Grußwort des Schriftleiters

Grußwort des Schriftleiters

Allen aber, die ihn aufnahmen, denen gab er das Anrecht, Kinder Gottes zu werden, denen, die an seinen Namen glauben; die nicht aus dem Blut, noch aus dem Willen des Fleisches, noch aus dem Willen des Mannes, sondern aus Gott geboren sind.

Johannes 1,12–13

„Ich wünschte, dass sie [meine Schriften] alle verschlungen würden. Denn ich erkenne keins als mein rechtes Werk an, außer etwa das ,Vom unfreien Willen‘ und den Katechismus.“ Diese Worte schrieb Martin Luther im Jahr 1537 an Wolfgang Capito, den Reformator von Straßburg. Capito wollte Luthers gesammelte Werke herausgeben, aber Luther war wenig begeistert von der Idee. Für ihn waren von seinen zahlreichen Werken (die in den heutigen Sammelbänden ca. 80.000 Seiten umfassen!) nur zwei Bücher wirklich lesenswert. Interessanterweise war darunter sein Buch Vom unfreien Willen, dessen Erstveröffentlichung im Dezember 1525 sich in diesen Tagen zum 500. Mal jährt.

Luthers Antwort

Ein Jahr zuvor hatte der Humanist Erasmus von Rotterdam (1460er–1536) ein Buch verfasst mit dem Titel Vom freien Willen. Darin verteidigte er die Ansicht, dass der Mensch auch nach dem Sündenfall einen freien Willen habe, sich für oder gegen Gott entscheiden zu können. Luther war entschieden anderer Meinung und verfasste sein Buch als Antwort auf Erasmus.

Dabei ging es in der Debatte nicht so sehr um das Spannungsfeld zwischen Gottes Souveränität und der Verantwortung des Menschen. Der eigentliche Streitpunkt lag vielmehr bei der Frage: Welchen Effekt hat die Sünde auf den menschlichen Willen? Ist der Wille seit dem Sündenfall geschwächt, aber grundsätzlich immer noch in der Lage, sich für Gott zu entscheiden (so Erasmus)? Oder: Ist der menschliche Wille Gott gegenüber tot und ohne ein radikales Eingreifen Gottes weder gewillt noch in der Lage, sich für Gott zu entscheiden (so Luther)?

Die Debatte war auch damals nicht neu, sondern zieht sich durch die gesamte Kirchengeschichte. Nicht immer waren die jeweiligen Diskussionsthemen genau gleich, aber der zugrunde liegende Gegensatz prägte Debatten wie die zwischen Augustinus und Pelagius (4./5. Jh.), zwischen Gottschalk und Hrabanus Maurus (9. Jh.), zwischen Johannes Calvin und Hieronymus Bolsec (16. Jh.), zwischen der Synode von Dordrecht und den Arminianern (frühes 17. Jh.) und zwischen George Whitefield und John Wesley (18. Jh.). Bei allen Unterschieden der Debatten ging es im Prinzip jedes Mal um die Frage, ob der natürliche Mensch lediglich geschwächt oder völlig unfähig ist, zu Gott zu kommen.

Geistlich geschwächt oder geistlich tot?

Gottes Wort gibt uns unter anderem in den ersten Kapiteln des Johannesevangeliums Antworten auf diese Fragen. In Kapitel 6 sagt Jesus: Niemand kann zu mir kommen, es sei denn, dass ihn der Vater zieht (Joh 6,44).

Wie sieht dieses ‚Ziehen‘ konkret aus? Das wird einige Kapitel vorher im Gespräch zwischen Jesus und Nikodemus deutlich.Jesus erklärt: ‚Ziehen‘ bedeutet, dass Gott dem Menschen die Wiedergeburt durch den Heiligen Geist schenkt, der wiederum weht, wo er will (s. Joh 3,3–10).

Genauso wie das natürliche menschliche Leben mit der Zeugung beginnt, so beginnt das geistliche ewige Leben mit der Wiedergeburt. Und genauso wie der Mensch nichts zu seiner biologischen Zeugung beiträgt, trägt er auch nichts zu seiner geistlichen Zeugung bzw. Geburt bei – nicht einmal mit einer Willensentscheidung. Dieser Punkt wird in Johannes 1,12–13 deutlich: Ursächlich für den rettenden Glauben (V. 12) ist nicht die Abstammung (‚aus Blut geboren‘), und eben auch nicht die Willenskraft (‚nicht aus dem Willen des Fleisches oder des Mannes‘), sondern die Geburt aus Gott (V. 13).

