1Als zu Beginn des 19. Jahrhunderts Napoleon Bonaparte aufbrach, um die gottlosen Ideale der Französischen Revolution zu verbreiten, war das für die Völker Europas verhängnisvoll. Was dann die im Lauf des 19. Jahrhunderts konzipierten und im 20. Jahrhundert in die Wirklichkeit umgesetzten atheistischen Weltanschauungen wie Marxismus, Bolschewismus, Nationalsozialismus, Stalinismus zustande brachten, war entsetzlich.
Mittlerweile scheinen in unseren Breiten sich elitär gebende Verbindungen immer selbstgefälliger mit dem Anspruch aufzutreten, sie wüssten genau, wie die Bevölkerung am besten beglückt werden könne. Wir können hier an das Gezerre über die „Europäische Verfassung“ oder die „Europäische Grundordnung“ denken. Die (meisten) Völker Europas werden vorsichtshalber nicht gefragt, oder aber sie werden so lange befragt, bis sie so abstimmen, wie es in Brüssel und anderswo gewünscht wird. Die Wahlwiederholung in Irland ist dafür nur ein greifbares Beispiel.
In den Rechtsprechungen auf nationalstaatlicher Ebene werden den Menschen immer mehr Regelungen aufgedrückt, die gegen ihre verfassungsmäßigen Rechte verstoßen. Man denke an den kürzlich vom Bundesverfassungsgericht gefassten Entscheid, nach dem auch dem Staat das Erziehungsrecht der Kinder zustehe (21.7.2009). Während einst in Erinnerung an den Totalitarismus festgeschrieben worden war, dass es „natürliches Recht der Eltern“ sei, ihre Kinder zu erziehen (Grundgesetz, Art. 6), wird dieses Recht nun also ausgehebelt. Aber das ist nur ein Beispiel.
Selbstverständlich ist man eifrig bemüht, dem Unrecht ein Rechtsmäntelchen umzuhängen. Aber jeder, der es überhaupt noch wissen will, ahnt: Das, was hier fabriziert wird, ist kein Recht, sondern verdrehtes Recht, also in Wahrheit Unrecht.
Mit der Frage, wie man in einem Gemeinwesen (über)leben kann, in dem das Recht zu Unrecht entstellt wird, rang bereits der Prophet Habakuk. Angesichts des gesetzlosen Willkürregimes von Jojakim flehte er zu Gott, um von ihm zu erfahren, warum er, der heilige Gott, zu den Rechtswidrigkeiten schweige (Hab. 1,2-4). Schließlich erhielt er von Gott die Antwort: Gott werde eingreifen und die Jerusalemer Herrscherclique beseitigen. Aber – und da packte den Propheten das Entsetzen: Die Richter über den gottlosen Jojakim werden die noch gottloseren Babylonier sein (Hab. 1,5-11). Habakuk taumelte. Die Babylonier waren nicht nur für ihre Selbstherrlichkeit bekannt, sondern auch für ihre Grausamkeit. Es hatte sich herumgesprochen, dass sie die überrannten Völker nach Lust und Laune vertrieben und verschleppten, die Frauen vergewaltigten, den Unterworfenen Arme, Nasen und Ohren abhackten und deren Besitzungen rücksichtslos plünderten und brandschatzten. Der Prophet schrie im Gebet zu Gott: Ist dir nicht bekannt, dass die Babylonier noch viel schrecklicher sind als der ungerechte Jojakim! Darf Nebukadnezar Menschen so behandeln, wie man Fische zu behandeln pflegt, das heißt in diesem Fall: abzuschlachten (Hab. 1,12-17)?
Habakuks Klage wandelte sich zur Anklage gegen Gott: Bleibt angesichts solcher Aussichten der heilige Gott überhaupt noch glaubwürdig? Wo bleibt seine Heiligkeit? Immerhin verrennt sich der Prophet nicht in eigene Grübeleien, sondern er beschließt, auf Gott zu warten bis er ihm Antwort gibt (Hab. 2,1). Schließlich erhält er die Antwort. Wir lesen sie in Habakuk 2. Bevor Sie den folgenden Artikel lesen, lesen Sie bitte dieses Kapitel aus der Heiligen Schrift in einer guten Übersetzung.
Gott antwortet
Ob Gott dem Habakuk die Antwort bald gab, nachdem der Prophet sich auf die Warte gestellt hatte, oder ob er den Beter noch eine Zeit warten ließ, teilt das Wort Gottes nicht mit. Aber irgendwann konnte Habakuk erklären: „Da antwortete mir der Herr und sprach“ (Hab. 2,2).
Mit dieser Botschaft verband Gott den Auftrag an Habakuk, die Antwort „auf Tafeln aufzuschreiben„, damit man sie „geläufig“ lesen könne. Das Wort „geläufig“ ist hier wörtlich zu verstehen. Gemeint ist: Die Offenbarung soll auf großen Tafeln so eingraviert werden, dass der Inhalt von den vorbeieilenden Menschen gut lesbar erfasst werden kann. Offensichtlich sollten die Tafeln, vergleichbar mit heutigen Reklamewänden oder Wahlplakaten, an einem geschäftigen Ort Jerusalems, vielleicht in der Nähe des Tempels oder bei einem der Stadttore oder auf dem Marktplatz, aufgestellt oder aufgehängt werden, so dass sie von möglichst vielen zur Kenntnis genommen werden konnten.
