1Es ist bereits seit dem Sündenfall so, dass der Mensch seinen eigenen Vorteil im Auge hat. Das ist nichts Neues. Neu ist allerdings die bis hinein in christliche Gemeinden zu beobachtende Haltung, man habe alles an der Beantwortung der Frage zu messen, ob dieses oder jenes einem etwas bringt. Es hat den Anschein, als ob nicht nur bei den Predigten, sondern bei sämtlichen gemeindlichen Aktivitäten die Frage dominiert: Was habe ich davon? Das Problem bei dieser Haltung ist, dass sich denjenigen, die alles unter diesem Blickwinkel betrachten, die Dimensionen des Glaubens enorm verengen.
Da ist es geradezu spannend, sich in die Botschaft der Propheten zu vertiefen. Diese Männer schoben keineswegs ihre persönliche Situation beiseite. Sie flüchteten sich auch nicht in eine wie auch immer abgehobene Zuschauerposition, sondern sie nahmen das sie umgebende Geschehen aufmerksam wahr, und zwar so, dass sich dadurch der Horizont ihrer Gotteserkenntnis weitete und ihr Glaube gestärkt wurde.
Ein Beispiel für diese Einstellung ist der Prophet Habakuk. Es ist beabsichtigt, in den folgenden Nummern der Bekennenden Kirche auf das Buch Habakuk zu hören. Das, was der Prophet durch den Heiligen Geist aufschreiben musste, ist leider nicht sehr bekannt. Wenn man aus dieser kleinen Schrift überhaupt einen Vers kennt, dann ist es wohl der Bescheid an den Propheten: „Der Gerechte wird aus Glauben leben“ (Hab. 2,4). Diese Aussage ist nicht zuletzt deswegen von Gewicht, weil sie dreimal im Neuen Testament zitiert wird, und zwar jeweils an entscheidenden Stellen: in Römer 1,17; Galater 3,11 und Hebräer 10,38.
Umso sinnvoller erscheint es, diese offensichtlich zentrale Botschaft in dem Zusammenhang zu hören, in dem Gott sie zum ersten Mal proklamiert hat. Wir werden sehen, es kommen dabei Fragen zur Sprache, die auch heute Christen bewegen: Kann der Gerechte in dieser Welt überhaupt aus Glauben leben? Gibt es eine Alternative zu einem Leben aus dem Glauben? Wenn ja, welche? Was heißt es eigentlich, aus Glauben zu leben?
Habakuk empfing seine Botschaft in eine Situation hinein, in der er, ja in der das Volk Gottes insgesamt schon längst nicht mehr auf das Gebiet eingeschränkt war, das durch die Ortschaften Dan und Beerscheba sowie durch das Mittelmeer und den Jordan markiert war. Seit mindestens zweihundert Jahren fand man sich geistig in einem international geprägten Völkergeflecht wieder. Es gab nicht nur intensive Handelsbeziehungen zu den umliegenden Völkern; sondern nicht zuletzt durch zahlreiche kriegerische Konflikte, Einfälle und Besetzungen hatte man mit manchen dieser Völker sehr enge Kontakte.
Diese politische und ökonomische „Globalisierung“ der eigenen Lebenswirklichkeit hätte das Volk Gottes verkraften können. Zwar hatte das Volk Gottes gewaltige finanzielle Werte durch hohe Tributzahlungen an die jeweiligen Supermächte abzuführen, also sowohl an die Assyrer (2Kön. 18,14–16) als auch an die Ägypter (2Kön. 23,33.35). Aber das wesentlich Schlimmere war: Das Volk Gottes übernahm immer mehr die Lebensart seiner Nachbarn. Dass Gott dieses Volk erwählt und zu seinem Dienst berufen hatte, dass er einen Bund mit ihm geschlossen hatte, schien viele nicht mehr zu interessieren. Der allmächtige Gott hatte diesem Volk im Lauf der Jahrhunderte immer und immer wieder seine Barmherzigkeit erwiesen. Aber das bedeutete vielen nichts mehr. Diejenigen, die daran erinnerten, schienen vielfach auf die Hörer den Eindruck zu machen, reaktionär, kleinlich und beschränkt zu sein, nicht richtig tauglich für die anstehenden Herausforderungen.
Die eigenen Könige erblickten die Lösung der politischen Probleme im Schließen von Bündnissen. Auch viele der einfachen Menschen sahen als einzigen Ausweg, einzutauchen und sich mittreiben zu lassen in dem scheinbar alles mit sich reißenden Strom der Geschichte. Den mit dieser Anpassung verbundenen Preis, Kompromisse zu schließen bis hin zum Religionsmischmasch (Synkretismus), waren offensichtlich nicht wenige bereit zu zahlen. Die Formel ihrer Lebensdevise lautete: Nur nicht sich intolerant zeigen! Sicherheit bekommt man dann, wenn man in möglichst großem Rahmen Netzwerke knüpft und Allianzen schließt!Damit vollzog sich eine dramatische Änderung des Denkens innerhalb des Volkes Gottes. Die Menschen begannen, in einem anderen geistigen Koordinatensystem zu urteilen und zu argumentieren: Nicht mehr der Blick auf Gott, den Allmächtigen, und sein untrügliches Wort, sondern Diplomatie bestimmte die Gedankenwelt. In den Tagen dieser sich vollziehenden Bewusstseinstransformation empfing Habakuk die Botschaft: „Der Gerechte wird aus Glauben leben“!
Habakuk, der Prophet (Hab. 1,1)
Über Habakuk wissen wir so wenig wie über kaum einen anderen Propheten aus der Bibel. Noch nicht einmal den Namen seines Vaters oder den Ort, aus dem er stammte, überliefert die Heilige Schrift. Weder die exakten Daten seines Lebens kennen wir, noch wird ausdrücklich gesagt, in welcher Zeit er auftrat.