Wiedergeburt und Glaube

Das bedeutet natürlich nicht, dass der Mensch nicht glauben müsste. Ganz im Gegenteil: Jeder Mensch ist aufgerufen zu glauben. Jeder, der Jesus aufnimmt, wird zum Kind Gottes (V. 12).

Das Problem ist nur: Ohne das Geschenk der Wiedergeburt ist kein Mensch dazu in der Lage. Denn sein Wille ist unfrei und gebunden – oder versklavt, wie Luther es im lateinischen Originaltitel des Buches formulierte. Biblisch gesprochen ist der menschliche Wille geistlich tot (Eph 2,1.5) und kann die Dinge des Geistes Gottes nicht erkennen (1Kor 2,14). Sobald ein Mensch jedoch durch Gottes Gnade wiedergeboren ist, wird er glauben, will er glauben und wird er auch nie aufhören zu glauben.

Für Martin Luther war diese Frage keine Randfrage. Wenn wir heute an die Reformation denken, steht die Frage der Rechtfertigung allein durch den Glauben im Vordergrund. Das Zitat vom Anfang macht deutlich: Für Luther hing das eine eng mit dem anderen zusammen. Und von daher ist es auch kein Wunder, dass das katholische Konzil von Trient (1545–1563) nicht nur Luthers Sicht zur Rechtfertigung scharf verurteilte, sondern auch seine Sicht auf den (un)freien Willen. Der lutherische Theologe Hans-Joachim Iwand (1899–1960) bringt die Bedeutung des Buches für die Reformation so auf den Punkt: „Wer diese Schrift nicht aus der Hand legt mit der Erkenntnis, dass die evangelische Theologie mit dieser Lehre vom unfreien Willen steht und fällt, der hat sie umsonst gelesen.“

Die Geburt Jesu und unsere Wiedergeburt

Die Verse aus Johannes 1 sind ein Teil der ‚Weihnachtsgeschichte‘ des Johannesevangeliums. Dort gibt es zwar keinen Stall, keine Krippe und keine Engel. Aber dafür erfahren wir, dass das ewige und göttliche Wort – also die zweite Person der Dreieinheit – Fleisch geworden ist, also geboren wurde. Die enge Verbindung in diesem Kapitel von Jesu Geburt (V. 1–11.14) und unserer Wiedergeburt (V. 12–13) zeigt uns: Die Geburt von Jesus war nötig, damit wir aus Gott geboren werden konnten. Besonders deutlich wird dieser Bezug in zwei Strophen von Paul Gerhardts Weihnachtslied Ich steh an deiner Krippen hier.

Da ich noch nicht geboren war, da bist du mir geboren und hast dich mir zu eigen gar, eh ich dich kannt‘, erkoren. Eh ich durch deine Hand gemacht, da hast du schon bei dir bedacht, wie du mein wolltest werden.

Ich lag in tiefer Todesnacht – du warest meine Sonne – die Sonne, die mir zugebracht Licht, Leben, Freud‘ und Wonne. O Sonne, die das werte Licht des Glaubens in mir zugericht‘ – wie schön sind deine Strahlen!

Und so war es vielleicht auch kein Zufall, dass Luthers Buch ausgerechnet rund um die Weihnachtstage 1525 erstmals gedruckt wurde.

Danke!

Weihnachten kommt näher und damit auch das Ende des Jahres. Diesen Anlass wollen wir nutzen, um uns bei allen Unterstützern herzlich zu bedanken! Viele ehrenamtliche Mitarbeiter sorgen jedes Quartal dafür, dass eine weitere Ausgabe erscheint, dass die digitalen Kanäle auf dem neuesten Stand sind und dass der Podcast produziert wird. So ist es möglich, die Zeitschrift weiterhin mit einem kleinen Budget zu erstellen und kostenlos zu versenden. Das können wir nur leisten, weil viele unserer Leser uns regelmäßig finanziell unterstützen. Wir bedanken uns von Herzen bei allen, die durch ihre tatkräftige oder finanzielle Unterstützung die Arbeit möglich gemacht haben (und auch in Zukunft möglich machen)!

Ich wünsche allen Lesern ein gesegnetes Weihnachtsfest und einen guten Start ins neue Jahr!

Ihr

Jochen Klautke