Auf diese Weise machte Gott seinem Propheten klar, dass er die Offenbarung nicht für sich selbst empfangen habe. Habakuk erhielt sie nicht, um eine eventuell vorhandene religiös-apokalyptische Neugier zu befriedigen. Es ging nicht darum, dass er sich hätte einbilden können, er wisse nun über den weiteren Verlauf der Geschichte besser Bescheid als andere. Vielmehr war der Sinn der Botschaft Gottes, wir werden es im Folgenden noch sehen, die Menschen zur Buße und zum Glauben zu rufen. Übrigens ist das immer der Sinn, wenn Gott zu uns spricht.
Das erste, was Gott seinem Propheten verkündet, ist der Hinweis, dass sich die Offenbarung nicht sofort erfüllen werde: „Die Offenbarung wartet noch auf die bestimmte Zeit“ (Hab. 2,3). Mit anderen Worten: Es wird noch eine Weile dauern. Dabei beschreibt Gott die Weise der Erfüllung folgendermaßen: „Sie eilt (wörtlich: sie „schnaubt“ oder: sie „keucht“) auf das Ende zu“. Eine Antwort auf die Frage, wie diese Aussage zu verstehen ist, wollen wir geben, nachdem wir uns den Inhalt der Offenbarung Gottes vor Augen geführt haben.
Gott spricht sein Wehe
Den breitesten Raum in der Offenbarung Gottes an Habakuk nehmen die so genannten Weherufe ein (Hab. 2,6b-19). Es sind fünf Weherufe, in denen Gott sein Gericht über Babylon ankündigt. Aber, und hier wird es ein wenig kompliziert, in diese Gerichtsrufe Gottes sind zugleich die Spottrufe der besiegten Völker eingeflochten: „Werden nicht diese alle (also die geknebelten Völker) einen Spruch über ihn (das heißt: über Nebukadnezar) anheben und ein Spottlied in Rätseln (das heißt: in Mehrdeutigem oder in Doppelbödigem) auf ihn anstimmen?“ (Hab. 2,6).
Auf diese Weise macht der Heilige Geist deutlich, dass das Urteil, das Gott über Babylon verhängt, dem entspricht, was die erniedrigten Völker über ihre Unterdrücker hinter vorgehaltener Hand („doppeldeutig“) tuscheln. Ähnliches lesen wir auch sonst im Alten Testament. Im Propheten Jesaja finden wir ein Gerichtwort Gottes über Babylon (Jes. 13,1), das zugleich (größtenteils) das ist, was das Volk Gottes seinen Unterdrückern ins Gesicht schleudern wird (siehe: Jes. 14,4).
Man könnte aus dieser Parallele ableiten, dass Gott die Partei der Unterdrückten ergreift. Tatsächlich ist diese Folgerung nicht völlig falsch. Aber sie ist missverständlich. Denn es ist keineswegs so, dass niedergetrampelte Völker schon deswegen vor Gott angenehm sind, weil sie ausgeplündert werden. Die Trennlinie verläuft keineswegs so, wie das die vor 30 oder 40 Jahren populären politischen Befreiungstheologien meinten lehren zu müssen: Während die Ausbeuter die Bösen seien, seien die Ausgebeuteten diejenigen, auf deren Seite Gott stehe, gewissermaßen die Gerechtfertigten. In den Versen, die wir zunächst übergangen haben (Hab. 2,4.5), stellt Gott vielmehr klar, dass er die Grenze anders zieht: Sie verläuft zwischen denjenigen, die Gott vertrauen, und denjenigen, die ihm nicht glauben.
Es wäre also zu kurz gegriffen und damit falsch, Gott als Parteigänger der Armen propagieren zu wollen. Vielmehr ist es unbedingt erforderlich, bei den Weherufen auf die Sprechrichtung zu achten. Gott wendet sich hier nicht an die Unterdrückten, um gleichsam ihr Fähnlein zu schwenken, sondern er spricht die Unterdrücker an. Denen tut er kund, dass er keineswegs auf Seiten der stärkeren Bataillone steht. Eine solche Geschichtskonstruktion mag dem Augenschein nahe liegen. Aber man täusche sich nicht! Sie wird nicht aufgehen!
Im Propheten Amos hören wir einmal, dass Gott sich sogar für die Edomiter einsetzt (Am. 1,9.10). Das heißt aber nicht, dass Gott seinen eigenen Konflikt mit Edom vergessen hat (Am. 1,6-8.11.12). Allerdings besteht er darauf, dass seine Auseinandersetzung mit diesem Volk anderen Menschen nicht das Recht gibt, darauf ihr eigenes Süppchen zu kochen.
Ähnliches lesen wir einmal im Blick auf die Assyrer: Gott hat zwar die Assyrer als Gerichtswerkzeuge eingesetzt („Rute seines Zornes“, Jes. 10,5.6), aber weil die Assyrer sich nicht als Werkzeug Gottes verstanden, sondern sich in ihrem Herzen in Größenwahn hineinsteigerten (Jes. 10,7-11), werden sie selbst einmal dem Gericht Gottes nicht entkommen (Jes. 10,12ff).
Genauso deckt Gott auch in diesen fünf Weherufen die selbstherrliche Überheblichkeit der Babylonier auf und spricht darüber sein Gericht.