Aus einigen Aussagen des Buches können wir jedoch ableiten, dass Habakuk in Juda wirkte, und zwar in dem Zeitraum, der der Babylonischen Gefangenschaft unmittelbar voran ging. Zum Beispiel lesen wir in Habakuk 1,6 von den Chaldäern (Babyloniern) als einem Volk, das im Begriff stand, sich anderer Völker, unter anderem auch Judas, zu bemächtigen.
Die Eroberung Judas, die zur Verschleppung der Bevölkerung in die Babylonische Gefangenschaft führte, erfolgte in Etappen, und zwar ab dem Jahr 594 v. Chr. Ihren katastrophalen Tiefpunkt fand sie in der Niederbrennung des Jerusalemer Tempels (587). Die Offenbarungen, die Habakuk empfing, erfolgten zeitlich vor dem Anrücken der Babylonier, also an der Wende vom 7. zum 6. Jahrhundert. Das heißt, Habakuk war ein Zeitgenosse des Propheten Jeremia.
Zu jener Zeit regierte in Juda der König Jojakim (608–598). Das zweite Buch Chronika bewertet die Herrschaftszeit dieses Königs mit dem einen Satz: „Er tat, was böse war in den Augen des Herrn“ (2Chr. 36,5). Und das zweite Buch Könige fasst seine Regierungszeit mit der Aussage zusammen: „Er füllte Jerusalem mit unschuldigem Blut an“ (2Kön. 24,4). Mit anderen Worten: Jojakim ging über Leichen.
Habakuk hatte in seiner Jugend die Reform unter König Josia miterlebt. Über Josia heißt es nicht nur, dass er das tat, „was recht war in den Augen des Herrn“; sondern das Wort Gottes fügt ausdrücklich hinzu, dass er „weder zur Rechten noch zur Linken abwich“ (2Kön. 22,2; 2Chr. 34,2). Josia kam im Alter von 8 Jahren auf den Thron. Als er 16 Jahre alt war, fing er an, Gott den Herrn zu suchen (2Chr. 34,3). Bereits vier Jahre später begann er, das Land von den Götzenbildern zu reinigen (2Chr. 34,3–7), und im 18. Jahr seiner Regierung gab Josia den Befehl, den desolaten Tempel in Jerusalem wieder herzustellen (2Kön. 22,3–7; 2Chr. 34,8–13). Im Verlauf dieser Restaurierungsarbeiten fand man das Buch des Gesetzes Gottes (2Kön. 22,8; 2Chr. 34,14). Man las es, und das Wort Gottes erwies seine reformierende Wirkung (2Kön. 22,9–23,27; 2Chr. 34,15–35,19). Ohne Zweifel war diese Zeit eine Episode geistlichen Aufblühens.
Aber nach dem Tod Josias setzte das Volk seinen Sohn Joahas zum Herrscher ein. Anders als sein Vater war Joahas ein Götzendiener (2Kön. 23,31.32). Ein Glück, so könnte man einwerfen, dass die Regierungszeit dieses Mannes nur drei Monate dauerte (2Chr. 36,1–3). Das hätte man verschmerzen können…, wenn nicht im Anschluss daran sein Bruder, der bereits erwähnte Jojakim, auf den Thron gekommen wäre. Dieser Mann regierte 11 Jahre, und er verhielt sich noch schlimmer als Joahas (2Kön. 23,31–37).
Beide, sowohl Joahas als auch Jojakim, hatten in Josia einen gottesfürchtigen Vater. Aber das führte keineswegs dazu, dass sie selbst Gott suchten und ihn fürchteten. Es ist gut, in einer christlichen Familie aufzuwachsen. Aber irgendwann richtet sich die Frage an jeden einzelnen: Glaubst du selbst diesem Gott und seinem Wort?
Unter König Jojakim schlug die Gottlosigkeit voll durch. Es hat den Anschein, dass die Reformationsbestrebungen Josias sehr schnell verdampft waren. Dabei dürfen wir uns bei allem Positiven, das durch die Reformation unter Josia entstanden war, nicht zu hohe Vorstellungen von ihr machen. Zwar wurden die Höhen, auf denen man Baal und den anderen kanaanitischen Naturgötzen gedient hatte, zerstört, der Jerusalemer Tempel wurde renoviert, er fand Anerkennung nicht nur bei der eigenen Bevölkerung, sondern auch bei nicht wenigen aus dem einstigen Nordreich (2Kön. 22,1 – 23,28; 2Chr. 34,1 – 35,19). Andererseits aber musste der Prophet Jeremia wiederholt die Oberflächlichkeit dieser Reform anprangern (Jer. 3,6–10; 25,3–11).
Aber nun unter Jojakim wurde das zarte Pflänzlein namens „Reformation“ völlig in Grund und Boden getrampelt. Die im Gesetz Gottes vorgegebenen Ordnungen lösten sich erneut dramatisch auf, so als hätte man nicht wenige Jahre vorher das Gesetz Gottes gefunden. Mehr noch: Jeremia hatte im Auftrag Gottes eine Buchrolle mit allem, was Gott zu ihm geredet hatte, durch seinen Diener Baruch abfassen und öffentlich vorlesen lassen. Manche im Volk fingen erneut an, sich vor Gott zu demütigen, und man berichtete Jojakim davon. Wie völlig anders war seine Reaktion als die seines Vaters: Als man ihm die Buchrolle vorlas, hatte der Sohn Josias nichts Besseres zu tun, als die jeweils gelesenen Teile streifenweise ins Feuer zu werfen (Jer. 36,1–26).
In dieser Zeit lebte Habakuk. Über Habakuk heißt es lediglich, dass er Prophet war. Wenn man genau liest, wird er sogar als „der Prophet“ bezeichnet (Hab. 1,1). Weiteres erfahren wir über ihn nicht. Insofern wird man von ihm sagen können: Das Einzige, was wir über Habakuk genau wissen, ist, dass er hinter seiner Berufung zurücktritt.
