Wortverkündigung zu Jesaja 9,1–6
Einleitung
Der Abschnitt, unter den wir uns stellen, gehört zu den bekanntesten im Buch Jesaja, wenn nicht sogar im ganzen Alten Testament. Vorzugsweise kommt er in der Advents– und Weihnachtszeit zu Ehren.
Aber wir sollten nicht nur die bekannten Verse in Kapitel 9 zur Kenntnis nehmen, sondern bereits in Kapitel 8 ab Vers 18 anfangen zu lesen.
Denn gerade bei relativ bekannten Abschnitten ist es wichtig, auf den Zusammenhang zu achten, in dem sie stehen.
Im Buch Jesaja begegnen uns des Öfteren recht abrupte Übergänge, bei denen wir uns fragen, wie sie zu verstehen sind. Der Grund für diese scheinbaren Brüche ist, dass Jesajas Prophetien sozusagen „zweispurig“ verlaufen. Durch die ganze Verkündigung des Propheten Jesaja ziehen sich zwei Linien, vergleichbar mit zwei Gleisen einer Eisenbahnstrecke. Es ist einerseits Gericht und andererseits Erlösung. Diese beiden Botschaften lassen sich nicht voneinander trennen. Sie verlaufen parallel.
So stehen auch die letzten Verse in Jesaja 8 in einem Kontrast zu der in Jesaja 9 befreienden, geradezu jubelnden Prophetie über das Kind, das geboren wird.
Was am Ende des 8. Kapitels zu lesen ist, ist alles andere als ein Grund zum Jubeln. Da ist die Rede von erdrückender Finsternis. Es ist eine Finsternis, die das Volk Gottes von allen Seiten umgibt, sowohl von außen als auch von innen. Das Land Juda mit der Hauptstadt Jerusalem befindet sich im militärischen Würgegriff des Nordreiches (Israel) sowie Syriens. Die erhoffte Hilfe aus Assyrien lässt nicht nur auf sich warten, sondern der vermeintlich große Bundesgenosse entpuppt sich immer mehr als Bedrohung, nicht zuletzt für Juda selbst.
Eine große Krise hat das Land und das Volk Juda erfasst und damit – das haben wir stets mit zu bedenken – die Gemeinde Gottes. Denn die alttestamentliche Nation Israel, die inzwischen auf Juda zusammengeschrumpft war, war eben nicht irgendeine Nation unter vielen, sondern sie war die damalige Kirche. Sie war die institutionalisierte Gemeinde Gottes. Diese Gemeinde befand sich in großer Not! Und an wen wandte sich das Volk Gottes in seiner Not? Wir lesen das Unglaubliche in Jesaja 8,19. Man wandte sich an Totenbeschwörer und Wahrsager. Die Zuflucht für die Gemeinde war der Okkultismus! Von dort erhoffte sie sich Hilfe und Rettung. Folglich wird den Menschen die rhetorische Frage gestellt: „Soll nicht ein Volk seinen Gott befragen, oder soll man die Toten für die Lebendigen befragen?“ (Jes. 8,19)
Die Finsternis, die Juda umgab und ganz und gar einhüllte, war also nicht nur äußerlich. Das Volk war nicht nur von feindlichen Nationen und Armeen umringt. Sondern die Finsternis griff tief in das Volk Gottes hinein. Sie war in jedem Einzelnen ganz tief drinnen. Es war der Frevel, Gott und seine Majestät zu verachten, ihn zur Seite zu schieben, ihn nicht als Gott anzuerkennen, ihm nicht zu vertrauen, sondern stattdessen Zuflucht bei allem Möglichen zu nehmen, sogar in der Welt der Dämonen.
Aber Gott lässt nicht mit sich spotten. Man kann ihn nicht einfach aus seinem Leben herausschieben und meinen, nun sei man Gott los und habe nichts mehr mit ihm und seiner Wahrheit zu schaffen. Vielmehr sind die Konsequenzen katastrophal. Wer Gott den Rücken zuwendet, wer nicht dem Ruf folgt „Zum Gesetz und zum Zeugnis“, für den gibt es kein „Morgenrot“ (Jes. 8,20).