Im ersten Weheruf (Hab. 2,6b-8)
nimmt er sich die Raubgier der Invasoren vor. Sie „bereichern sich daran, was ihnen nicht gehört.“ Bereits bei der Ankündigung, dass die Babylonier kommen werden, hatte Gott über die Chaldäer gesagt, dass sie „Wohnungen in Besitz nehmen werden, die ihnen nicht gehören“ (Hab. 1,6). Hier prophezeit der Herr über die, die ihren Hals nicht voll genug bekommen, dass der Tag kommen werde, an dem die niedergedrückten Völker erwachen und „aufstehen werden„, um die Unterdrücker „wegzujagen“ (Hab. 2,7). Dann werden dir diejenigen, die du brutal ausgeplündert hast, ihre Rechnung präsentieren (Hab. 2,8).
In diesem Zusammenhang sticht ein Wort ins Auge, das in seiner Doppeldeutigkeit aufschlussreich ist. Es ist das Wort, das mit „Pfand“ oder „Pfandgut“ übersetzt ist (Hab. 2,6). Dieses im gesamten Alten Testament nur hier vorkommende Wort ist aus zwei Worten zusammengesetzt, die jeder, der hebräisch spricht, sogleich heraushört. Zum einen ist es das Wort für „Kot“ und zum anderen das Wort für „Lohn“. Mit anderen Worten: Babylon, die von dir zusammen geraubten Güter sind nicht nur Pfänder, die dich anklagen, weil du dadurch Schuldner der Geplünderten geworden bist. Sie sind auch ein „Dreckslohn“, durch den du dich bei den ausgesaugten Völkern stinkend gemacht hast!
Auf die verzweifelte Frage der Unterdrückten: „Wie lange noch“ (Hab. 2,6), nennt Gott keinen Zeitplan. Aber er kündigt an: Die Stunde wird kommen, in der die Babylonier, deren selbstherrlicher Eifer von ihm benutzt wurde, um das Volk Gottes zu züchtigen, selbst bestraft werden, und diese Stunde wird „plötzlich“ kommen. Denken wir an die Perser, die in einer Nacht- und Nebelaktion der babylonischen Herrschaft ein Ende bereiteten (Dan. 5,24-30).
Der zweite Weheruf (Hab. 2,9-11) verknüpft die Raffgier der Eroberer („ungerechter Gewinn“, Hab. 2,9) mit dem Bestreben der babylonischen Weltmacht, sich selbst Sicherheit zu verschaffen. Man kann ja einmal die Frage stellen: Was trieb eigentlich die Babylonier an, dass sie so viele andere Völker meinten zu Boden werfen und aussaugen zu müssen? (siehe Hab. 1,13-17). Juda lag ja nun wirklich nicht vor der Haustür Babylons, und eine Bedrohung für die Herrscher am Euphrat war dieses Volk ebenfalls nicht. Die Antwort, die wir hier erhalten, lautet: um sich in jeder Beziehung abzusichern. Über diesen Absicherungswahn spricht Gott der Herr sein Wehe: Dein zusammengeraubter Luxus, mit dem du eine unanfechtbare Position einzunehmen suchst („dein Nest in der Höhe anlegen„, Hab. 2,9), wird dich fällen.
Nebukadnezar rief eines Tages angesichts seiner Hauptstadt aus: „Ist das nicht das große Babel, das ich mir erbaut habe zur königlichen Residenz mit meiner gewaltigen Macht und zu Ehren meiner Majestät!“ (Dan. 4,27). Viel weiter kam der Herrscher in seinem Protzen nicht. Gott zeigte ihm unverzüglich seine Grenzen auf (siehe Dan. 4,28.29). Dieser Dämpfer des babylonischen Herrschers hätte der Weltmacht bereits vor Augen führen können, dass da jemand anders im Regiment sitzt und der Untergang des babylonischen Weltreiches nur eine Frage der Zeit ist.
Die Formulierung „der Stein wird aus der Mauer heraus schreien und der Balken im Holzwerk ihm antworten“ (Hab. 2,11) lässt geradezu an einen hymnischen Wechselgesang denken („schreien…. ihm antworten“). Babylons Zusammenbruch wird in den Ohren der von ihnen niedergetretenen Völker wie Musik erklingen.
Das dritte Wehe (Hab. 2,12-14) richtet sich gegen das Errichten von Städten durch unzählige Heere rekrutierter Zwangsarbeiter: „Wehe dem, der Städte mit Blut baut und Ortschaften auf Ungerechtigkeit gründet.“ Städte waren befestigte, ummauerte Ortschaften, also Machtzentren. Gott bewertet die zur Einschüchterung errichteten Bollwerke als aberwitzigen Irrsinn: Die Völker arbeiten fürs Feuer, sie mühen sich ab (eigentlich: sie sind ermüdet) für nichts (Hab. 2,13). Einmal werden nicht nur die Mauern dieser Städte, sondern die Mauern Babylons selbst geschleift werden und in Feuer aufgehen (Jer. 51,25.58).
Im vierten Weheruf demaskiert Gott die Babylonier weiter. Sie haben nicht nur für die sich ihnen in den Weg stellenden „Könige und Fürsten Hohn und Spott übrig“ (Hab. 1,10), sondern sie nehmen den unterworfenen Völkern gezielt die letzten Reste ihrer Ehre, indem sie sich über sie belustigen. Sie verabreichen den Besiegten betäubende Getränke, um sich dann schamlos an den durch Alkohol Entwürdigten zu ergötzen (Hab. 2,15). Gottes Antwort darauf lautet, dass den Eroberern gleiches geschieht: „Die Reihe wird an dich kommen …“ (Hab. 2,16).