Die Last des von Gott Beschlagnahmten (Hab. 1,1)
In diesem Volk, in dem sich die Ordnungen Gottes verflüchtigt hatten, empfing Habakuk von Gott seine Offenbarung. Das Buch beginnt mit dem Satz: Der Ausspruch, den Habakuk, der Prophet, geschaut hat (Hab. 1,1). Das Wort, das hier mit Ausspruch übersetzt ist, bedeutet eigentlich heben. Es hat einen zweifachen Sinn. Es meint einerseits soviel wie Ausspruch (im Sinn von seine Stimme erheben), andererseits aber Last (im Sinn von Bürde). Vermutlich ist diese Zweideutigkeit beabsichtigt. Jedenfalls verwendet auch Jeremia das Wort in dieser Doppelbedeutung (Jer. 23,33–40).
Die damit vermittelte Wahrheit ist klar: Wenn Gottes Wort verkündet wird, legt es auf die Hörer eine Last. Das Wort Gottes belastet diejenigen, die es hören, und zwar deswegen, weil es sie vor das Angesicht Gottes stellt. Wenn es unverfälscht verkündet wird, erweist sich das Wort Gottes entweder als „ein Geruch vom Leben zum Leben oder als ein Geruch vom Tode zum Tode“. (2Kor. 2,15.16). Spätestens dann gibt es keinen Raum, in den der Mensch sich in Indifferenz, vermeintliche Neutralität oder gar Gleichgültigkeit flüchten kann.
Aber das empfangene Wort ist keineswegs nur für diejenigen eine Last, denen es verkündet wird. Zunächst bedrückt es den Empfänger selbst. Der Apostel Paulus schreibt einmal: „Wenn ich das Evangelium verkündige, so ist das kein Ruhm für mich; denn ich bin dazu verpflichtet, und wehe mir, wenn ich das Evangelium nicht verkündigen würde“ (1Kor. 9,16). Derjenige, auf den Gott seine Hand legt, um sein Wort zu empfangen, mag unter dieser Last gebückt und gebeugt gehen, er kann aber trotzdem nicht anders als den Auftrag Gottes zu erfüllen, denn: Wehe ihm, wenn er das Evangelium nicht verkündet!
Jeremia, der Zeitgenosse Habakuks, unternahm den Versuch, dem Zugriff Gottes auszuweichen. Er wollte ihm entfliehen, weil er so unsäglich unter den Aussprüchen Gottes litt. Dennoch wurde er immer wieder von Gott eingeholt, bis er endlich ausrief, ausrufen musste: „Ich weigere mich nicht (mehr), als Hirte zu dienen und dir nachzufolgen“ (Jer. 17,16). Hier bekommen wir eine Ahnung von dem, was Inspiration heißt.
Petrus schreibt einmal, dass die Weissagungen der Propheten nicht Deutungen aus eigenem Willen sind, sondern dass hier heilige Männer geredet haben, getrieben vom Heiligen Geist (2Petr. 1,20.21). Demnach meint Inspiration keineswegs, in eine gefühlsmäßige Hochstimmung versetzt zu werden, in der man „high“ ist oder „Powergefühle“ verspürt. Vielmehr heißt Inspiration: Der Herr ist alles, der Knecht ist nichts. Nichts stammte aus eigenem Willen! Gleichwohl ging die Offenbarung in die „heiligen Männer Gottes“ ein, und sie ging durch sie hindurch. Sie vermochten nichts gegen die Wahrheit (2Kor. 13,8), sondern wurden von ihr erfasst und geschüttelt. Sie war ihnen eine peinvolle Bürde, die sie schier erdrückte, erdrosselte und verbrannte. Zugleich aber war sie ihnen Antrieb und Motor, sie wurden von ihr getragen und durch sie vorwärtsgetrieben, so dass sie ausriefen: „Es ist uns unmöglich, nicht von dem zu reden, was wir gehört und gesehen haben“ (Apg. 4,20). Genauso verhielt es sich bei der Last, die Habakuk schaute.
Die Geschichte als Thema des Buches Habakuk
Das, was Habakuk belastete, ist im Kern die Frage nach der Geschichte. Genauer gesagt geht es um die Frage: Bringt Gott in dieser Weltgeschichte, mit all ihrem augenscheinlich tosenden Durcheinander sich selbst zur Geltung? Allgemeiner formuliert: Was hat diese Weltgeschichte mit Gott zu tun? Wenn sie mit Gott etwas zu tun hat, wieso beschreitet Gott so rätselhafte und vielfach so quälend verworrene Wege?
Angesichts dieser Thematik ist es gut, zunächst einmal mit dem Lesen des Prophetenbuches innezuhalten und sich unsere eigene Geschichte vor Augen zu führen. Wenn wir einmal auf die vergangenen hundert Jahre zurückblicken: Was haben Menschen sich einander nicht alles angetan! In zwei Weltkriegen! Wie viel Boshaftigkeiten und Grausamkeiten begingen sie und erlebten sie! Wie viel abgrundtiefe Verzweiflung, entsetzliche Schmerzen, furchtbares Elend, Tod und eigene Schuld! Wie viele skrupellose Beraubungen, brutale Vertreibungen, gehässige Erniedrigungen und Vergewaltigungen! Wie viel Leid und Tränen! Wie viel ausweglos erscheinende Verzweiflung in den Diktaturen und wie viele private und familiäre Verwerfungen!
Es liegt nahe, in alledem nach einem Sinn zu suchen. Aber wo soll dieser zu finden sein? Wenn es einem gelingen würde, mit Statistiken die These zu belegen: Ja, das alles sei zwar unsagbar furchtbar gewesen, aber in all dieser Not hätten die Menschen wieder angefangen, nach Gott zu fragen, und die Gemeinde Gottes sei innerlich gereift und gewachsen… Zweifellos mag Derartiges vorgekommen sein. Aber aufs Ganze gesehen, wird man eher das Gegenteil feststellen müssen: Die Gottvergessenheit und die Gesetzlosigkeit hat zugenommen.