So tritt zu der Finsternis der äußerlichen Feinde und zu der Finsternis der innewohnenden Sünde noch eine dritte, eine viel schwärzere Finsternis hinzu, Gottes Zorn: „Wenn sie sich dann nach oben wenden oder auf die Erde sehen, siehe, so ist da Drangsal und Finsternis, beängstigendes Dunkel, und in dichte Finsternis wird es [das heißt: das Volk] verstoßen“ (Jes. 8,21.22).
Das ist der entsetzlich erschreckende Hintergrund für die Worte, die nun folgen. Bis dahin hatte Jesaja über die Gegenwart gesprochen. Seine Prophetie zeichnet das Bild des gegenwärtigen, erbärmlichen Zustandes des Volkes Gottes in Juda und Jerusalem.
Aber dann richtet er seinen Blick über die engen Grenzen des Landes und auch über die Grenzen der gegenwärtigen Zeit hinaus und sieht – wie immer in Form einer Vision – etwas völlig anderes, etwas, das gegensätzlicher gar nicht sein kann. Der Prophet sieht statt Finsternis Licht, er schaut statt Angst und Verzweiflung Freude und Jubel, und er erblickt den Grund dafür. Ich verrate nicht zu viel, wenn ich jetzt schon vorwegnehme, dass der Grund dafür kein anderer ist als Jesus Christus.
Jesaja erblickt Christus, der in diese schreckliche, schwarze Finsternis hineinscheint, der mit großer Herrlichkeit ausgestattet ist und der dem Volk Anlass zu großer Freude gibt. Das Thema der Predigt lautet darum: „Christus, das herrliche Licht in der Finsternis“.
Die Wortverkündigung gliedert sich in die folgenden drei Abschnitte:
1. Das Licht kommt von ferne.
2. Das Licht lässt das Volk jubeln.
3. Das Licht ist Christus.
Das Licht kommt von ferne
Jesaja hatte von dem Morgenrot gesprochen, das diejenigen sehen werden, die den Weg zurück „zum Gesetz und zum Zeugnis“ gehen, die also umkehren zu Gottes Wort und sich wieder an seine Verheißungen klammern. Dieses Morgenrot und das, was darauf folgt, sieht Jesaja nun: Ein großes Licht geht über dem Land auf.
Es ist interessant, dass der Heilige Geist den Propheten Jesaja dieses Licht nicht zuerst über Jerusalem erblicken lässt, oder wenigstens im Umland Jerusalems, also in Juda. Immerhin war das das Gebiet, auf das das Reich Davids in jener Zeit zusammengeschrumpft war. Dort hatte die Finsternis um sich gegriffen, von der eben die Rede war. Aber nein, welches Land wird zuerst erwähnt? Es ist das Land der Stämme Sebulon und Naphtali. Es ist die Gegend im äußersten Norden des Nordreiches, also im gegenwärtigen „Feindesland“! Noch verwunderlicher: Das Land „jenseits des Jordan, das Gebiet der Heiden“ soll zu Ehren kommen!
Ist das nicht eine gewaltige Demütigung für Juda? Wieder wird das Wort von der Erlösung mit einem Wort des Gerichts verbunden. Juda, Volk Gottes, wenn du glaubst, dass du irgendetwas Heilsames hervorbringen kannst, dass die Erlösung in irgendeiner Weise von dir abhängen wird, dass du irgendeinen Beitrag leisten wirst, dann irrst du dich sehr!
Eine solch beschämende Ansprache an Juda findet sich in ähnlicher Weise in Jesaja 7,14. Dort kündigte der Prophet die Jungfrauengeburt an. Im Grunde hörte man hier die gleiche Botschaft: Ihr kraftlosen Könige von Juda, die ihr euch rühmt, auf dem Thron Davids zu sitzen, ihr seid nicht nur weltliche Wracks, sondern vor allem geistliche Wracks! Eure Sünde macht euch geistlich unfruchtbar! Darum nehmt dies zur Kenntnis: Den Erlöser, den ich meinem Volk verheiße, werdet ihr nicht durch Manneskraft hervorbringen. Vielmehr wird eine Jungfrau schwanger werden und den Immanuel zur Welt bringen!
