,12).
Diese Aneinanderreihung der unterschiedlichsten Katastrophenbilder kann uns an Nachrichtensendungen aus dem Fernsehen erinnern. Auch hier flimmern nicht selten im Sekunden– oder Minutentakt die Schreckensrapporte in unsere Wohnzimmer.
Es liegt nahe, angesichts der geschilderten Bilder die Frage zu stellen: Was sieht Habakuk denn nun eigentlich? Sind es Seuchen? Nimmt er Naturkatastrophen wahr? Wenn ja, welche? Oder ist es eine kriegerische Invasion? Eventuell die bevorstehende? Die Antwort darauf lautet: Wir sollten hier nicht in einem Entweder – Oder denken. Tatsächlich weisen diese Verse in unterschiedliche Richtungen. Aber vermutlich ist genau das vom Geist Gottes beabsichtigt. Der Gesamteindruck ist entscheidend!
Wenn wir eben gerade sagten, dass diese durcheinander wirbelnden Bilder uns an Aufzeichnungen aus den Medien erinnern, dann werden wir, wenn wir sie genauer lesen, feststellen, dass das, was uns hier mitgeteilt wird, in einem völlig anderen Bezugsrahmen steht und damit eine völlig andere Botschaft vermittelt als das, was uns in den Nachrichten vorgelesen wird. Das zu erkennen ist geradezu spannend.
Die Geschichte ist Werk Gottes
Von den Massenmedien wird uns heute ein Bild über die Wirklichkeit gezeichnet, in der Geschichte entweder als Produkt des Zufalls oder als von Menschen verursacht erscheint. Wir können hier an das nun schon über Jahre sich erstreckende Bemühen denken, uns einzureden, die Erderwärmung sei „menschengemacht“. Die zahlreichen Wissenschaftler, die das anders sehen, erhalten keine Sendezeit.
Um nicht missverstanden zu werden: Richtig an einer solchen Sichtweise ist, dass jeder von uns tatsächlich dazu aufgerufen ist, mit der Schöpfung Gottes verantwortlich umzugehen. Aber im Licht der Heiligen Schrift ist eine Sicht von der Wirklichkeit, in der der Mensch und sein Handeln als Motor der Geschichte erscheint, nicht haltbar. Aber genau so wird uns heute Geschichte in der Regel präsentiert. Auch Christen deuten die Geschichte immer häufiger als das Werk des Menschen und sehen darin kaum noch das Werk Gottes.
Genau da korrigiert uns das Gebet Habakuks. Der Prophet bekennt: Was in dieser Welt geschieht, ist „dein Werk“ (Hab. 3,2). Immer wieder vernehmen wir: Es ist Gott, der handelt. Gott wirkt! (Hab. 3,3–7). Der Prophet spricht schließlich Gott sogar direkt an: Du handelst! Du tust es! (Hab. 3,8–15).
Mehr noch: Geschichte wird hier so eng mit Gott verknüpft und zwar gerade die Geschichte mit ihren Schrecken, Nöten und Miseren, dass Habakuk in ihr das Kommen Gottes vernimmt. Die Katastrophen sind sein Triumphzug, wenn man so will sein Advent, seine Ankunft: „Gott kommt…“ (Hab. 3,3).: „Vor ihm her geht die Pest, und die Fieberseuche folgt ihm“ (Hab. 3,5). „Er bleibt stehen und misst die Erde; sein Blick versetzt die Heidenvölker in Schrecken; er wandelt auf ewigen Pfaden“ (Hab. 3,6). „Du reitest“ (Hab. 3,8). „Du schreitest über die Erde“ (Hab. 3,12). „Du durchbohrst… “ (Hab. 3,14). „Du betrittst das Meer“ (Hab. 3,15).
Während Habakuk in den ersten beiden Kapiteln seines Buches von der Frage umgetrieben war, wo denn Gott in der Geschichte bleibe, steht ihm nun vor Augen: Geschichte ist das Kommen Gottes.
In diesem Zusammenhang wird man an die Formulierung Luthers erinnert, der die Geschichtsereignisse, nicht zuletzt die Katastrophen und Kriege, als Gottes „Maskenspiel“ bezeichnete.
Obwohl die Heilige Schrift diese Wahrheit an nicht wenigen Stellen bezeugt (siehe zum Beispiel: Ps. 18,8–19; 50,2–3; 77,17–21; 97,3–5; Jes. 40,10; Nah. 1,5–6), geriet sie seit der so genannten Aufklärung, also seit rund 280 Jahren immer mehr in Vergessenheit.