Als im Jahr 1989 die so genannte Wende kam, keimte bei nicht wenigen der Hoffnungsschimmer auf, nun sei unser Volk endlich von den Wahnideen eines jeglichen Kollektivismus kuriert. Aber bekanntlich macht sich mittlerweile die Nachfolgepartei der für die jahrzehntelange Unterdrückung verantwortlichen Kader auf, sogar in westdeutsche Landesparlamente einzuziehen. Selbst wenn das noch verhindert werden kann, wer wagt es, im Blick auf die Zukunft Europas eine positive Prognose zu stellen, also darüber, was in 50 oder in 100 Jahren von dem einst „christlichen Abendland“ noch übrig bleiben wird? Führende Vertreter des Islam erklären unbefangen vor laufenden Kameras, sie seien hier, um Europa für den Islam in Besitz zu nehmen. Falls dazu von offizieller Seite überhaupt eine Reaktion erfolgt, achten die in Medienangelegenheiten erfahrenen Kommentatoren peinlichst genau darauf, dass man ihnen unter keinen Umständen politische Unkorrektheiten vorwerfen kann… Dieses ist nur die politisch–gesellschaftliche, sozusagen die äußere Entwicklung.
Blicken wir in die Kirchen und Gemeinden. Wie verwüstend hat hier die schriftkritische Theologie gewirkt und wirkt noch immer, inzwischen auch ganz offen in Gemeinschaften und so genannten evangelikalen Freikirchen. Anstatt dass von den Kanzeln das Wort Gottes verkündet wird, wird gerade durch das, was „Theologen“ von sich gegeben haben und geben, der Glaube vieler Menschen systematisch verwirrt und zerstört. Oder man lässt das Wort Gottes in „Gottesdiensten“ gleich in den Hintergrund treten und sucht stattdessen durch das „Integrieren“ psychologischer und soziologischer Programme den Gemeindealltag aufzupeppen.
Wer all dieses mit halbwegs wachen Augen wahrnimmt, kann eigentlich nur die Frage seufzen: Wann endlich kommt man wieder zur Besinnung? Wann endlich kehrt man zurück zu Gott und sucht ihn dort, wo er zu finden ist, also in seinem Wort? Oder wird man gar nicht mehr den Weg zum dreieinigen Gott und zu seinem Heilswerk in seinem Sohn Jesus Christus finden? Welche Perspektive haben unsere Kinder? Was können wir unseren Kindern mitgeben, damit sie standhaft bleiben?
In diesem Jahr, in dem die Medien unermüdlich daran erinnern, dass vor zweihundert Jahren Charles Darwin geboren wurde, gibt es gewichtige Gründe für die These, unter den Christen sollte die Beziehung zwischen Naturwissenschaft und Bibel in den Mittelpunkt des Interesses gerückt werden. Ohne Zweifel ist dieses Thema wichtig, und es darf nicht vernachlässigt oder gar unterschlagen werden, zumal sich bis hinein in einst bibeltreue Kreise die Stimmen mehren, die sich über die Schöpfung dieser Welt durch den allmächtigen Gott in sechs Tagen lustig machen und stattdessen einen sich über Jahrmilliarden erstreckenden Entwicklungsprozess als „wissenschaftlich gesichertes“ Forschungsergebnis verbreiten.
Trotzdem wird man den Eindruck in Gesprächen nicht los, dass das, was an vielen Menschen zerrt und tiefer an ihnen nagt, die Frage nach der Geschichte ist: Wird die Geschichte mit ihrer scheinbar gnadenlosen, vermeintlich unaufhaltsam alles mit sich fortreißenden Dynamik auch uns irgendwann wie ein Lawine unter sich zermalmen, zerquetschen und zertrümmern? Wird die Geschichte mit ihren zig Saugarmen nicht auch uns verschlingen oder unter sich begraben? Ist es da nicht zweckmäßiger, sich gleich von ihr forttreiben zu lassen?
Habakuk, der Beter (Hab. 1,2–4)
Derartige Fragen türmten sich auch vor Habakuk auf. Obwohl dieser Mann ein Prophet war, beginnt sein Buch nicht mit einem „Das Wort des Herrn geschah zu…“ oder mit einem donnernden „So spricht der Herr…“, sondern mit einem Gebet.
Möglicherweise weist bereits die Bedeutung des Namens „Habakuk“ auf seine Berufung zum Beter hin. Seit Luther wird sein Name gern von dem hebräischen Wort „habak“ abgeleitet, das soviel meint wie „umarmen“, „umklammern“ oder „ringen“ (vergleiche zur Verwendung des Wortes: 2Kön. 4,16). Aus dieser Perspektive hat man den Namen Habakuk gedeutet als der mit Gott im Gebet Ringende oder der, der im Gebet Gott umklammert. Andere möchten den Namen eher passiv übersetzen: der, der von Gott umarmt wird. Noch andere allerdings suchen eine völlig andere Ableitung dieses Namens. Doch gleichgültig welche Bedeutung das Wort Habakuk hat, das Erste, das wir von ihm lesen, ist: Habakuk betet.
„Wie lange, o Herr, rufe ich schon, ohne dass du hörst!“ (Hab. 1,2). So abrupt beginnt das Buch. Diese Frage ist natürlich nicht im Sinn einer Bitte zu verstehen, Gott möge den Propheten über die Zeitdauer informieren, die er bereits im Gebet verbracht hat. Vielmehr ist diese Frage eine Klage, und in dieser Klage schwingt Vorwurf gegenüber Gott mit. So als wollte Habakuk sagen: Ich habe bereits so viel gebetet, aber es hat nichts gebracht! Du, Gott, schweigst!
Die Frage des Propheten erinnert an den 13. Psalm. Dort stellt David ähnliche Fragen: „Wie lange, o Herr, willst du mich ganz vergessen? Wie lange verbirgst du dein Angesicht vor mir? Wie lange soll ich Sorgen hegen in meiner Seele, Kummer in meinem Herzen tragen?“
Aber nicht nur die Heiligen in der Bibel, sondern auch heutzutage machen nicht wenige die Erfahrung, dass Gott scheinbar untätig bleibt und angesichts dessen, was um sie herum geschieht, schweigt.