So kommt auch hier das Licht, das Heil für Juda nicht aus Juda selbst, sondern von außen. Es nimmt seinen Anfang im Norden, im Land Sebulon und Naphtali – oder, wie wir diese Gegend in neutestamentlicher Begrifflichkeit bezeichnen: in Galiläa!
Dieses Galiläa lag zu jener Zeit mindestens genauso in Finsternis wie Juda. Dort war die Finsternis sogar noch dichter: Denn Assyrien war bereits eingefallen. Die Feinde wüteten im Land. Das furchtbare Gericht Gottes war dort vollstreckt. Galiläa war genau wie Juda ein Land der Todesschatten (vgl. Jes. 9,1).
Aber über diesem Land der Todesschatten geht ein Licht auf. Nicht irgendeine Funzel, sondern ein „großes Licht“. Wer nun meint, damit sei die Sonne gemeint, gerät in ziemliche Erklärungsnot. Denn über dem belagerten, bedrückten, leidgeprüften Land geht jeden Morgen die Sonne auf. Nur ist gerade der Tagesanbruch kein Anlass zum Jubel. Denn das Licht der Sonne macht das Ausmaß der Katastrophe nur sichtbar. Nein, dieses Licht ist etwas ganz Anderes. Es bewirkt große Freude! Freude wie nach einer guten Ernte. Aber auch daran war angesichts der geschilderten Umstände nicht zu denken. Mehr noch: Es wird Freude herrschen wie nach einem Sieg, wenn man die Beute verteilt (vgl. Jes. 9,2). In Anbetracht der damaligen Lage war nichts wirklichkeitsferner. Das Volk wird jubeln, wie Sieger jubeln? Wie kann das sein?
Das Licht lässt das Volk jubeln
Der Grund für diese Freude wird uns in den folgenden Versen genannt. Wenn wir genau hinsehen, erblicken wir dreimal das Wort „denn“. Es wird also eine Kette von Gründen aufgeführt, die aufeinander aufbauen. Schauen wir uns das genauer an. Zunächst Vers 3: „Denn du hast das Joch zerbrochen, das auf ihm lastete, den Stab auf seiner Schulter, und hast den Stecken seines Treibers zerbrochen wie am Tag Midians.“
Das ist der unmittelbare Grund der Freude. Die Bedrückung, die auf dem Land und dem Volk liegt, wird beseitigt. Das Joch der Besatzer, Assyriens Macht, wird zerbrochen. Zwar wird das noch eine Weile dauern, aber der Prophet kündigt es wenige Kapitel später sehr konkret an: „Ich will den Assyrer zerschmettern in meinem Land, und ich will ihn zertreten auf meinen Bergen; so wird sein Joch von ihnen genommen werden und seine Last von ihren Schultern fallen“ (Jes. 14,25). Wenn das kein Grund zum Jubeln ist! Die große Streitmacht der Assyrer wird untergehen, wie vormals zur Zeit Gideons die der Midianiter.
Aber fixieren wir uns nicht auf die Befreiung von den Assyrern. Es geht um mehr. Wir hatten vorhin gesehen, dass die fremden Mächte und Armeen nur einer von vielen Gründen für die große Finsternis im Land waren. Sie waren ein Instrument, durch das ein anderes Joch sichtbar wurde, nämlich das Joch der Sünde. Und dieses Joch, unter dem das Volk und übrigens auch die ganze Menschheit von Natur aus liegt, das sie zu Boden drückt und unerbittlich in den bodenlosen Abgrund hineinzieht – das wird zerbrochen!
Das Wort Gottes weiß: Menschen wie die Assyrer kommen und gehen. Ein irdischer Frieden ist immer brüchig und von kurzer Dauer. Wenn Assyrien am Boden liegt, steht Babylon auf. Ist Babylon am Ende, kommen die Perser, danach die Griechen. Sind die Griechen verschwunden, breiten sich die Römer aus.