Wenn Gott mit den Schrecken und Katastrophen dieser Welt in Verbindung gebracht wird, wenn sie gar als sein „Kommen“ verstanden werden, hört man recht schnell den Einwand, dieses sei „alttestamentlich“. Es habe mit dem Kommen Gottes, wie es im Evangelium berichtet und gerade zu Weihnachten uns verkündet wird, nichts zu tun.
Aber das ist ein Irrtum! Es ist zwar populär, sich Wahrheiten, die man nicht hören möchte, dadurch vom Leib zu halten, dass man sie pauschal als „alttestamentlich“ bezeichnet. Doch dann übersieht man, dass das Neue Testament, nicht zuletzt in den Siegel-, Posaunen- und Zornesschalengerichten, in denen uns das Kommen Gottes zum Gericht verkündet wird, Entsprechendes sagt.
Abgesehen davon kann man fragen: Weckt die im Gebet des Habakuk beschriebene „Pracht“ Gottes, sein „Ruhm, der die Erde erfüllt“ und „sein Glanz“ (Hab. 3,3) nicht Assoziationen zu der „Menge der himmlischen Heerscharen“ aus der Geburtsgeschichte Christi? Ja, kann überhaupt das Kommen des Sohnes Gottes in die Krippe zu Bethlehem recht verstanden werden, ohne dass man es begreift als das Kommen des Gottes, der Licht ist, und als solcher in unsere Finsternis gekommen ist? Das ist doch gerade das Wunder der Gnade, dass der Sohn Gottes aus der Pracht und der Herrlichkeit des Vaters in unserer Welt der Sünde erschienen ist. Gerade er, der in der Gestalt Gottes war, wurde an Gebärden wie ein Mensch erfunden. Jeder Versuch, diese Spannung in schnulzigen Krippenspielen zu vermitteln, in deren Mittelpunkt ein „Christkind“ ist (was ist das eigentlich für ein Kunstprodukt?), kann nur eine kitschige Verfälschung des Evangeliums bedeuten.
Übrigens gehörte nicht nur im Mittelalter, sondern auch in der Reformationszeit dieses Gebet des Habakuk zu den so genannten Stundengebeten („Horengebeten“) und wurde seiner Zeit von nicht wenigen Christen täglich (!) gebetet.3 Diese Christen wussten daher noch, dass Geschichte das Handeln Gottes ist, wenn auch sein verborgenes.
Halten wir fest: Habakuks Gebet ist eine „heftige Wehklage“. Der Beter erblickt die Welt um sich herum keineswegs aus der Distanz, etwa aus der fiktiven Position eines am Geschehen allenfalls indirekt beteiligten Zuschauers. Vielmehr nimmt er den heranrollenden Kriegszug der Babylonier gegen sein Volk wahr, aber nun als Teil des gewaltigen Werkes Gottes, das einst angefangen hat nach der Schöpfung und dem Sündenfall und forteilt bis zu dem großen Tag, an dem Gott wieder in die Sichtbarkeit treten wird.
Das ist der Grund, warum Habakuk sich durch die aktuellen Geschichtsereignisse nicht (mehr) blenden lässt. Denn vor allem sieht er etwas anderes. Richtiger: einen anderen. Aus diesem Grund beginnt sein Gebet nicht mit der Schilderung von Katastrophen. Von diesen lesen wir erst ab Vers 5. Davor ist Habakuks Blick in Beschlag genommen von Gott selbst: „Seine Pracht bedeckt den Himmel, und die Erde ist voll von seinem Ruhm. Ein Glanz entsteht, wie Licht; Strahlen gehen aus seiner Hand hervor…“ (Hab. 3,3). Habakuk hatte verstanden: Die Geschichte ist der Raum, in dem Gott sich Geltung verschafft.
Die Geschichte ist eine Einheit
Wenn wir unsere Bibel jetzt nicht zuschlagen, sondern das Gebet Habakuks weiter aufmerksam lesen, erkennen wir einen weiteren Aspekt. Auch dieser ist heute vielfach in Vergessenheit geraten. Es ist ja so, dass gegenwärtig Geschichte nicht nur nicht mehr für ein Werk Gottes gehalten wird, sondern der postmoderne Mensch weiß auch nichts mehr davon, dass es so etwas wie einen roten Faden in der Geschichte gibt. Ihm kommt stattdessen das Geschehen um ihn herum als ein abgehacktes, unkalkulierbares Durcheinander vor. Geschichte erscheint ihm eher so, wie sie sich auch uns eingangs, beim ersten Lesen des dritten Kapitels aufdrängte: als ein Sammelsurium von durcheinander purzelnden, zusammenhanglosen Ereignissen.