Aber Gott verkündet nicht nur denen sein Gericht, die andere Menschen erniedrigt und geschändet haben, sondern er spricht sein Wehe auch über die Zerstörung der Schöpfung: „Denn die Gewalttat, die am Libanon begangen wurde, wird [dann] über dich kommen, und die Verheerung, [die an den] wilden Tieren [begangen wurde] und die sie in Schrecken versetzte“ (Hab. 2,17). Sowohl die Assyrer als auch die Babylonier waren dafür berüchtigt, dass sie für ihre gewaltigen Prunkbauten aber auch für ihre militärischen Unternehmungen zahllose Bäume rücksichtslos fällten. Namentlich auf dem Libanongebirge gab es jahrhundertealte Zedern, die von ihnen abgeholzt wurden (vergleiche dazu Jes. 14,7.8; 37,24). Abgesehen von dem Abhacken ganzer Wälder machten die babylonischen Krieger sich einen Spaß daraus, wilde Tiere zu jagen. Für sie waren das Kampftrainingseinheiten. Gott, der Schöpfer, spricht darüber sein Urteil: „Die Gewalttat, die am Libanon begangen wurde, wird über dich kommen…“ (Hab. 2,17).
Schließlich, im letzten Wehe (Hab. 2,18.19) deckt Gott auf, dass alle Habgier, aller Größenwahn und alle Menschen- und Schöpfungsverachtung im Götzendienst verwurzelt ist. Diese Götzen der Babylonier sind nutzlos, leer, sinnlos. Vielleicht vermuten die Anbeter es selbst. Aber nur umso eifriger schmücken sie die, die „ohne Leben, ohne Odem“ (Hab. 2,19) sind, also tot sind und den Untergang Babylons nicht verhindern können.
Die Weherufe Gottes – nicht nur gegen Babylon gerichtet
Die Botschaft der Weherufe ist deutlich: Gott kündet an, dass die babylonische Weltmacht seinem Gerichtsurteil nicht entkommen wird. Aber ist damit die Botschaft an Habakuk erschöpft?
Immerhin ist bemerkenswert, dass in diesem Kapitel die Babylonier nirgends namentlich erwähnt werden. Ferner fällt auf, dass das, was Gott dem Habakuk verkündet, haarscharf dem entspricht, was der Prophet Jeremia über die Bauwut Jojakims verkündet (Jer. 22,13-19). Auch das Vergießen unschuldigen Blutes wirft Gott nicht nur den Babyloniern vor, sondern auch Jojakim (2Kön. 24,4), und in Juda war zu seiner Zeit der im letzten Weheruf demaskierte Götzendienst ebenfalls gang und gäbe (Jer. 2,8.11 und öfters).
Offensichtlich sollten die Weherufe also nicht (nur) deswegen in Jerusalem gut sichtbar angebracht werden, damit die Einwohner Jerusalems das Gericht über die heranrückenden Babylonier zu lesen bekommen, sondern auch, um den Menschen in der Hauptstadt Judas vor Augen zu führen, dass sie sich selbst schon völlig an die Kultur der Babylonier angepasst hatten, also bevor sie von ihnen erobert wurden. Die in den Weherufen erfolgte Grenzziehung verläuft also nicht in nationalen Rastern, im Sinn von: dort die gottlosen Babylonier, hier das gute Volk Gottes.
Mehr noch: Diese Weherufe sind merklich allgemein gehalten. Gott spricht sein Gericht hier sehr generalisierend. Das deutlichste Beispiel dafür finden wir im dritten Weheruf: Die Völker und die Nationen (also nicht nur die Babylonier) mühen sich fürs Feuer ab. Das heißt: Mit den Weherufen will der Heilige Geist unseren Blick über Nebukadnezar und seine Truppen hinaus lenken und uns Licht über die gesamte Weltgeschichte geben. Was hier verkündet wird, gilt für alle Völker, übrigens bis hin zu dem Babylon, von dem wir im letzten Buch der Heiligen Schrift lesen. Auch über diese Macht wird das Urteil gesprochen, das hier in den Weherufen wiederholt begegnet: „Vergeltet ihr, wie auch sie euch vergolten hat, und zahlt ihr das Doppelte heim gemäß ihren Werken! In den Becher, in den sie euch eingeschenkt hat, schenkt ihr doppelt ein! In dem Maß, wie sie sich selbst verherrlichte und üppig lebte, gebt ihr nun Qual und Leid!“ (Offb. 18,6.7). Eine Besserung der Weltmächte wird es innerhalb der Geschichte demnach nicht geben.
So gilt allen Tyrannen der Gerichtsruf über die Raffgier. Gott spricht über alle Mächte das Strafgericht, die im Lauf der Geschichte andere Völker ausgeplündert und unterdrückt haben und die von ihnen weggenommenen „Pfänder“ selbst verwirtschaftet und verprasst haben, so dass sie sie ihren „Gläubigern“ nicht zurückzahlen können (Hab. 2,6b-8). – Gegenüber dem Absicherungswahn zeigt Gott den ungerechten Herrschern immer wieder die ganze Brüchigkeit ihres Planens auf (Hab. 2,9.10). – Und über ihre militärischen Machtspielchen erklärt Gott immer wieder sein „Wie gewonnen, so zerronnen“ (Hab. 2,13). – Alle diejenigen, die meinen, ihre stärkere Position erlaube es ihnen, andere Menschen zu missbrauchen, bis hin zu Pornographie oder Prostitution, werden das Wort hören müssen: „Die Reihe wird auch an dich kommen, den Becher aus der rechten Hand des Herrn zu nehmen, und Schande wird auf deine Herrlichkeit fallen“ (Hab. 2,16). Bereits der König Salomo lehrt, dass man Menschen dermaßen demütigen und erniedrigen kann, dass sie geradezu „toll“ werden, das heißt jeden Anstand verlieren (Pred. 7,7a). Aber Gott sieht den Verursacher für solche Entmenschlichung!