Aber wenn die Sünde besiegt ist, die uns von Gott getrennt hat, die uns unter seinem Zorn festgehalten hat, dann kommt nichts nach. Dann herrscht Frieden, und zwar für immer. Dann kann niemand mehr, wie zuvor, mit dem Finger auf uns zeigen und uns vor Gott verklagen. Denn das war eine Spezialität, die dem Satan seinen Namen gegeben hat: „Verkläger“! (Offb. 12,10) Er konnte vor Gott treten und das Volk Gottes wegen dessen Sünde anklagen und verächtlich machen, und das völlig zu Recht! Was hätten wir schon zu unserer Verteidigung vorbringen können? Nichts, überhaupt nichts! Vielleicht hätten wir auf Gottes Erbarmen hoffen können. Aber selbst das Erbarmen Gottes hebt seine Gerechtigkeit nicht auf. Seine Liebe zu seinem Volk, seine Gnade für sein Volk hat einen anderen Grund. Und der besteht darin, dass die Anklage gegen sein sündiges Volk gegenstandslos geworden ist, weil nämlich die Macht der Sünde gebrochen ist. Das ist die wirkliche Erlösung, die Jesaja hier prophetisch ankündigt. Der neue Frieden mit Gott lässt das Volk Gottes jubeln.
Wie aber kommt dieser Friede zustande? Wie wird diese Macht, die die Sünde über uns besitzt und die der Satan sich zunutze macht, um uns vor Gott zu verklagen, gebrochen? Lesen wir Vers 4: „Denn jeder Stiefel derer, die gestiefelt einherstapfen im Schlachtgetümmel, und jeder Mantel, der durchs Blut geschleift wurde, wird verbrannt und vom Feuer verzehrt.“
Vordergründig wird hier erneut der unmittelbare militärische Aspekt beleuchtet. Die Kriegsausrüstung der Feinde wird zerstört, vollständig vernichtet. Das bedeutet, dass Gegner waffenlos und damit ungeschützt dastehen und leicht besiegbar sind.
So ist es auch im geistlichen Bereich: Die Macht der Sünde wird vollständig gebrochen, der Satan wird entwaffnet, der Anklagegrund wird weggenommen. Und wodurch wird das bewerkstelligt? Indem für unsere Sündenschuld vollständig bezahlt wird. Für jede einzelne Sünde in unserem Leben wird vor dem gerechten Gott vollständige Bezahlung geleistet werden.
Wie diese Bezahlung aussieht, formuliert der Heidelberger Katechismus in Sonntag 4, Frage/Antwort 11 folgendermaßen: „Gottes Gerechtigkeit erfordert, dass die Sünde, die gegen die allerhöchste Majestät Gottes begangen worden ist, mit der höchsten, nämlich der ewigen Strafe an Leib und Seele bestraft wird.“
Ewige Strafe an Leib und Seele! Das heißt mit anderen Worten: Hölle! Das ist es, was Gott in seiner Gerechtigkeit an Genugtuung von jedem Einzelnen von uns fordert. Was für eine schreckliche Erkenntnis ist das! Machen wir uns das wenigstens einmal für einen kurzen Augenblick klar: Jeder Mensch, auch jeder von uns, hat von Natur aus vor Gott nur ein einziges Recht, nämlich in die Hölle geworfen zu werden. Wer meldet sich freiwillig? Wer will und kann diese Strafe tragen?
Christus ist das Licht
Und doch geschieht genau das. Da ist jemand, der diese Strafe trägt, der für meine Sünde bezahlt, vollständig. Gottes Gerechtigkeit wird Genüge getan, und das Volk jubelt. Denn die letzte Ursache für alles finden wir in dem zentralen Vers 5: „Denn ein Kind ist uns geboren, ein Sohn ist uns gegeben …“
Das ist die letztliche Ursache für alles, was wir vorher in diesem Abschnitt lesen. Ohne diesen Sohn wird weder der Satan entwaffnet, noch die Macht der Sünde gebrochen, noch der Frieden zwischen Gott und seinem Volk hergestellt. Doch genau darum geht es. Die Attribute, die diesem Kind beigegeben werden, unterstreichen das.
