Und ein Mann aus dem Haus Levi ging hin und nahm eine Tochter Levis zur Frau. Und die Frau wurde schwanger und gebar einen Sohn. Und als sie sah, dass er schön war, verbarg sie ihn drei Monate lang. Als sie ihn aber nicht länger verbergen konnte, nahm sie ein Kästchen aus Schilfrohr und bestrich es mit Asphalt und Pech und legte das Kind hinein; und sie legte es in das Schilf am Ufer des Nils. Aber seine Schwester stellte sich in einiger Entfernung auf, um zu erfahren, wie es ihm ergehen würde. Da kam die Tochter des Pharao herab, um im Nil zu baden, und ihre Jungfrauen gingen an das Ufer des Nils; und als sie das Kästchen mitten im Schilf sah, sandte sie ihre Magd hin und ließ es holen. Und als sie es öffnete, sah sie das Kind. Und siehe, es war ein weinendes Knäblein! Da erbarmte sie sich über es und sprach: Es ist eines der hebräischen Kinder! Da sprach seine Schwester zu der Tochter des Pharao: Soll ich hingehen und eine hebräische Amme rufen, damit sie dir das Kindlein stillt? Und die Tochter des Pharao sprach zu ihr: Geh hin! Da ging die Jungfrau hin und rief die Mutter des Kindes. Da sprach die Tochter des Pharao zu ihr: Nimm das Kindlein mit und stille es mir; ich will dir deinen Lohn geben! Da nahm die Frau das Kind zu sich und stillte es. Und als das Kind groß geworden war, da brachte sie es der Tochter des Pharao, und es wurde ihr Sohn, und sie gab ihm den Namen Mose. Denn sie sprach: Ich habe ihn aus dem Wasser gezogen.
(2. Mose 2,1-10)
Hast du jemals gedacht, dass du in einer eher unspektakulären Zeit im Reich Gottes lebst? Ich erinnere mich noch gut, wie ich als Jugendlicher in meiner Gemeinde in Nordengland saß. Der leicht muffige Raum lag so nah an einem Bahngleis, dass die Gottesdienste regelmäßig von vorbeirasenden Zügen unterbrochen wurden. Als ich in dem engen Saal die Geschichten von Mose, Elias, oder Jesus und seinen Aposteln hörte, wünschte ich mir immer wieder, in deren Zeit gelebt zu haben – damals, als Gott wirklich aktiv war. Geht es dir manchmal auch so?
Die Kirche in Westeuropa scheint nicht gerade rasant zu wachsen. Im Gegenteil: Manchmal haben wir sogar das Gefühl, ihre Feinde nehmen überhand. Wo sind die eindrucksvollen Erweckungen, die frühere Generationen von Gläubigen erlebt haben? Wo sind die dramatischen Zeichen von Gottes Handeln? 2. Mose 2,1-10 geht genau auf diese Fragen ein. Anders als in den darauffolgenden Kapiteln gibt es hier keine Wunder. Hier liest man weder von Plagen noch von übernatürlichen Eingriffen. Gottes Stimme ertönt nicht furchterregend vom Himmel. Hier wird Gott nicht einmal beim Namen genannt!
Und doch ist er da.
In einer Zeit, in der Gottes Kinder sich von ihm verlassen fühlen und wo sie scheinbar von ihren Feinden überwunden werden, ist Gott trotzdem am Wirken.
1. Ein einfacher Glaube
Die Geschichte beginnt unscheinbar: Ein Mann aus dem Haus Levi ging hin und nahm eine Tochter Levis zur Frau (V. 1). Und doch ist dies etwas Besonderes. Ist dir aufgefallen, dass die zeitliche Abfolge hier nicht stimmt? Im Vers davor (2Mos 1,22) liest man vom Befehl Pharaos, die jüdischen Söhne in den Nil zu werfen. Erst danach liest man von der Eheschließung von Moses Eltern. Wer die Geschichte kennt, weiß jedoch, dass Amram und Jochebed schon seit einigen Jahren verheiratet waren. Eins ihrer älteren Kinder, Miriam, taucht sogar in dieser Geschichte auf.