Auch in dieser Hinsicht kann uns das Gebet Habakuks die Augen öffnen für die Wahrheit, das heißt: für die Wirklichkeit Gottes. Der Prophet sieht: Weil die Geschichte das Werk Gottes ist, steht alles in einem großen Zusammenhang.
Diese Einheit in der Geschichte erkennen wir nicht, wenn wir uns aus den Berichten in den Massenmedien irgendwelche Konstruktionen zusammenkombinieren (lassen) oder wenn wir Horoskope lesen, weil wir unser Leben gerne in einem größeren Rahmen sehen möchten.
Dass alles Geschehen in dieser Welt in einem Zusammenhang steht und auf ein Ziel zuläuft, wissen wir einzig und allein aufgrund dessen, was Gott uns offenbart hat. Diese Erkenntnis haben wir nur im Blick auf den unveränderlichen, von Ewigkeit zu Ewigkeit lebenden, alles lenkenden Gott. Darauf, dass dieser Gott alles gelenkt hat und alles lenkt, weist bereits das allererste Bekenntnis in diesem Gebet hin: „Gott kommt von Teman her und der Heilige vom Berg Paran“ (Hab. 3,3).
Mit diesem Ausruf erinnert der Prophet an ein Geschehen, das für Habakuk bereits Jahrhunderte zurücklag. Unmittelbar vor dem Einzug des Volkes Gottes in das verheißene Land rief Mose noch einmal die zwölf Stämme zusammen, um sie zu segnen und ihnen Weissagungen für ihre Zukunft zu geben. Dieses Vermächtnis des Knechtes Gottes beginnt mit folgenden Worten: „Dies ist der Segen, mit dem Mose, der Mann Gottes, die Kinder Israels vor seinem Tod gesegnet hat. Und er sprach: Der Herr kam vom Sinai, und er leuchtete ihnen auf von Seir her, leuchtend erschien er vom Bergland Paran und kam von heiligen Zehntausenden her“ (5Mos. 33,2). Mose erinnerte bei dieser denkwürdigen Zusammenkunft an Gottes Kommen „von Paran her“. Sowohl das Bergland Paran als auch Teman lagen von Israel aus gesehen im Süden, in Edom (vergleiche dazu: Jer. 49,22; Ob. 9). Obwohl es gegen Edom noch nicht zu einer kriegerischen Verwicklung kam (4Mos. 20,14–21), wurde hier eines klar: Nun wird es ernst! Nun beginnen die Kriege! Und das Volk Gottes konnte wissen: Wenn sich Gott nun nicht als der Mächtige erweisen wird, dann werden wir mit der Einnahme des verheißenen Landes schon verloren haben, bevor wir überhaupt angefangen haben.
Es ist nicht uninteressant, dass man den Ausspruch in dem Gebet Habakuks unterschiedlich übersetzen kann. „Gott kommt von Teman her…„. Man kann auch übersetzen mit: „Gott kam von Teman her…„, also in der Vergangenheit. Dieser Satz lässt sich sogar als Bitte wiedergeben: „Gott möge von Teman her kommen…!“
Wie auch immer man diese Aussage ins Deutsche übertragen möchte, eines hatte Habakuk verstanden: Gott ist und bleibt immer derselbe. So wie er war, als das Volk im Begriff stand, in das Land Kanaan einzuziehen, so ist er nun derselbe, da der Untergang des Volkes bevorsteht.
Übrigens auch als man sich im Lauf der Geschichte Israels an Gottes Hilfe erinnerte, sprach man immer wieder von dem Kommen Gottes „von Edom her“. Nach dem Sieg über die Kanaaniter bekannten Debora und Barak: „O Herr, als du von Seir auszogest, als du einhergingst vom Gebiet Edoms, da erzitterte die Erde und der Himmel troff. Ja, die Wolken troffen vom Wasser. Die Berge zerflossen vor dem Herrn“
(Ri. 5,4–5). Jahrhunderte später stand dem Propheten Jesaja dieses Ereignis erneut vor Augen, als er verwundert die Frage stellte: „Wer ist dieser, der dort von Edom kommt, von Bozra mit hochroten Kleidern?“ (Jes. 63,1).