Wer um eines kurzfristigen Profits willen achselzuckend Umweltschäden in Kauf nimmt, wird nicht nur einmal an dem eindimensionalen Ethos gemessen werden, nach der wir diese Welt nur von unseren Kindern geliehen haben, sondern er wird vom Schöpfer selbst zur Rechenschaft gezogen werden. – Der Hinweis auf die Sinnlosigkeit und die Torheit des Errichtens und Schmückens von Götzenbildern tadelt nicht nur die Machwerke der Babylonier. Hiermit ist auch das Gericht gesprochen über alle Ideologen aller Zeiten mit ihrem Anspruch, ihre Ein-„bild“-ungen würden der Menschheit endlich das Heil bringen. In Wahrheit sind sie leer: Asche (Jes. 44,20).
Noch etwas fällt auf: Obwohl diese fünf Weherufe Gottes gleichzeitig Spottrufe der unterdrückten Völker sind, ist der Grundtenor nicht hämische Schadenfreude. Die Gerichtsworte münden nicht in die Aufforderung: „Sei still vor ihm, Babylon!“ Vielmehr lautet das Gebot am Ende des Kapitels universal, also ohne Ausnahme: „Sei still vor ihm, du ganze (!) Erde!“ (Hab. 2,20).
Der Irrwahn der Ungläubigen
Eines ist durch diese Weherufe deutlich: Gott lenkt die Geschichte. Mag Habakuk oder mögen die unterdrücken Völker winseln und schreien: „Wie lange noch?“ (Hab. 2,6), Gott kommt nicht zu spät. Aber auch ein Zweites ist klar geworden. Wenn Gott sein Gericht verkündet, dann wendet er sich keineswegs nur gegen die anderen. Es ist nicht so, dass die Scheidelinie zwischen dem Reich dieser Welt und dem Reich Gottes durch nationale oder institutionelle Grenzen gezogen werden kann. Vielmehr verläuft die Trennung immer durch das Volk Gottes selbst mitten hindurch, ja durch unser eigenes Herz.
Genau diese Wahrheit wird uns in den beiden Versen verkündet, die vor den Weherufen stehen (Hab. 2,4.5). Gott beginnt seine Botschaft mit einem Siehe: „Siehe, der Vermessene – unaufrichtig ist seine Seele in ihm“ (Hab. 2,4). Wen soll Habakuk hier „sehen„? Wer ist mit dem „Vermessenen, dessen Seele in ihm unaufrichtig ist“ gemeint? Ganz zweifellos ist an die Angreifer gedacht, also an die Babylonier. Aber nur an sie? Hätte Gott es dann nicht unmissverständlich sagen können? Sind von dem Geist des Größenwahns nur sie beherrscht?
Eher scheint es sich so zu verhalten, dass Gott, bevor er sein Gericht über die (anderen) Gottlosen spricht, erst einmal Habakuk selbst gleichsam an die Hand nimmt und an ihn die Frage richtet: Habakuk, hast du bei deinen Klagen, die zu Anklagen gegen mich geworden sind, nicht vergessen, mit wem du es zu tun hast? Lass uns nun einmal nicht über den gottlosen Jojakim sprechen und über den noch gottloseren Nebukadnezar. Jetzt sprechen wir einmal über dich und über dein anmaßendes Auftreten mir gegenüber.
Noch deutlicher wird Gott im folgenden Vers: „Und dazu kommt noch, dass der Wein tückisch ist (wörtlich: Der Wein ist ein Raubender“, Hab. 2,5a). Natürlich bezieht sich auch dieses Wort auf die Babylonier, mit ihren unmäßigen Schwelgereien. Aber zunächst veranschaulicht Gott anhand des Weines dem Propheten, wie er sich gegenüber Gott verhalten hat: Habakuk, in deinem (An)klagen verhältst du dich so vermessen wie einer, dem der Wein zu Kopf gestiegen ist. Du bist wie ein im Rausch Torkelnder. In deinen Einbildungen darüber, wie Gott die Weltgeschichte lenken müsse, verhältst du dich wie einer „dessen Seele aufgebläht“ ist. Wir würden heute von einem „Traumtänzer“ oder von einem „Enthusiasten“ sprechen.
Schließlich verwendet Gott noch einen Vergleich: „Der übermütige Mann wird nicht bleiben, er, der seinen Rachen weit aufgesperrt hat wie das Totenreich und unersättlich ist wie der Tod, dass er alle Völker sammeln und alle Nationen an sich ziehen will“ (Hab. 2,5b). Enthusiasmus erzeugt im Menschen eine (Schein-)Lebensenergie. Aber gerade diese treibt ihn in die Selbstzerstörung. Denn gerade in seiner Berauschung blendet er aus, dass er ein Mensch ist, dass er endlich ist und ein Sünder dazu, ob er nun Nebukadnezar, Jojakim, Habakuk oder sonst wie heißt.
Als Jeremia einmal Gott mit der Frage anklagte, ob er ihm wie ein „ausgetrockneter Bach“ (Wadi) sein wolle („Willst du mir denn sein wie ein trügerischer Bach, wie Wasser, die versiegen?“, Jer. 15,18)
antwortete ihm Gott unverzüglich: „Wenn du umkehrst, so will ich dich wieder vor mein Angesichts treten lassen, wenn du das Edle vom Unedlen scheidest, sollst du wie mein Mund sein“ (Jer. 15,19). Mit anderen Worten fordert Gott ihn auf: Bevor ich weitere Verwendung für dich habe, spüle erst einmal deinen Mund kräftig durch.