Es geht hier nicht um jemanden, der lediglich die Assyrer besiegt und so einen kurzen äußerlichen Frieden bewerkstelligt. Manche Ausleger haben spekuliert, dass mit dem hier verheißenen Kind möglicherweise der künftige König Hiskia gemeint sei, also der Sohn des damals regierenden Ahas. Aber niemand wird ernsthaft behaupten wollen, dass man Hiskia oder irgendeinen anderen Monarchen oder Feldherrn jener Zeit als „Wunderbarer, Ratgeber, starker Gott, Ewig-Vater, Friedefürst“ titulieren kann. Das käme einer Blasphemie gleich. Nein, hier kann nur einer gemeint sein: Jesus Christus!
So wie er bereits in Kapitel 7 angekündigt wurde als „Immanuel“ – Gott mit uns –, so wird er jetzt als „das große Licht“ beschrieben, das über dem Volk aufleuchtet, welches im Land der Todesschatten gefangen ist; das Licht, das die Schatten vertreibt und Freude und Jubel bringt.
Achten wir genau darauf, wie der Heilige Geist Jesaja hier reden lässt: „Ein Kind ist uns geboren, ein Sohn ist uns gegeben“. Jesaja ist am Wort. Wenn er von „uns“ spricht, meint er sich selbst und die Seinen, also alle, mit denen er sich verbunden weiß in dem gemeinsamen Festhalten an den Verheißungen Gottes. Es ist der Überrest, von dem der Prophet häufig spricht (siehe zum Beispiel: Jes. 1,9; 10,20-22; 46,3). Dieser Überrest ist angesichts des furchtbaren geistlichen Zustandes im Land kaum noch sichtbar. Er droht in einem Meer von Weltlichkeit, Götzendienst und Okkultismus unterzugehen. Aber er nimmt seine Zuflucht auf dem geistlichen Berg Zion, bei Gott und seinem Wort. Dieser Überrest sieht mit Freuden die Ankunft des Heilands. Sie sehen ihn von ferne herannahen, ihn und sein Heilswerk mit ihm.
In Galiläa beginnt es. Von dort, aus den finsteren nördlichen Grenzdistrikten, kommt er heran und nimmt seinen Weg durch ganz Israel, durch Samaria und Judäa bis nach Jerusalem – bis auf den Hügel Golgatha. Dort am Kreuz erweist sich Jesus Christus als der Erlöser, indem er in eigener Person stellvertretend für die Sünde seines Volkes Genugtuung leistet, in den Tod geht und diesen überwindet und so einen ewigen Sieg erringt. Das sieht Jesaja, und das sehen alle, die mit ihm an den Verheißungen Gottes festhalten, damals und auch heute. Dieser Jesus ist nicht irgendein Erlöser für eine unbestimmte Zahl Menschen, sondern er ist ganz konkret unser Erlöser. Er ist der Heiland für das erwählte Volk Gottes, und das Volk Gottes ergreift seinen Heiland damals wie heute durch Glauben.
Aber diese Formulierung, dass „uns“ dieser Heiland geboren ist, bedeutet noch mehr. Sie beschreibt nicht nur den Wirkungskreis des Heilswerks, sondern auch dessen Grundlage. Dass der Sohn Gottes „uns“ geboren ist, heißt, dass er wahrer Mensch geworden ist. Er ist auf wunderbare Weise in das Volk Gottes hineingeboren worden, mit menschlicher Natur versehen. Nur deshalb war es, rechtlich gesprochen, überhaupt möglich, dass er als unser Stellvertreter unsere Sünde tragen konnte. Denn nur deshalb galt und gilt er als einer von uns.
Jesus Christus ist uns geboren. Aber zugleich ist er uns auch gegeben. Vordergründig gilt das für alle Kinder. Denn alle Kinder sind eine Gabe Gottes, sie sind uns von Gott „gegeben“.