Auch in den weiteren Aussagen im Gebet Habakuks geht es nur scheinbar, auf den ersten Blick, darum, das Durcheinander der Geschichte in Bilder zu fassen. Bei genauerem Hinsehen werden wir auf Gottes Regieren von jeher gewiesen. Wenn der Prophet von der „Pest“ spricht und von der „Fieberseuche“ (Hab. 3,5), spielt er vermutlich auf die Plagen in Ägypten an (2Mos. 9,3; Ps. 78,50.51). Die Erwähnung der Ängste und „Nöte“ der heidnischen Völker (Hab. 3,6–7) lässt an die Schrecken denken, die Gott auf die Völker legte, als er sein Volk aus Ägypten in das Land Kanaan führte (2Mos. 15,14–17; 4Mos. 22,3). Das „Ergrimmen Gottes über das Meer und über die Ströme“ (Hab. 3,8) ist vermutlich ein Fingerzeig auf das „Schelten“ des Schilfmeeres, als die Ägypter das Volk Gottes verfolgten (Ps. 106,9; 114,3–8; 77,15–18). Dass „Sonne und Mond in ihre Wohnung treten“ (Hab. 3,11) mag eine Erinnerung an den Krieg Josuas gegen die Amoriter sein, in dem Josua zu Gott flehte, dass der Mond und die Sonne solange still stehen mögen, bis die feindliche Armee total vernichtet sei (Jos. 10,12–14).
Halten wir fest: Wenn Habakuk über das Handeln Gottes spricht, erinnert er sich an Fakten aus der Vergangenheit. Es ist deutlich: Gott handelt in der Geschichte in konkret anweisbaren Ereignissen. Sein Handeln ist nicht ahistorisch! Aus diesem Grund haben Sagen, Legenden und Mythen nichts mit der Bibel zu tun! Aber Gottes Handeln hat insofern einen Aspekt der Zeitlosigkeit, als er in seinem Handeln immer derselbe bleibt: während der Wüstenwanderung des Volkes Gottes, beim Einzug in das Land Kanaan, und – so erkennt Habakuk – jetzt im nahenden Untergang.
Die Geschichte ist Zornentladung des Bundesgottes
Aber Habakuk sieht noch mehr. Denn selbst wenn er die Geschichte als Gottes Werk, als sein Kommen erfasst, und auch wenn er erkennt, dass Gott in seinem Handeln beständig ist, stellt sich noch die Frage: Besteht diese Beständigkeit Gottes nicht gerade in einem recht unberechenbaren Wirken? Doch auch hier belehrt uns Habakuk: Gott handelt keineswegs als ein launenhafter Despot, sondern er handelt ganz anders.
Die Heilige Schrift lehrt, dass die Geschichte Zornentladung Gottes ist. Gleich zu Anfang des Kapitel lesen wir dieses erschreckende Wort: „Zorn“ (Hab. 3,2). Aber dieses Wort kann uns auch trösten. Denn es zeigt, dass der heilige Gott keineswegs zur Gesetzlosigkeit schweigt: Er wird das „Haupt des Gesetzlosen“ zerschmettern (Hab. 3,13). Tatsächlich sehen wir derartiges immer wieder in der Geschichte! Plötzlich sind sie weg, die Nebukadnezars, Neros, Hitlers, Stalins, Pol Pots usw. Die Gerichte Gottes über die Gesetzlosen gibt es wahrlich in der Geschichte!
Als Friedrich Schiller seine „Ode an die Freude“ zu Papier brachte, formulierte er gegen Schluss dieses Werkes, dass die Weltgeschichte das Weltgericht sei. Dazu ist zu sagen: Das Weltgericht ist die Weltgeschichte nicht. Gott sei Dank, ist sie das nicht! Denn in dieser Welt bleiben noch viele Fragen offen. Das Weltgericht wird erst am Ende kommen! (Von dem wollte Schiller nichts wissen, weil er meinte, diese Welt bestehe ewig). Aber richtig an dieser Aussage ist, dass die Weltgeschichte auch Weltgericht ist, und zwar auf dem Weg hin zum Endgericht.
Aber diese Blickrichtung sind wir heute nicht mehr gewohnt. Sie gefällt uns auch nicht. Wir möchten gerne meinen, dass es auch weltimmanent, also im Prozess dieser Welt eine positive Entwicklung geben müsse. Die Geschichte als Klassenkämpfe hat ja wohl nicht zuletzt deswegen auf so viele Menschen eine so große Faszination ausgeübt, weil sie die Botschaft mitlieferte, am Ende dieses Selbstbefreiungsprozesses werde das Paradies auf die Menschheit warten.
Aber dass vom Himmel her über der ganzen Welt der Zorn Gottes offenbar ist (Röm. 1,18), das entspricht so ganz und gar nicht menschlichen Vorstellungen und Träumereien. Diese Wahrheit ist auch nicht menschlichen Hirnen entsprungen. Wir können sie nur aus dem Wort Gottes wissen.