Um nicht missverstanden zu werden: Wir kennen vermutlich alle Menschen, die tatsächlich unter ihren Leiden tief gebeugt sind und in ihrem Gebet wahrlich nicht bühnengerecht zu Gott schreien. Solche Leute zu verurteilen steht uns nicht zu! Aber wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass wir auch als bittende Menschen vor dem Angesicht des Allerhöchsten stehen. Da ist es nicht angemessen, ihn als eine Art Notrufsäule zu behandeln, als Objekt unserer Ungeduld oder unseres Unmuts: „Wird dein Reich jetzt endlich einmal zu Potte kommen!?“, ist eine unakzeptable Gebetsformulierung gegenüber dem dreimal Heiligen!
Gelegentlich meint man, sich für solche Reden rechtfertigen zu können, indem man es als „Freimütigkeit“ oder als „Unbefangenheit“ gegenüber Gott bezeichnet. Oder man erklärt: Man „rechte“ mit Gott. Nicht selten verweist man in diesem Zusammenhang auf Hiob. Wir können im Rahmen dieses Artikels nicht auf das Hiobbuch eingehen. Aber soviel sollte klar sein: Hiob kämpfte gegen das Gottesbild seiner Freunde, die offensichtlich von einem „Nachtgeist“ beschwätzt worden waren (Hi. 4,12-16) und darum dem Leidenden nur einen sehr verzerrten Gott verkündigen konnten. Als Hiob dann Gott selbst begegnete, da legte er seine Hand auf seinen Mund und verabscheute sich in Staub und Asche (Hi. 39,34; 42,2-7).
Der Gerechte lebt aus Glauben
Wie Habakuk, so kann es auch uns immer wieder überfallen. Wir geraten dann dermaßen unter den Eindruck der Geschehnisse um uns herum, dass wir unsere Stellung vor Gott aus dem Auge verlieren. Frommes Streben, ehrliche Leidenschaft und opferbereiter Einsatz mögen ihr Übriges beitragen, dass wir die Vermessenheit bei anderen, nicht jedoch bei uns selbst wahrnehmen. Dann werden die eigenen Überlegungen zu einem Kerker, aus dem wir selbst genau so wenig auszubrechen vermögen, wie man seine Hand, die an eine Starkstromleitung geraten ist, wegreißen kann, obwohl man genau weiß, dass man dadurch verglüht. So kommt der in seinen selbstzerstörerischen Einbildungen Gefangene nicht aus seinem Gedankengebäude heraus – bis Gott endlich sein befreiendes Wort spricht: „Der Gerechte wird aus Glauben leben“ (Hab. 2,4).
Seien wir uns darüber im Klaren: Dieses Wort trifft nicht auf jemanden, der lediglich der einen oder anderen Fehleinschätzung oder sonstigen leicht korrigierbaren Irrtümern aufgesessen ist, sondern es prallt auf den geballten Unglauben des menschlichen Herzens. Bei Habakuk zeigt sich dieser Unglaube in Ungeduld und anmaßender Besserwisserei, die wie jeder Unglaube von der Ursünde, das heißt von Adams Gottgleichseinwollen, angezündet worden ist.
Martin Luther bringt in seiner Erklärung zum ersten Gebot im Großen Katechismus auf den Punkt, was Glaube ist: Glaube ist die Antwort des Menschen auf das erste Gebot. Mit anderen Worten: Glaube heißt, von Gott als Gott zu wissen. Dann erkennt der Mensch seinen eigenen Standort und gegen allen Augenschein, gegen alle Zwischenmächte, die sich als Herren der Welt, göttergleich vor ihm aufzuführen suchen, klammert er sich an diesen Gott und an seine Verheißungen. Dann wird sein Glaube zu einem Treueverhältnis, so dass er im Gebet bekennt, wenn auch unter Tränen: Du, Herr, lenkst diese Welt, und deine Leitung ist die beste aller möglichen! Einmal wird die ganze Erde vor dir still sein. Ich will es schon jetzt sein!
In der Verheißung, der Gerechte werde durch Glauben leben, ist das Wort „leben“ nicht moralisch zu fassen. Gott appelliert hier nicht an Habakuk, sich durch eine anständige Lebensführung als Gerechter zu erweisen. Dafür hätte die Heilige Schrift den Begriff „wandeln“ verwendet. Die Aussage: „Der Gerechte wird durch Glauben leben„, meint soviel wie: Während die „Vermessenen„, die in ihrem Rausch Benebelten zwischen den Mühlsteinen der Weltgeschichte zermalmt und im Gericht zugrunde gehen werden, wird der, der Gott traut, die Welt überwinden und bestehen: Er wird vor Gott leben.
Im Neuen Testament
Dreimal wird das Wort, „Der Gerechte wird aus Glauben leben“, im Neuen Testament zitiert: in Römer 1,17; Galater 3,11 und Hebräer 10,38.
In Römer 1,17 untermauert der Apostel Paulus mit dieser Aussage, dass Gott im Evangelium seine Gerechtigkeit geoffenbart hat, und zwar „aus Glauben zu Glauben“. Auf die Frage, wer vor Gott bestehen kann, lautet die Antwort: nur der, der die Gerechtigkeit Gottes empfangen hat. Zur Begründung verweist Paulus auf Habakuk 2,4: „Der Gerechte aber wird aus Glauben leben„.