Habakuk nennt die Ereignisse mit Namen: „Ich schreie: Gewalttat“ (Hab. 1,2a). Für Gewalttat steht im Hebräischen das uns aus den Nachrichten bekannte Wort Hamas. Das Wort meint: gewaltsamer Zerbruch der Rechtsordnung. Das, was der Prophet um sich herum wahrnimmt, ist das Terrorregime, das Jojakim und seine Herrscherclique über Jerusalem und Juda ausüben.
„Du lässt mich Bosheit und Unheil sehen“ (Hab. 1,3). Damit weist der Prophet auf die Raubwirtschaft und die Ausbeutung im Gemeinwesen hin. Bereits seit vielen Jahrzehnten hatte sich ein „Wirtschaftssystem“ in Israel breit gemacht, das in Wahrheit auf Korruption und auf kaum getarnter Ausbeutung beruhte. Immer wieder hatten die Propheten dieses betrügerische System angeprangert (Jes. 1,16.17.23; 5,22.23; 10,1.2; Mi. 3,1–4.11; 7,3). Aber unter Jojakim erreichte diese Verderbnis einen erneuten Tiefpunkt. Jojakims Augen und sein Herz waren auf nichts anderes gerichtet als auf Habgier, Unterdrückung, Gewalt und Mord (Jer. 22,17; vergleiche Jer. 5,26–31; 21,12; 22,3).
Habakuk fragt weiter: „Warum lässt du mich Bosheit sehen und schaust dem Unheil zu? Bedrückung und Gewalttat werden vor meinen Augen begangen; es entsteht Streit, und Zank erhebt sich“ (Hab. 1,3). Das Wüten der Jerusalemer Machthaber führte also bei der Bevölkerung keineswegs dazu, dass man sich gegenseitig Hilfe leistete. Angesichts der Ausbeutung von oben kam es keineswegs zu einem solidarischen Verhalten. Vielmehr war das Gegenteil der Fall: Man suchte sich gegenseitig zu übervorteilen und zu betrügen.
Es ist ja keineswegs so, dass Menschen in Zeiten der Unterdrückung automatisch anfangen, sich gegenseitig beizustehen. Häufig tritt gerade in wirtschaftlichen Notzeiten die ganze Ichhaftigkeit des Menschen umso deutlicher ans Tageslicht. Gerade dann geht es nach der Devise: Wenn man schon wenig hat, dann nicht auch noch teilen! Wenn es einem schon selbst schlecht geht und das mühsam Ersparte durch Betrügerei und Inflation geraubt wird, dann soll es wenigstens dem Nächsten nicht besser gehen! Der von oben erfahrene Druck wird an andere, vorzugsweise an Untergebene, weitergeleitet.
Indem Habakuk diese Ungerechtigkeiten wahrnimmt und in Worte fasst, beklagt er nicht die Verletzung seines persönlichen, subjektiven Gerechtigkeitsgefühls. Auch pflegt er damit nicht Ressentiments, etwa im Sinn von: Als ich noch jung war, da war alles besser, da regierte Josia, da herrschten noch Zucht und Ordnung im Land. Sondern das, was Habakuk umtreibt, ist, dass Gott und seine Normen nicht mehr im Gemeinwesen das Sagen haben: „Das Gesetz Gottes, die Torah, wird kraftlos“ (Hab. 1,4a). Das Gesetz Gottes ist durchaus noch vorhanden. Aber faktisch hat es keine Geltung mehr. Es besitzt keine Autorität mehr. Es ist ohnmächtig geworden, erschlafft, gelähmt, paralysiert. Es ist nicht völlig vergessen, aber es ist gleichsam in der untersten Schublade verschwunden, wenn man es nicht, wie Jojakim es tat, dazu verwendet, an einem kühlen Wintertag das Kaminfeuer nicht erlöschen zu lassen (Jer. 36,22–24).
Habakuk stellt weiter fest: „Das Recht bricht nicht mehr durch“ (Hab. 1,4b). Anstatt dass das Recht zum Vorschein kommt, bedrängt der Gesetzlose den Gerechten (Hab. 1,4c). Wörtlich heißt es: Der Gottlose „umzingelt“ den Gerechten. Mit anderen Worten: Auf einen einzigen Gerechten kommt eine ganze Rotte von Ungerechten, die ihn einkreisen und ihm gleichsam die Luft zum Atmen nehmen. Folglich „kommt das Urteil verdreht heraus“ (Hab. 1,4d). Man versuche einmal, in einem gottlosen, durch und durch korrupten Regime, in dem Recht und Gerechtigkeit auf den Kopf gestellt sind, auf ein faires Urteil zu hoffen…
Das war die Lage in Jerusalem wenige Jahre nach der Reformation unter Josia. Das Volk hatte erneut seine Berufung, Gott zu dienen, aufgegeben und sich von Gott abgewandt. Die Gottlosen, von denen Habakuk hier spricht, sind also nicht ausländische Feinde, sondern es sind Angehörige des Bundesvolkes.
Warum schweigt Gott? (Hab. 1,2–4)
Aber nicht eigentlich wegen der Boshaftigkeit und der Niedertracht im Gemeinwesen ist Habakuk so niedergedrückt; sondern was ihn belastet, ist das Schweigen Gottes, seine vermeintliche Tatenlosigkeit: „Du hörst nicht“ (Hab. 1,2a). „Du hilfst nicht“ (Hab. 1,2b). „Du schaust dem Unheil zu“ (Hab. 1,3a).
Was Habakuk umtreibt, ist die Frage: Wenn der allmächtige Gott derartiges Unrecht ungestraft durchgehen lässt, wenn er nicht eingreift, lässt er damit den Frevlern nicht freie Hand? Ja, nimmt er dann sein Recht überhaupt selbst noch ernst?