Doch das Wort Gottes verrät uns noch mehr. Es teilt uns mit, dass Gottes Zorn keineswegs willkürlich ist. Vielmehr ist sein Zorn Bundesrache. Weil die Menschen den Bund Gottes mit Füßen getreten haben, greift Gott richtend ein (vergleiche dazu: 5Mos. 32,24).
Deswegen spricht Habakuk in seinem Gebet von „deinem Bogen„. Mit diesem Bildwort erinnert der Prophet an den Bund Gottes mit Noah. Gott setzte einst zum Zeichen seiner Güte seinen Bogen in die Wolken (1Mos. 9,13). Hier nun lesen wir, dass Gott seinen Bogen „enthüllt“ und gleichsam „seine Pfeile“ aus seinem Köcher zieht. Ausdrücklich fügt Habakuk hinzu: Dieses alles erfolgt „gemäß deinen Eiden, gemäß deinem Wort“ (Hab. 3,9).
Halten wir fest: Im Licht des Wortes Gottes verläuft die Geschichte nicht willkürlich. Gott handelt nicht launisch, sondern er ist treu. Er kann sich selbst und seinen Bund nicht verleugnen. So können wir immer wieder sehen, dass Gott die Gesetzlosen straft, also gegenüber der Gesetzlosigkeit seine Meinung nicht ändert. Durch den Einwand, dieses seien nur kleine Lichtpunkte und es würden viele, sehr viele Fragen quälend offen bleiben, wird diese Wahrheit nicht weggewischt. Denn dieser Wahrheit ist dann sofort die andere hinzuzufügen: Endgültig wird die Gesetzlosigkeit erst am großen Tag des Gerichts beseitigt.
Inmitten des Zorns – Rettung
Doch die Weltgeschichte ist nicht nur Weltgericht. Sie ist nicht nur Zornentladung Gottes. Das wäre in seiner Grauenhaftigkeit unerträglich. Wer könnte diesen Gedanken nur eine Stunde aushalten?
Tatsächlich darf der Prophet inmitten all der Schreckens– und Gerichtsvisionen unvermittelt etwas anderes sehen: „Du ziehst aus zur Rettung deines Volkes, zum Heil deines Gesalbten“ (Hab. 3,13). Das heißt nichts anderes, als dass das Unheil und die Katastrophen der Geschichte nur ein Teil der Geschichte sind. In und durch alles Leid hindurch geht es Gott um Rettung.
Es ist interessant, dass Habakuk das Volk Gottes hier zusammengezogen sieht auf den Gesalbten, den Christus. Ähnlich verkündet es einmal Paulus, wenn er angesichts judaistischer Ideologien schreibt, dass der Same Abrahams niemand anders als Christus ist (Gal. 3,16).
Bei dem Ausspruch Habakuks über das Rettungshandeln Gottes könnte man die Frage stellen: Muss denn Christus gerettet werden? Er ist doch selbst der Retter! Eine ähnliche Überlegung kam vermutlich auch manchen Bibelübersetzern dieses Verses. Zum Beispiel wohl auch denjenigen, die an der Schlachter 2000–Übersetzung mitarbeiteten. Sie empfanden diese Stelle merkwürdig, übersetzen deswegen: „zum Heil mit deinem Gesalbten“. Aber das ist nicht korrekt wiedergegeben. Bleiben wir bei der wörtlichen Übersetzung und versuchen wir zu verstehen, was der Geist Gottes hier sagen will, auch wenn es uns zunächst ungewohnt vorkommt.
Es mag sein, dass wir dann vielleicht zu dem Ergebnis gelangen, dass beides wahr ist: Christus ist Retter. Aber als Vergegenwärtiger seines Volkes, als der für sein Volk in die Bresche springende „Knecht Jahwes“, ist er der Gerettete. Vermutlich ist das der Grund, warum der Heilige Geist ein Wort, das im Alten Testament über die Rettung Israels spricht, („aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen“, Hos. 11,1), auf die Rettung des Sohnes Gottes aus den Fängen des Herodes bezieht (Mt. 2,15): Christus ist der aus Ägypten zum Dienst Gerufene.
Auch zu Ostern wurde unser Retter gerettet. Ohne seine Rettung, und zwar sowohl in der aktiven als auch in der passiven Bedeutung dieses Wortes, würde es kein Volk Gottes geben. Darum lesen wir im Neuen Testament nicht nur von der Auferstehung Christi, sondern auch von seiner Auferweckung. Wir erfahren, dass Christus aus den Toten auferstanden ist (zum Beispiel: Apg. 10,41; 1Thess. 4,14; 1Petr. 1,3). Aber es heißt mindestens genauso häufig, dass er von Gott dem Vater aus den Toten auferweckt wurde (zum Beispiel: Apg. 2,24.32; 5,30; Röm. 6,4; 1Kor. 6,14).