Gott machte dem Propheten deutlich, dass er in sich selbst keineswegs gerecht ist. Vielmehr lebt er im Rausch der eigenen Vermessenheit, also nicht viel anders als Nebukadnezar oder Jojakim! Gott verkündete ihm: Gerechtigkeit findet der Mensch nicht dadurch, dass er um sich herumblickt und dabei möglicherweise zu dem Ergebnis gelangt, er sei frömmer als andere. Sondern Gerechtigkeit erlangt er nur durch Vertrauen auf Gott, „aus Glauben zu Glauben“.
Die zweite Stelle, in der dieses Wort im Neuen Testament zitiert wird, steht im Galaterbrief. Der Apostel Paulus hatte den Galatern einst verkündet, dass der Mensch einzig und allein durch die Gnade Gottes gerechtfertigt wird. Nach der Abreise des Paulus waren Leute in den galatischen Gemeinden aufgetreten, die aus dem Judentum kamen. Diese Männer gingen sehr geschickt vor. Sie widersprachen dem, was Paulus verkündet hatte, nicht direkt. Auch sie versicherten, dass der Mensch durch die Gnade Gottes gerettet werde. Aber daneben brachten sie noch einen Zusatz in ihre Verkündigung. Der Glaube sei lediglich der Beginn des Christseins. Wenn man wirklich geistlich vorankommen wolle, müsse man sich auch an das Gesetz halten: Vor allem solltet ihr euch an eurem Fleisch beschneiden lassen. Als der Apostel dieses mitbekam, stellte er klar: Diese Vertreter christlich-judaistischer Verkündigung verfälschen das Evangelium. Ihr werdet dadurch „verzaubert“ (Gal. 3,1).
Man könnte fragen: Was war daran eigentlich so schlimm? Warum die ganze Aufregung? Die zusätzlichen Werke des Gesetzes hätte man doch vortrefflich als Ergänzung zum Glauben deuten können. Doch der Apostel urteilt anders: Entweder ihr erlangt eure Rechtfertigung durch Werke des Gesetzes oder durch Glauben an Christus, den Gekreuzigten. Entweder ihr blickt auf euch, auf eure Leistungen und schnipselt an eurem Fleisch herum oder ihr schaut weg von euch auf das Werk Christi auf Golgatha. Wer sich auf die Werke des Gesetzes stützt, gerät unter den Fluch (Gal. 3,10). Nur wer sein Vertrauen auf Gott setzt, kann vor Gott bestehen. Diese Botschaft erhärtet der Apostel mit dem Wort: „Der Gerechte wird aus Glauben leben“ (Gal. 3,11).
Als Habakuk sich in den Gedanken verrannt hatte, er kenne die Wege Gottes besser, machte Gott ihm klar, dass nicht seine frommen Überlegungen und sein eingebildetes Sorgen ihn retten, sondern allein das Trauen auf Gott.
Die dritte Stelle, in der das Wort an den Propheten Habakuk zitiert wird, steht im Hebräerbrief. Dieser Brief ist an Christen gerichtet, die aus dem Judentum bekehrt waren, aber dann in der Anfechtung standen, wieder in dieses religiöse System zurückzusinken: Ist es denn so falsch, sich (auch) an den Tempelriten zu orientieren? Ist es nicht erhebend, wenn der Hohepriester am großen Versöhnungstag aus dem Heiligtum kommt, um dann die im Tempelvorhof wartende Menschenmenge mit Tierblut zu besprengen? Der Schreiber des Hebräerbriefes ermahnt durch den Heiligen Geist, sich nicht an den Hohenpriester zu halten, der alljährlich am großen Versöhnungstag in das Allerheiligste des Jerusalemer Tempel geht. Stattdessen sollen die Christen sich auf den „großen Hohenpriester“ besinnen, der mit seinem eigenen Blut in das himmlische Heiligtum eingegangen ist. Sie sollen gegenüber dem Judentum standhaft bleiben und sich nicht an dem Irdischen, Sichtbaren orientieren. Sie sollen „ihre Zuversicht“ nicht „wegwerfen“ (Hebr. 10,35), nicht „feige zurückzuweichen“ (Hebr. 10,39), sondern ihren Blick auf das Himmlische, auf das Unsichtbare richten. Denn: „Der Gerechte wird aus Glauben leben“ (Hebr. 10,38).
Jesaja bezeugt einmal, wie er in seinen Anfechtungen auf dem Weg des Vertrauens bewahrt wurde, so dass er nicht zurückwich: „Gott, weckt Morgen für Morgen, ja, er weckt mir das Ohr, damit ich höre, wie Jünger hören. Gott der Herr hat mir das Ohr geöffnet; und ich bin nicht ungehorsam und weiche nicht zurück. Ich bot meinen Rücken dar denen, die mich schlugen, und meine Wangen denen, die mich rauften. Mein Angesicht verbarg ich nicht vor Schmach und Speichel. Aber Gott der Herr hilft mir, darum werde ich nicht zuschanden“ (Jes. 50,4-6). Ähnlich bekennen es auch die Söhne Korachs, nachdem sie bittere Erfahrungen mit Menschen in ihrem Umfeld gemacht hatten: „Du hast uns der Beschimpfung unserer Nachbarn ausgesetzt, dem Spott und Hohn derer, die uns umgeben… Dies alles ist über uns gekommen, und doch haben wir deiner nicht vergessen noch treulos gehandelt gegen deinen Bund. Unser Herz hat sich nicht zurückgewandt noch sind unsere Schritte abgebogen von deinem Pfad“ (Ps. 44,14-19).