Bei allem Fragen und Klagen fällt auf, dass der Prophet nicht in den Unglauben verfällt. Er hält sich weiter an Gott. Während heutzutage die Menschen gerne argumentieren, weil Gott der Ungerechtigkeit in dieser Welt freie Bahn lasse, glaube man nicht an ihn, sei man fertig mit ihm, wolle man nichts mehr mit ihm zu tun haben, hält Habakuk sich weiter an Gott. Ihm kommt nicht in den Sinn, die an ihm nagenden Fragen durch eigene Überlegungen oder Gedankenkonstruktionen zu „verarbeiten“ oder seinen Halt durch Meditation in sich selbst zu suchen, sondern Habakuk klammert sich weiterhin an Gott.
Der Prophet ruft zu Jahwe (Hab. 1,2). Das heißt, er wendet sich an den Gott, der seinen Bund mit Abraham, Isaak und Jakob und deren Nachkommen aufgerichtet hat, der dem Mose am Dornbusch erschienen ist und der sein Volk aus der Sklaverei in die Freiheit geführt hat. Von daher wird man sagen können: Es ist gerade das Beten, das den Unterschied ausmacht zwischen demjenigen, der Gott gehört, und dem, der ihm nicht gehört.
Gott antwortet – durch Erweckung (Hab. 1,5–11)
In unserer westlichen Kultur sind wir nicht gerade darin geübt, Zerreißproben auszuhalten. Für alles und jedes haben wir eine Tablette, einen Arzt oder ein Lebenshilfebuch. Von diesem Boden aus liegt es nahe zu vermuten, dass Gott ebenfalls in diesem Sinn handelt, dass er eine Lösung schafft, die aus der Krise herausführt, also die Spannung löst.
Und tatsächlich: Endlich, nach langer Zeit seufzenden Rufens bricht Gott sein Schweigen. Gott antwortet. Wenn der Knecht Gottes befürchtet hat, Gott sei inaktiv, dann erfährt er nun, dass er sich getäuscht hat! Nein, Gott ist nicht tatenlos, er reagiert auf die Klage des Propheten!
Aber das Schockierende ist: Gott handelt ganz anders, als Habakuk es erwartet hat: „Seht euch um unter den Heidenvölkern, und blickt umher, verwundert und entsetzt euch! Denn ich wirke ein Werk in euren Tagen… Ich erwecke die Chaldäer“ (Hab. 1,5.6).
Die Chaldäer, oder wie man sie heute besser kennt, die Babylonier, begegnen uns in der Bibel als das Volk, aus dem Gott einst den Abraham herausrief (1Mos. 11,31). Es war ein götzendienerisches Volk (Jos. 24,14). Auch im Buch Hiob treffen wir die Chaldäer an, und zwar als Räuber und Zerstörer alles dessen, was Hiob besaß (Hi. 1,17).
Wenn man nun vielleicht die Hoffnung hegt, die Chaldäer hätten sich inzwischen geändert, wird man durch das, was in den folgenden Versen über sie ausgesagt ist, eines anderen belehrt: „Es ist ein bitterböses und ungestümes Volk. Es durchzieht die Weiten mit einem einzigen Ziel, um zu erobern, um Wohnsitze in Besitz zu nehmen, die ihm nicht gehören“ (Hab. 1,6). Mit anderen Worten: Gott kündigt an, dass die Babylonier zu einem groß angelegten Eroberungszug aufbrechen und die Heimat der jeweiligen Völker rücksichtslos mit Krieg überziehen und erobern werden.
Wenn es über dieses schreckliche und Furcht erregende Volk gleich darauf heißt, „sein Recht und sein Ansehen gehen von ihm selbst aus“ (Hab. 1,7), dann will die Heilige Schrift damit nicht auf eine besondere Qualität dieses Volkes aufmerksam machen, sondern sie weist auf die brutale Rücksichtslosigkeit dieser Leute hin. Selbstherrlich werden die Chaldäer festlegen, was als Recht zu gelten habe. Denn „Recht“ ist ihnen gleichbedeutend mit willkürlicher Gewaltausübung.
Das babylonische Heer wird in seinem Heranrücken nicht nur durch nichts und niemanden aufgehalten werden können, sondern die Truppen werden blitzschnell vor den eigenen Grenzen stehen: „Schneller als Leoparden sind seine Rosse … sie fliegen herbei wie ein Adler“ (Hab. 1,8). Vielleicht mochten einige in Juda denken, die Babylonier seien weit weg, sie befänden sich außerhalb ihrer Reichweite. Aber obwohl sie von fernher kommen werden, wird der räumliche Abstand für sie kein Hindernis darstellen. Tatsächlich verfügten die Babylonier im Unterschied zum Volk Gottes und auch zu anderen Völkern des Nahen Ostens über eine Kavallerie (vergleiche dazu: Jer. 4,13; 6,22.23).
Mit ihren in die Gefangenschaft Geführten werden die Babylonier so umgehen, wie man normalerweise Kehricht, zum Beispiel Sand, zusammenfegt (Hab. 1,9). Wer es wagt, sich ihnen in den Weg zu stellen, seien es Könige oder Festungen, wird mit ihrem Hohn und Spott rechnen müssen (Hab. 1,10). Kurzum: Ihre eigene Stärke gilt ihnen als ihr Gott (Hab. 1,11).
Die Babylonier kommen
Um ein wenig zu verstehen, was Gott dem Habakuk über das Anrücken der Chaldäer enthüllt, ist es sinnvoll, sich kurz die historische Konstellation zu vergegenwärtigen.
Seit dem achten vorchristlichen Jahrhundert und weit hinein in das siebte Jahrhundert waren die Assyrer die unangefochtene Großmacht im Vorderen Orient. Sie hatten nicht nur die Stämme des Nordreichs (Israel) verschleppt, sondern auch andere Völker umgesiedelt, unter anderem auch die Chaldäer (Jes. 23,13).
Als sich allerdings der babylonische Fürst Nabopolassar (625–604) gegen das assyrischen Joch erhob, waren die Tage Assurs gezählt. Mit Unterstützung der Meder und der Skythen eroberte er Ninive, die Hauptstadt des assyrischen Reiches (612). (Siehe dazu das ganze Buch Nahum, in dem der Prophet diese Eroberung weissagt und als Gerichtshandeln Gottes bezeugt.)