Aber das ist hier nicht gemeint. Dieser Jesus ist in besonderer Weise „gegeben“. Er ist Gottes eigener Sohn, und Gott der Vater hat diesen, seinen Sohn für uns dahingegeben. Er hat den Sohn aus der himmlischen Erhabenheit hinab gesandt in unser Elend, hat ihm all unsere Schuld aufgebürdet, hat ihn unter seinem Zorn gedemütigt und erniedrigt und schließlich am Kreuz sogar verstoßen. So hat uns Gott seinen Sohn als Retter gegeben, und nur, weil er Gottes Sohn war, konnte er Gottes Zorn tragen und überhaupt unser Heiland sein. Die menschliche und die göttliche Natur treffen in Christus und seinem Heilswerk zusammen und bilden die Grundlage für sein Heilswerk.
Darum sind die Namen und die Titel, die ihm in unserem Abschnitt gegeben werden, so wichtig. Christus ist wahrhaftig ein „Wunderbarer“. Sein Wesen bleibt ein Mysterium, und die Liebe, die Gott uns in seinem Sohn zeigt, werden wir nie vollständig begreifen können. Das bleibt etwas, das unser Fassungsvermögen übersteigt, eben etwas Wunderbares. Er ist aber nicht nur Wunderbarer, sondern auch „Ratgeber“. In ihm offenbart Gott sich uns vollkommen. Alles, was wir von Gott wissen müssen, erkennen wir in ihm, dem fleischgewordenen Wort, und in dem, was er für uns tut. Deshalb wird er auch zu Recht „starker Gott“ und „Ewig-Vater“ genannt. Er ist vollkommener Gott, gleichen Wesens mit dem Vater, und das über alle Grenzen der Zeit hinaus.
Doch so langatmig brauchen wir es gar nicht zu machen. Denn letztlich erfüllen sich alle diese Ehrentitel, die im Alten Testament prophetisch verliehen sind, in dem einen Namen, mit dem der Erlöser dann tatsächlich genannt worden ist, nämlich „Jesus“: der Herr ist Rettung.
Damit kommen wir noch einmal auf den Anfang zurück und denken an all die Wege und Mittel, die Juda gesucht hatte, um sich aus seinem Elend zu befreien. In welchen Abgründen stocherte das Volk herum! Aber seht doch, hier ist die Rettung: in dem Herrn Jesus Christus! Er allein verschafft uns Frieden mit Gott! Nicht einen weltlichen, wackeligen Frieden, sondern den Frieden, „der allen Verstand übersteigt“ (Phil. 4,7). Er sitzt jetzt schon auf dem Thron Davids (Apg. 2,30-36). Das heißt, er regiert in seinem Friedensreich als unser Haupt, als unser Friedefürst. Und seine Herrschaft wird kein Ende haben, weder räumlich noch zeitlich. Alle Welt wird ihm zu Füßen liegen, und seine Herrschaft wird niemals enden.
Können wir uns vorstellen, was diese Verkündigung damals für die Tochter Zion bedeutete? In der bedrückenden Kriegssituation, in der gottlosen Umgebung, in allen äußerlichen und innerlichen Anfeindungen? Es war ein großes Wort, ein gewaltiger Trost. Dabei war das für sie ja noch ferne Zukunft. Und doch war dieses Wort, durch den Mund Jesajas gesprochen, das Einzige, an dem sie sich festhalten konnten. Und das taten sie. Auch wenn noch viele Jahrhunderte ins Land gehen sollten, viele Jahrhunderte in Finsternis, in denen das Land völlig verwüstet wurde, die Menschen weit weggeführt wurden, in denen das Volk Gottes immer mehr zusammenschrumpfte, bis nur noch ein winziger Überrest übrig blieb: Sie harrten auf das Morgenrot, auf den Tag, an dem das große Licht, Immanuel, der Christus, der Sohn Davids, der Sohn Gottes, ihr Herr und Erlöser erscheinen würde. Und ihre Hoffnung wurde nicht enttäuscht. Denn „der Eifer des Herrn der Heerscharen wird dies tun!“ (Vers 6).
Amen.