Warum hört sich 2. Mose 2,1 deshalb so an, als ob die beiden jetzt erst heiraten? Die Antwort ist: Um ihren Glauben in den Vordergrund zu rücken. Wo Pharaos Befehl viele Paare vielleicht dazu gebracht haben könnte, sich zu enthalten, um eine Schwangerschaft zu vermeiden, betont Gottes Wort hier die lebendige Ehe von Moses Eltern. Pharao verbietet männliche Nachkommen mit aller Gewalt, doch Amram und Jochebed vertrauen lieber auf Gott. Es kann gut sein, dass sie sich hierbei auf das Versprechen Gottes an Abraham stützten, nämlich dass die Befreiung Israels aus Ägypten von ihren eigenen Kindern noch erlebt werden würde (vgl. 1Mos 15). Gott stärkt ihren Glauben: Er schenkt ihnen ein schönes Kind (2Mos 2,2).
Es ist noch nicht so lange her, dass dieser Vers mich besonders angesprochen hat. Als unsere dritte Tochter geboren wurde, spürten meine Frau und ich beide eine ungewöhnlich starke Liebe für sie. Wie Moses Eltern damals fanden wir, dass sie ein sehr ‚schönes Kind‘ ist. Kurz nach der Geburt wurde der Verdacht geäußert, dass sie mit Down-Syndrom geboren wurde, was zu einer Reihe schwieriger Krankenhausaufenthalte führte. Als Eltern hat uns unter anderem die von Gott geschenkte Zuneigung durch diese unerwartete Prüfung hindurch getragen.
Für Amram und Jochebed war die Geburt aber erst der Anfang ihrer Sorgen. Wie konnten sie jetzt ihr Kind schützen? Nach drei Monaten konnten sie ihn schon nicht mehr verstecken. Also haben sie ihn in ein kleines Kästchen gelegt, eine „Arche“ aus Schilf und Teer, und ihn in die Obhut des Nils gegeben. Zur Wache gab es nur die kleine Miriam, Moses Schwester. Ihr Widerstand gegen Pharaos Macht scheint wenig beeindruckend zu sein. Eine normale Schwangerschaft. Eine heimliche Geburt. Ein einfaches Kästchen. Doch Gott stand ihnen zur Seite. Die Eltern haben im Glauben gehandelt (Hebr 11,23) und diesen Glauben hat Gott in seinem Plan genutzt, um einen Retter für sein Volk auf die Welt zu bringen.
2. Eine ironische Rettung
Diese zehn Verse sind voller Ironie. Jochebed gehorcht dem Pharao wortwörtlich, indem sie ihren Sohn in den Nil wirft (allerdings in der schützenden Arche). Der Pharao befiehlt, dass alle Söhne in den Fluss ‚fortgeschickt‘ werden sollen, doch ausgerechnet seine eigene Tochter ‚schickt eine Magd fort‘, um einen dieser Söhne aus dem Fluss zu retten. Am Ende der Geschichte wird Moses Mutter sogar vom Palast dafür bezahlt, ihren ‚illegalen‘ Sohn großzuziehen!
Die größte Ironie ist jedoch die ‚Frauenpower‘ in diesem Abschnitt. Von den 42 Verben im Indikativ in der Geschichte sind 40 in der weiblichen Form, was im Hebräischen anders als im Deutschen eine gesonderte Form ist.
Wo sind die Männer? Selbst Amram taucht nur kurz im ersten Vers auf. Aus dem Neuen Testament wissen wir, dass beide Eltern Mose geschützt haben, doch ab Vers zwei ist nur noch von Jochebed, Miriam und der Tochter des Pharao die Rede. In den Versen vor und nach unserer Passage stehen auch hauptsächlich Frauen im Vordergrund.
Im ersten Kapitel sind es die zwei weiblichen Hebammen, die Israels Söhne vor dem Pharao retten. Nach diesem Abschnitt sind es die sieben Töchter Jethros, die eine wesentliche Rolle spielen. Warum diese Betonung auf die weiblichen Charaktere?