Dass der Glaube keineswegs nur ein mystisches „Jesus-Grundgefühl“ ist, sondern ohne Gehorsam, ohne Nachfolge, ohne Hingabe des ganzen Lebens nicht vorstellbar ist, wird gleich im folgenden Kapitel des Hebräerbriefes an zahlreichen Beispielen illustriert: Durch Glauben brachte Abel ein Opfer dar, baute Noah eine Arche, gehorchte Abraham und zog aus in ein Land, das er als Erbteil empfangen sollte usw. Aber all dieses Tun ist überwölbt von der Aussage aus Hebräer 11,1. Auf den Rat Melanchthons hin übersetzte Luther, dass der Glaube eine „gewisse Zuversicht“ ist. Das ist nicht falsch übersetzt. Aber der unmittelbare Sinn des griechischen Wortes (hypostasis) meint: das „darunter Liegende“, „der tragende Grund“.2 Dieser tragende Grund des Glaubens wurzelt nicht im Sichtbaren, sondern im Unsichtbaren. Darum gibt Gott auch keine Erklärungen über das Problem des Bösen in der Weltgeschichte oder eine Antwort auf all die quälenden Warum-Fragen, sondern er ruft zum Glauben auf, zum Vertrauen, das im Unsichtbaren wurzelt. Nur wer dort seinen Lebensanker hat, ist angesichts der Stürme der Zeit vor der eigenen Ungeduld bewahrt. Dann beugen wir uns nicht unter die Situation in einer gleichsam fatalistischen Einstellung, sondern wir stellen uns unter das (Gerichts)-Handeln Gottes. Das hatten sowohl die Christen, an die der Hebräerbrief gerichtet war, zu lernen als auch Habakuk.
Der Kommende wird kommen
An einem Satz im Hebräerbrief, der mit der Aussage „Der Gerechte wird aus Glauben leben“ in engem Zusammenhang steht, sind wir bisher vorbeigegangen. Unmittelbar vor diesem zitierten Wort lesen wir: „Denn noch eine ganz kleine Weile, dann wird kommen, der kommen soll und wird nicht auf sich warten lassen“ (Hebr. 10,37). Offensichtlich führt der Schreiber des Hebräerbriefes hier Habakuk 2,3 an, also den Vers, dessen Verständnis wir zu Beginn des Artikels offen ließen. Dabei fällt eine kleine aber bezeichnende Variation auf: Während Gott dem Propheten Habakuk mitteilt, „die Offenbarung“ wartet noch auf die bestimmte Zeit und wird kommen und nicht verziehen, spricht der Hebräerbrief von „dem Kommenden, der kommen soll“ und nicht verziehen wird. Zweifellos ist hier Christus angekündigt.
Damit ist die Frage beantwortet, was die Aussage meint, dass die Offenbarung noch auf die bestimmte Zeit wartet und auf das Ende zueilt: Auch diese Offenbarung hat ihren Inhalt und ihr Ziel in Christus.
Nicht zuletzt weil Habakuk den Auftrag erhielt, selbst auf die Offenbarung zu „warten„, bezieht sie sich auf den babylonischen König: „Wenn es sich verzögert, so warte auf sie, denn sie wird gewiss eintreffen und nicht ausbleiben“ (Hab. 2,3). Mit anderen Worten: Die Erfüllung dessen, was Gott dem Habakuk über die Babylonier offenbart, kann sich noch etwas hinziehen. Aber die Erfüllung, das heißt sowohl das Kommen der Babylonier als auch deren Untergang wird der Prophet selbst noch erleben. Es gilt für „eure Tage“ (Hab. 1,5). Tatsächlich sank das Babylonische Reich sehr bald nach Nebukadnezars Tod in sich zusammen.
Aber, und das ist auch deutlich, das Gericht über die selbstüberheblichen Babylonier wird zu einer Folie, an der wir erkennen, wie Gott immer wieder Tyrannen mit ihrem Großmachtstreben richtet und zwar bis zum Ende hin, das dann eingetroffen ist, wenn „der Kommende, der da kommen soll“, gekommen ist (Hebr. 10,37). Denn alle Gerichte über die Weltmächte im Lauf der Geschichte sind selbst nicht das Ende. Das kommt tatsächlich erst, wenn „der“ Kommende gekommen ist. So „eilt („schnaubt„) die Offenbarung zum Ende hin.“
Wäre nur die Geschichte das Weltgericht, dann böte sie den Unterdrückten nur einen sehr eingeschränkten Trost. Häufig würde sie sich geradezu als eine Gottesverdunkelung erweisen. Erst bei der Endabrechnung, erst wenn Christus, der Kommende, gekommen ist, werden alle Rätsel klar. Bis dahin sind wir aufgerufen, im Glauben zu leben, das heißt auf den zu vertrauen, der fest zusagt, dass „die Offenbarung gewiss eintreffen und nicht ausbleiben wird“.
Fortsetzung folgt
1) Die Artikelreihe über Habakuk geht auf Predigten zurück, die im Februar und März 2008 in der Bekennenden evangelisch–reformierten Gemeinde in Gießen gehalten wurden. Sie können heruntergeladen werden unter: http://www.berg–giessen.de/predigtarchiv. Die gehaltenen Predigten sind für diese Artikelreihe überarbeitet und ergänzt worden.
2) Man vergleiche dazu die sehr hilfreichen Ausführungen Johannes Calvins in: Institutio III,2,41-43.