Grußwort des Schriftleiters

Grußwort des Schriftleiters

Ein anderer Engel kam und stellte sich an den Altar, der hatte ein goldenes Räucherfass, und ihm wurde viel Räucherwerk gegeben, damit er es zusammen mit den Gebeten aller Heiligen auf dem goldenen Altar darbringe, der vor dem Thron ist. Und der Rauch des Räucherwerks stieg auf vor Gott, zusammen mit den Gebeten der Heiligen, aus der Hand des Engels.

Offenbarung 8,3.4

1. Unser Beten angesichts des Weltgeschehens

Mit diesem Ausschnitt aus einer Vision des Apostels Johannes grüße ich Sie zu dieser Ausgabe der Bekennenden Kirche. Der Apostel Johannes darf schauen, was die Gebete der Heiligen für eine Rolle spielen im großen Weltgeschehen mit seinen Gerichtsschlägen.

In den oben zitierten Versen geht es also um unser Beten, und zwar im Blick auf die Weltgeschichte. Haben da unsere Gebete überhaupt eine Bedeutung? Steht nicht der Ablauf der gesamten Geschichte unter dem göttlichen: Es muss geschehen (Offb. 1,1), sodass ohnehin schon alles festliegt?

Aber wenn es um das Thema Gebet geht, sind unsere Fragen und Nöte vermutlich zunächst wesentlich grundlegender: Herr lehre uns beten …! (Lk. 11,1). Mit diesem Verlangen traten die Jünger an Jesus heran, und wir können ihre Bitte gut nachvollziehen. Wer von uns will behaupten, dass ihm sein Beten nicht äußerst mangelhaft vorkommt und dass ihn zumindest gelegentlich diese Unzulänglichkeit beunruhigt?

Wenn wir dann beten, drehen sich unsere Bitten vielfach um unsere persönlichen Angelegenheiten. In den Worten des Gebetes, das Jesus seine Jünger lehrte, geht es häufig um unser täglich Brot. (Na ja, manchmal ist es auch sehr viel mehr als nur Brot, um das wir Gott bitten.) Auch kommt es sicher vor, dass wir für die Vergebung unserer Schuld bitten, und nicht zuletzt flehen wir gelegentlich zu Gott, dass er uns nicht in Versuchung führen möge. Aber das alles sind Bitten aus der zweiten Hälfte des Vaterunsers. Sie stehen nicht am Anfang.

2. Allgemeines zum Verständnis des letzten Buches der Bibel

Liest man die Verse aus Offenbarung 8 in ihrem Zusammenhang, wird deutlich, dass sie zwischen den Gerichten Gottes stehen, die über die Erde peitschen. Wir erinnern uns möglicherweise daran, dass das letzte Buch der Heiligen Schrift Apokalypse heißt. Wenn man heute von apokalyptisch spricht, verknüpft man mit diesem Begriff den Gedanken an bedrohliche Geschehnisse, die die Menschen mit einer derart massiven Wucht treffen, dass alles niedergewalzt oder zugrunde gerichtet wird. Denken wir an Erdbeben, Tsunamis oder auch Kriege.

In Wahrheit aber meint der Begriff apokalyptisch bzw. Apokalypse das Gegenteil. Apokalypse meint: Enthüllung, Offenbarung. Genau darum geht es im letzten Buch der Bibel: Jesus Christus offenbart sich. Er tritt wieder in die Sichtbarkeit. Das Thema ist die Wiederkunft des Sohnes Gottes. Und dieses Ereignis kann Kinder Gottes nur mit Freude erfüllen.

Das ist der Grund, warum diejenigen, die sich mit diesem Buch beschäftigen, nicht durch die vordergründig ablaufenden Geschehnisse in Schrecken geraten oder gar Albträume bekommen. Vielmehr wird ihnen das Gegenteil zugesagt: Glückseligkeit (Offb. 1,3).

Um das aber zu begreifen, haben wir die Hintergründe der Weltgeschichte zu verstehen. Diese werden uns im letzten Buch der Bibel häufig anhand von Bildern aus dem Alten Testament und der damaligen Umwelt geschildert.