Da es allerdings dem assyrischen König gelang, aus Ninive zu entkommen und sich nach Haran abzusetzen, um von dort ein neues assyrisches Reich aufzurichten, waren die babylonischen Truppen durch die Verfolgung der Assyrer für die nächsten Jahre gebunden.
In dieser Zeit machte sich Pharao Necho II. auf, um dem assyrischen König gegen die Babylonier zu Hilfe zu kommen.2 Der bereits erwähnte jüdische König Josia, der angesichts der Ereignisse in Mesopotamien eine Chance erblickte, das assyrische Joch abzuschütteln, stellte sich dem ägyptischen Herrscher entgegen, um ihn daran zu hindern, mit den Assyrern gemeinsame Sache zu machen. Im Tal Megiddo kam es zur Schlacht, in der allerdings das Heer des Königs Josia besiegt und er selbst tödlich verwundet wurde (2Kön. 23,29.30; 2Chr. 35,20–25).
Schließlich kam es zwischen einerseits den Assyrern zusammen mit den Ägyptern und andererseits den Babyloniern bei Karchemis, einer Stadt am Euphrat, zur Entscheidungsschlacht (605). Aus ihr ging der junge babylonische (zu jener Zeit noch Kronprinz) Nebukadnezar II. (605–562) siegreich hervor. (Vergleiche dazu Jer. 46).
Damit lösten die Babylonier die Assyrer als Weltmacht ab, zumal Nebukadnezar sich bald dazu entschloss, den fliehenden Pharao bis an die Grenze Ägyptens zu verfolgen und ihm seine Kolonien abzujagen (2Kön. 24,7). Im Zuge dieses Siegeslaufs überrannte Nebukadnezar auch das Königreich Juda. Die Verse in Habakuk 1,6–11 prophezeien diesen Feldzug.
Seht euch um!
Die Antwort Gottes an Habakuk erfolgt im Plural: „Seht euch um, schaut umher, verwundert und entsetzt euch!“ (Hab. 1,5a). Gott gibt seinem Propheten hier also nicht eine Privatoffenbarung, sondern das, was er ihm offenbart, soll er weitertragen. Dabei fügt Gott gleich hinzu, welche Reaktion die Botschaft, dass die Chaldäer heranrücken werden, hervorrufen wird: Schaudern und Entsetzen.
Gott verheißt: „Ich wirke ein Werk in euren Tagen“ (Hab. 1,5b). Auch wenn im Hebräischen an dieser Stelle die Passivform verwendet ist, so dass das Wort Gottes in einer eher verhüllten Weise zum Ausdruck bringt, dass Gott es ist, der handelt, ist es unstrittig, dass niemand anders als Gott selbst hier der Handelnde ist. Es heißt auch nicht, Gott werde den Babyloniern diesen Kriegszug erlauben, oder Gott lasse diesen Eroberungszug zu. Vielmehr macht das Wort Gottes unmissverständlich klar: Es ist niemand anders als Gott selbst, der die Geschichte schafft und kontrolliert. Auch nicht nur das, was geschieht, steht unter der Lenkung des allmächtigen Gottes, sondern Gott bestimmt auch, wann es geschieht. Sein Zeitplan lautet: „in euren Tagen“ (Hab. 1,5).
Dieser Vers aus dem Propheten Habakuk wird im Neuen Testament zitiert: „Seht, ihr Verächter, und verwundert euch und werdet zunichte, denn ich tue ein Werk in euren Tagen, ein Werk, dem ihr nicht glauben würdet, wenn es euch jemand erzählte!“ (Apg. 13,41). Hier wird ausdrücklich hervorgehoben, dass Gott der Handelnde ist: Ich, so sagt Gott, wirke.
Mit diesem warnenden Wort beschloss der Apostel Paulus seine Predigt in der Synagoge des kleinasiatischen Antiochien. Nachdem er den Juden den Heilsweg Gottes mit seinem alttestamentlichen Volk in Erinnerung gerufen, ihnen deren Erfüllung in Jesus Christus aufgezeigt (Apg. 13,17–37) und ihnen schließlich den Weg zur Rettung verkündet hatte, der allein in der Rechtfertigung mittels des Glaubens besteht (Apg. 13,38.39), führte der Apostel diesen Vers aus dem Propheten Habakuk als Warnung an. Die jüdischen Hörer sollen das Wort Gottes nicht „verachten„, sondern umkehren. Andernfalls werde Gott wiederum unter ihnen ein furchtbares Gericht bewirken.
Tatsächlich erfolgte dieses Gericht dann auch. Zunächst bestand es darin, dass Paulus sich zu den Nationen hinwandte (Apg. 13,45.46), und dann zeigte es sich wenige Jahrzehnte später im so genannten Jüdischen Krieg, als die Römer mit Zehntausenden von Juden kurzen Prozess machten.
„…unglaublich…“
Als Habakuk vor Gott die Klage vorbrachte, wie lange, Herr, habe ich gerufen, da wünschte der bedrückte Prophet gewiss nichts sehnlicher, als dass Gott eine Änderung hin zum Positiven schaffen werde. Vermutlich hätte er die Beseitigung des Jerusalemer Regimes zugunsten eines gerechten und gottesfürchtigen Herrschers begrüßt. Möglicherweise erhoffte er sogar eine Fortsetzung der unter Josia begonnenen Reformation.