Wenn wir nun zu der Frage zurückkehren, wie Geschichte, in der der Zorn Gottes offenbar ist, mit Gottes Rettung zusammenhängt, dann können wir uns das anhand von zwei Aussagen aus dem Gebet veranschaulichen.
In dem unmittelbar vorher stehenden Vers spricht der Prophet davon, dass Gott im Zorn die Heidenvölker „zerdrischt“ (Hab. 3,12). Dieses Wort lenkt unsere Gedanken auf die Erntezeit. Dann werden die Kornähren auf der Tenne zerfetzt, zerstampft, zerdroschen. Aber dieses Zermalmen ist sozusagen die Außenseite. Das Ziel des Dreschens ist es, die Körner zu gewinnen: Das ist gewissermaßen die Innenseite.
In diesem Bild von Außen– und Innenseite veranschaulicht Habakuk die Beziehung zwischen dem Zorn Gottes und seinem Erbarmen. Gleich zu Beginn des Gebetes betet Habakuk: „Im Zorn gedenke deines Erbarmens“ (Hab. 3,2). Unmittelbar davor fleht Habakuk: „Inmitten (!) der Jahre offenbare dich„. Wie das zu verstehen ist, können wir uns vielleicht folgendermaßen klar machen: Die Außenseite der Geschichte erscheint wie ein Rauch: Es folgt die eine Katastrophe auf die andere, ein Gerichtsschlag jagt den nächsten. Aber in dem Rauch ist Licht, und dieses Licht heißt Heil und Rettung. Ähnlich betete David einmal: „Wenn ich mitten durch die Bedrängnis gehe, so wirst du mich am Leben erhalten; gegen den Zorn meiner Feinde wirst du deine Hand ausstrecken, und deine Rechte wird mich retten“ (Ps. 138,7).
Halten wir fest: Inmitten der Geschichte, die eine Zornentladung Gottes ist, zeigt Gott sein Erbarmen, sein Heil, seinen Gesalbten, seinen Retter.
Die Furcht des vor Gott Erschrockenen
Wenn wir in diesem Gebet Habakuks von Erbarmen, Rettung und Heil lesen, dann wird uns damit nicht eine Botschaft kundgetan, wie sie uns in flachen Hollywoodfilmen begegnet: Am Ende wird doch alles gut! Schließlich kommt das Happy End! Die Spannung löst sich, und dann herrscht wieder eitel Sonnenschein, der von nun an uns immer und überall bestrahlt. Dann hätten wir dieses Gebet nicht verstanden.
Habakuk betete dieses ganze Gebet als ein „Erschreckter“. Die im Gebet empfangene Vision lässt ihn taumeln. Während im zweiten Kapitel Gott den gegen ihn hadernden Propheten mit einem Betrunkenen vergleicht, dem die gottlosen Jojakims und Nebukadnezars mit all den bevorstehenden Verwüstungen zu Kopfe gestiegen sind (Hab. 2,5), beschreibt der Prophet sich nun selbst als ein Wankender, der sich kaum noch aufrecht zu halten vermag, der kaum ein Wort hervorbringen kann und droht, schlussendlich in sich zusammenzusinken: „Als ich das hörte, erzitterte mein Leib, wegen dieser Stimme erbebten meine Lippen, Fäulnis drang in mein Gebein und meine Füße zitterten.“ Wenn es nach ihm ginge, würde er am liebsten weglaufen: „O dass ich Ruhe finden möchte am Tag der Drangsal!“ (Hab. 3,16).
Aber doch ist es jetzt anders: Dieses Mal kommt Habakuks Entsetzen nicht aus der Panik angesichts der heranrückenden Babylonier, sondern seine Furcht erwächst aus der Erkenntnis Gottes und seines Handelns. Er hat verstanden: Dieser Gott ist in seinem Werk zu fürchten…
Das Dennoch des Glaubens
… und ihm ist zu vertrauen. Darum fährt Habakuk unvermittelt fort: „Denn auch wenn der Feigenbaum nicht ausschlagen wird und der Weinstock keinen Ertrag geben wird, und auch wenn die Frucht des Ölbaums trügen wird und die Felder keine Nahrung liefern werden, selbst wenn die Schafe aus den Hürden getilgt werden und selbst wenn kein Rind mehr in den Ställen sein wird, dann will ich mich trotzdem freuen in dem Herrn und frohlocken über den Gott meines Heils!“ (Hab. 3,17–18).