Der Pharao dachte, er könne Israel unterwerfen, indem er ihre Männer ausrottet. Wie stark ist schließlich ein Volk ohne all seine Krieger? Aber wenn Gott am Wirken ist, kann er den Pharao ganz ohne Männer besiegen. Mit einer jüdischen Mutter, einem kleinen Mädchen, und einer badenden Prinzessin kann er die Macht des Pharaos stürzen. Psalm zwei bringt es auf den Punkt: Die Könige der Erde lehnen sich auf, und die Fürsten verabreden sich gegen den Herrn, […] doch der im Himmel thront, lacht (Ps 2,2-4).
3. Eine dramatische Zukunft
Die kleinen Details dieser Passage drücken immer wieder aus, dass Gott hier das Fundament für eine noch größere Errettung legt. Das hebräische Wort für das Kästchen ist ein Wort, das in der gesamten Bibel nur hier und für die Arche Noah verwendet wird. Wie zur Zeiten Noahs wird diese Arche auch mit Pech bestrichen und bringt seinen kostbaren Inhalt durch das bedrohliche Wasser in Sicherheit.
Ist dir aufgefallen, dass nur Mose in dieser Geschichte mit Namen genannt wird? Alle anderen Charaktere bleiben namenlos. Dies dient dazu, seinen Namen besonders hervorzuheben. Es betont seine Identität als ‚der aus dem Wasser gezogene Junge‘. Dabei wurde er nicht nur aus irgendeinem Wasser gezogen. Verse drei und fünf machen auf das Schilf am Ufer des Nils aufmerksam. Das nächste Mal, dass Schilf vorkommt, ist am Ufer des Schilfmeers in 2. Mose 14.
Genau wie hier will der Pharao dort ‚am Schilf‘ Gottes Volk vernichten. Doch es gelingt ihm auch dort nicht. Wie Gott hier Mose durch das Schilf und aus dem Wasser errettet, so rettet er später im Buch das ganze Volk. Wie der Sieg Jesu am Kreuz und in der Auferstehung die Grundlage unseres Sieges geworden ist, so deutet das Schicksal des kleinen Moses auf das Schicksal des gesamten Volkes im zweiten Buch Mose hin.
Fazit
In diesem Abschnitt findet man keines der dramatischen Wunder der darauffolgenden Kapitel. Man liest weder von Plagen noch von der Teilung des Meeres. Pharao, der Feind von Gottes Volk, scheint Herr der Lage zu sein. Aber fällt dir auf, wie Gott hier trotzdem am Wirken ist?
Der Pharao mag befehlen, alle männlichen Kinder zu vernichten. Aber Gott lässt sich nicht aufhalten. Er schreibt Geschichte mit den Frauen und Mädchen. Seine schützende Hand liegt genau auf dem kleinen Kästchen im Nil wie auf der riesigen Arche während der Sintflut. Leise und unauffällig schützt er den künftigen Retter Israels, und zwar auf eine Art und Weise, die die spektakuläre Errettung am Schilfmeer viele Jahre später bereits andeutet.
Als Jugendlicher hätte ich also nicht sehnsuchtsvoll in die Vergangenheit zurückschauen müssen. Gott hat im 21. Jahrhundert nicht aufgehört, sein Reich zu bauen. Sein stilles Handeln, seine Führung durch scheinbar gewöhnliche Mittel, kann selbst die mächtigsten Tyrannen stürzen.
Lass uns also im Glauben handeln. Wie Moses Eltern sollen wir uns in allen Entscheidungen von Gott und nicht vom Pharao leiten lassen. Amen.
Peter Winch ist Engländer und hat zunächst Deutsch und Altgriechisch, später auch Theologie studiert. Er promoviert derzeit an der Universität von Cambridge im Fachbereich Neues Testament und arbeitet parallel in der Studentenarbeit der Cambridge Presbyterian Church. Gemeinsam mit seiner Frau Ina hat er drei Töchter.