Was den Propheten erstarren ließ, war darum nicht die Ankündigung, dass Gott handeln werde, sondern es war die Weise, wie Gott es zu tun beabsichtigte: Wenn Gott ausgerechnet die Chaldäer als Gerichtswerkzeug einsetzt, bekämpft er dann nicht die Gottlosigkeit im Volk Gottes mit einem noch größeren Unheil? Dass sein gesetzloses Volk gezüchtigt werden müsste, hätte Habakuk vermutlich akzeptiert. Aber warum „erweckte“ Gott dazu ein noch gesetzloseres Volk? Der König Jojakim hatte aus seiner Kindheit wenigstens noch eine Ahnung von dem Gott Israels und dem Gesetz Gottes, aber bei den Babyloniern konnte man nichts Derartiges erwarten. Wieso wird Gott gegen das durch Jojakim bereits so furchtbar gebeutelte Volk nun noch schrecklichere Unterdrücker und noch grausamere Tyrannen heranführen? Unbestritten war das öffentliche Leben in Jerusalem zutiefst vergiftet, die Stadt war mit Blut gefüllt. Aber warum ersetzte Gott der Herr die eine Katastrophe in der Geschichte des Volkes Gottes durch eine noch entsetzlichere? Spielte Gott hier nicht ein grausames Spiel mit seinem niedergedrückten Propheten? Wäre es da nicht besser, wenn Gott zum Gebet Habakuks weiter geschwiegen hätte, anstatt in dieser Weise zu antworten? Dass ausgerechnet die Babylonier kommen, war gewiss das Letzte, was Habakuk wollte. Es war eine im wahrsten Sinn des Wortes unglaubliche Botschaft: „Ihr werdet es nicht glauben“ (Hab. 1,5).
Wenn man den Eindruck hat, ‚schlimmer geht’s nimmer‘, dann hatte Habakuk nun zur Kenntnis zu nehmen: Es wird noch viel schlimmer kommen. Habakuk, der es bereits nicht begreifen konnte, warum angesichts der Gottfeindschaft in seinem Volk Gott bisher geschwiegen hatte, bekommt nun zu hören, dass Gott sein Volk durch brutale Heiden ausbluten lassen werde. Wie kann Gott das tun? Wer kann da noch die Fassung bewahren?
Da geht jemand jahrelang durch eine Last gebückt. Er fleht beharrlich zu Gott. Er bittet Gott um Änderung, und es wird nur noch schlimmer. Wieso?
In unserer eigenen privaten Lebensgeschichte mögen wir ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Aber nicht nur dort, auch in der großen Geschichte scheint es vielfach so zu laufen. Hitler hatte Europa mit Krieg überzogen. Als er endlich beseitigt war, übernahm Stalin die Herrschaft über Osteuropa. Wo war da der Gewinn?
Vor etlichen Jahrzehnten wurde in den Höhlen von Qumran unter anderem eine Schriftrolle mit einem Kommentar zum Propheten Habakuk gefunden. Dort wird ebenfalls auf die Rätselhaftigkeit der Geschichte hingewiesen: Die Chaldäer lösten lediglich die Assyrer als Großmacht ab, jene wurden von den Persern abgelöst, und deren Position nahm Alexander der Große mit seinem Heer ein… Was soll das bringen?
„Du bist mein Gott, mein Heiliger“ (Hab. 1,12)
Die Last, die Habakuk aufgebürdet wurde, war also zweifach: Zum einen war es das Schweigen Gottes und danach sein unglaubliches Handeln. Als „lieber“ Gott hatte Gott sich dem Habakuk wahrlich nicht gezeigt.
Und trotzdem: Habakuk wandte sich erneut im Gebet an Gott: „Du bist, o Herr, von Urzeiten her mein Gott, mein Heiliger“ (Hab. 1,12). Eigentlich formuliert Habakuk diese Aussage sogar als Frage. Auf diese Weise „erinnert“ er in inständiger Weise Gott an dessen Heiligkeit. Das wird noch deutlicher im gleich darauf folgenden Bekenntnis: „Deine Augen sind so rein, dass sie das Böse nicht ansehen können…“ (Hab. 1,13).
Wir wollen über diese Aussage im nächsten Habakuk–Artikel genauer nachdenken. Hier sei lediglich auf folgendes hingewiesen: Habakuk betet nicht: Du bist der Gott, du bist der Heilige, sondern er sagt: „Du bist mein Gott, mein Heiliger“.
Zwei Dinge werden darin deutlich: Zum einen: Gott ist und bleibt der in seiner Heiligkeit Unantastbare. Zum anderen: Gerade in seinem Gottsein und in seiner Heiligkeit geht Gott mit uns hindurch durch den Sumpf der Weltgeschichte und durch den Morast unseres Lebens, bei dem wir oft selbst nicht mehr durchblicken. Gerade dann zeigt er sich als mein Gott, mein Heiliger!
Es ist also nicht so, dass Gott wegen seines Gottseins und wegen seiner Heiligkeit mit unserem Elend nichts zu tun haben will. Das Gegenteil ist der Fall. Durch die uns von ihm auferlegte Not und Drangsal geht Gott mit uns hindurch. Es kann sein, dass auch wir nichts von den Wegen Gottes begreifen, dass uns Gottes Handeln unglaublich vorkommt und wir nur noch niedergeschmettert am Boden liegen. Gerade da ist es gut zu wissen, dass diese unglaublichen Wege mein Gott, mein Heiliger mit mir geht. Mehr noch: Es ist gerade seine Heiligkeit, die Gott dazu antreibt, dass er durch den Schlick unseres Lebens seine Wege mit uns geht.
Fortsetzung folgt
1) Die folgende Artikelreihe geht auf Predigten zurück, die im Februar und März 2008 in der Bekennenden evangelisch–reformierten Gemeinde in Gießen gehalten wurden. Sie können heruntergeladen werden unter:
http://www.berg–giessen.de/predigtarchiv. Für diese Artikelreihe sind die gehaltenen Predigten überarbeitet und zum Teil erweitert worden.
2) In vielen Übersetzungen (zum Beispiel in Schlachter 2000) liest man in 2Kön 23,29, Necho sei „gegen“ den König Assyrien gezogen. Aber im Hebräischen steht: „zu“ dem König. Necho marschierte zu dem assyrischen König, um sich mit ihm gegen den babylonischen König zu verbünden. Siehe auch 2Chr. 35,20.21.