Das Fehlen dieser Früchte bedeutet Hunger. Es ist Zeichen des Gerichtes Gottes (Mi. 7,1; Jer. 5,17; 8,13). Habakuk weiß: Die Geschichte wird in der Weise weitergehen, dass die Ernte vernichtet und das Vieh abgeschlachtet wird. Habakuk wird alles verlieren. Er wird mit vielen anderen Hunger leiden, und ob er in Zukunft immer ein Dach über dem Kopf haben wird, ist mehr als nur zweifelhaft, namentlich dann, wenn er mit großen Teilen seines Volkes aus seiner Heimat verschleppt werden wird.
Aber das ist eben nicht alles, was er weiß. Er weiß auch: Sein Heil, seine Rettung kommt nicht durch die Geschichte. Seine Rettung wird auch nicht kommen, wenn sich die Umstände ändern und unerwartet zum Guten wenden sollten.
Vielmehr kommt sein Heil durch Gott selbst. Ja, Gott selbst ist sein Heil! Darum bekennt er: „Ich will mich trotzdem freuen in dem Herrn und frohlocken über den Gott meines Heils“ (Hab. 3,18).
Wir sollten hier das kleine Wörtchen „trotzdem“ nicht überlesen: „Ich will mich „trotzdem freuen“. Worin ist dieses „trotzdem“ verankert? Woher erhält diese Freude ihren Bezugsrahmen? Wie kommt der Prophet dazu, so zu sprechen, ja zu singen? Normalerweise müsste doch dann, wenn das Brot, um das wir täglich bitten, ausbleibt, unser Lied im Munde ersterben. Aber genau das geschieht hier nicht. Warum nicht?
Der Grund liegt nicht in einer Lebenseinstellung, die von einer oberflächlichen Seichtigkeit oder einer leichtfertigen Sorglosigkeit geprägt ist. Hier säuselt sich nicht einer durch das Leben, indem er verkündet, von nun an wolle er nur auf die angenehmen Seiten des Lebens blicken. Eher ist hier an Luther zu denken: Nehmen sie den Leib, Gut, Ehr, Kind und Weib, lass fahren dahin, sie haben kein Gewinn, das Reich muss uns doch bleiben.
Habakuk konnte so singen, weil er Gott geschaut hatte, und dieser „Gott seines Heils“ ist ihm genug.
Ähnlich bezeugt es einmal der Prophet Micha. Er musste in seiner Zeit in grauenhafte Ehe- und Familienstreitigkeiten schauen: Familien zerfielen wie Kartenhäuser, jeder schien sein eigenes, unaufrichtiges Spiel zu spielen und jeder intrigierte gegen jeden (Mi. 7,6). Doch Micha blickt unvermittelt von dieser leidvollen Situation weg und bekennt: „Ich aber will nach dem Herrn ausschauen, will harren auf den Gott meines Heils!“ (Mi. 7,7).
Vergessen wir es nicht: Äußerlich hatte sich nichts geändert! Habakuk fing auch nicht an, sich in eine Phantasiewelt hineinzusteigern im Sinn von: Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehen und dann werden alle Träume wahr. König Jojakim wütete noch immer in Jerusalem. Nebukadnezar war nach seinem grandiosen Sieg über die Assyrer bei Karchemis und der anschließenden Vernichtung Ninives schon dabei, seine Truppen zusammenzuziehen. Es war nur eine Frage der Zeit, wann er mit seinem sieggewohnten Heer aufbrechen würde und gleich einer Lawine über die Länder des Nahen Ostens herfallen würde. Nicht ein erneutes Aufblühen der Wirtschaft stand bevor, sondern ein verwüstetes, ausgeplündertes Land war zu erwarten.
Und trotzdem: Der gleiche Prophet, der eben gerade noch berichtete, dass seine Knie zitterten und es ihm in seinen Knochen wie Fäulnis vorkam, fährt nun fort: „Gott, der Herr, ist meine Kraft; er macht meine Füße denen der Hirsche gleich und stellt mich auf meine Höhen!“ (Hab. 3,19). Hier zeigt sich Glaube konkret: Nicht mehr ein mühsames Sich–Dahinschleppen, als trüge er Schuhe aus Blei, sondern leichtfüßig wie ein Hirsch wird er laufen. Wenn Gott seine Gerichte schickt, wird es wohl noch immer Situationen geben, in denen er wankt. Aber es gibt keine Wankelmütigkeit mehr. Es wird wohl noch immer Zeitpunkte geben, in denen er den Eindruck hat, seine Knochen bestünden aus Fäulnis und Eiter. Aber trotzdem gibt es nun Festigkeit. Denn Gott ist sein Heil, seine Rettung und seine Kraft. Um ihn dreht sich alles. Im Trauen auf diesen Gott wird er in die Zukunft gehen.
Der Prophet spricht abschließend von „meinen Höhen“ (Hab. 3,19). An was denkt Habakuk? Auch Mose sprach einst von „den Höhen des Volkes“. Es waren die buchstäblich letzten uns von ihm überlieferten Worte (5Mos. 33,29). Mose dachte damals vermutlich an die bevorstehende Existenz des Volkes im verheißenen Kanaan. Ob Habakuk, wenn er angesichts des Untergangs erneut von den Höhen sprach, weiter blicken durfte und das Kanaan im Sinn hatte, von dem das irdische Land nur ein Schatten ist und den Glaubenden verheißen ist (Hebr. 11,13–14)? Wir wissen es nicht genau! Es ist möglich.
Schwierigkeiten mit dem Schluss?
Es ist denkbar, dass der ein oder der andere Leser jetzt anmerkt: Das alles ist mir viel zu flott gegangen: Wenn man bedenkt, welche Anfechtungen Habakuk noch im ersten Kapitel hatte, dann geht mir das mit dem Glauben zu glatt.
Aber dazu ist zu sagen: Wir wissen nicht, wie viel Zeit zwischen den einzelnen Kapiteln lag. Es ist gut möglich, dass zwischen der Offenbarung Gottes (Kap. 2) und der Antwort Habakuks ein längerer Zeitraum lag. Ganz gewiss aber ist es, dass sich diese drei Kapitel schneller hintereinander lesen lassen, als dass sich die Ereignisse in der Wirklichkeit des Lebens Habakuks abgespielt haben.
Aber selbst wenn wir diesen Zeitfaktor bei Habakuk berücksichtigen, kann uns unser durch die Moderne geprägtes, vielfach so säkularisiertes Denken immer noch daran hindern, das anzunehmen, was hier geschrieben steht.
Es ist ja wohl auch tatsächlich so, dass es uns nicht sonderlich schwer fällt, Verständnis für die Fragen Habakuks aufzubringen, die wir in Kapitel 1 lesen: Warum schweigt Gott? Wo kommt Gott in der Geschichte vor? Passen Gott und Geschichte überhaupt zusammen? Unsere eigenen Reserviertheit, Gott in der uns umgebenden Wirklichkeit wahrzunehmen, tragen gehörig dazu bei, das Hadern Habakuks mit Gott nachzuvollziehen.
Mehr Schwierigkeiten haben wir dann schon mit dem zweiten Kapitel: Warum bringt Gott nicht mehr Verständnis für seinen Knecht auf? Warum vergleicht er ihn – so wenig schmeichelhaft – mit einem Trunkenen? Auch wenn der Prophet sich ungeduldig gegenüber Gott gebärdet, hätte er nicht trotzdem von Gott etwas mehr „Samthandschuhe“ und das übliche seelsorgerische „In–Watte–-gepackt–Werden“ erwarten können?
Stattdessen lesen wir das harte, so wenig auf uns Menschen und unsere Bedürfnisse und Befindlichkeiten zugeschnittene: „Sei still vor ihm, du ganze Erde!“ Das vermutlich noch Befremdlichere des dritten Kapitels erwähnten wir bereits.
Vielleicht erwachsen unsere Schwierigkeiten gegenüber dem, was hier geschrieben steht, aber gar nicht so sehr durch unser durch Umwelt und Moderne geprägtes Denken. Vielleicht kommen sie unmittelbar aus unserem glaubenslosen Herzen, aus dem dann nur unsere entsprechenden Überlegungen kommen. Dann aber wäre die Antwort, die Gott dem Habakuk gab, auch für uns unverzichtbar: „Der Gerechte wird aus Glauben leben“.
1) Die Artikelreihe über Habakuk geht auf Predigten zurück, die im Februar und März 2008 in der Bekennenden evangelisch–reformierten Gemeinde in Gießen gehalten wurden. Sie können heruntergeladen werden unter: http://www.berg–giessen.de/predigtarchiv. Die gehaltenen Predigten sind für diese Artikelreihe überarbeitet und ergänzt worden.
2) Diese Auslegungsmethode kam übrigens erst im 19. Jahrhundert in adventistischen Kreisen auf und verbreitete sich von dort schnell in durchaus unterschiedliche Richtungen.
3) Siehe dazu: Martin Luther, Werke (WA) 19,336 und 349