Weil es in diesem Buch darum geht, dass Jesus Christus wieder in die Sichtbarkeit tritt, mündet die Offenbarung in das Gebet seiner Gemeinden: Komm, Herr Jesus (Offb. 22,20)! Keine Frage: Im letzten Buch der Heiligen Schrift geht es um sehr ernste Dinge. Aber Ernst ist nicht dasselbe wie Trübsinnigkeit.

Ja, dem Kommen des Sohnes Gottes gehen Gerichte voraus. Bereits im Alten Testament lesen wir mehrfach, dass dem Anrücken und dem Auftreten Gottes seine Gerichte vorangehen (Hab. 3,5; Ps. 18,7–17; 50,3; 97,3; Jes. 62,11; Joel 2,3). Dieselbe Botschaft vermittelt das Neue Testament (2Thess. 1,5–10; 2Petr. 3,7). In aller Ausführlichkeit finden wir diese Wahrheit im letzten Buch der Bibel. Gelegentlich vergleicht die Heilige Schrift die der Wiederkunft Christi vorausgehenden Gerichtsschläge mit (Geburts-)Wehen (Jes. 26,17; Mt. 24,8).

Das alles soll den Gemeinden bewusst sein. Darum bekam Johannes den Auftrag, seine Visionen an die sieben Gemeinden in Kleinasien zu schreiben (Offb. 1,4.11). Aber es geht um mehr: Jesus Christus sagt ausdrücklich, dass die Visionen, die Johannes empfing, nicht nur an die Gemeinden gerichtet sind, sondern dass das, was er schaute, über die Gemeinden handelt (Offb. 22,16).[1] Was hier geschrieben steht, betrifft sie. Sie dürfen das, was die Offenbarung schildert, nicht einfach als interessante Information zur Kenntnis nehmen und dann unbeteiligt innerlich abhaken.

Die dem Johannes enthüllten Gerichtsschläge gliedern sich in jeweils sieben Siegel-, Posaunen- und Zornesschalengerichte. Das heißt nicht, dass man diese Gerichtsserien in drei Zeitperioden einteilen kann, im Sinn von: Erst kommen die sieben Siegel, dann folgen zeitlich die sieben Posaunen, und schließlich werden noch die sieben Zornesschalen angehängt. In allen drei Reihen geht es um ein und dieselbe Weltgeschichte, und alle drei Sequenzen zielen auf das eine Ereignis, nämlich dass Jesus Christus in die Erscheinung treten wird. Dabei beleuchten die drei Serien das Kommen Christi aus unterschiedlicher Perspektive.

Bei den Siegelgerichten kommt anfangs das Rätselhafte und Verworrene der Weltgeschichte zum Ausdruck. Die Weltgeschichte stellt sich uns gleichsam als eine verschlossene Tür dar (Offb. 5,1–5). Aber dann lesen wir, dass Jesus Christus diese Tür öffnet, dass er es ist, der die Weltgeschichte lenkt. Mit anderen Worten: Die bedrängten Gemeinden müssen wissen: In der Geschichte wirkt der, der die Schlüssel des Todes hat (Offb. 1,17.18) und der als das geschlachtete Lamm als einziger über die Autorität und die Macht verfügt, durch das Öffnen der Siegel die uns als verworren erscheinende Geschichte zum Ziel zu führen (Offb. 5,6–14).

Die Botschaft an uns ist damit klar: Fixiert euch nicht auf das Vordergründige! Vielmehr haltet im Glauben daran fest, dass in der Weltgeschichte, und zwar nicht zuletzt auch in den Gerichtsschlägen der Sohn Gottes der letztendlich Handelnde ist. Darum passt es zutiefst nicht zu einem gläubigen Christen, angesichts von Katastrophen die Frage zu stellen, wo denn Gott darin sei und wie er das alles zulassen könne.

Im Anschluss daran schaut Johannes die Posaunengerichte. In der Sprache der Heiligen Schrift ist die Posaune ein Instrument, durch das auf Bevorstehendes aufmerksam gemacht wird. Posaunen oder Schopharhörner dienten im Alten Testament als Signal- sowie Alarmzeichen. Sie kündigten entweder Festzeiten an, wie zum Beispiel das Laubhüttenfest oder den Versöhnungstag (3Mos. 23,24; 25,9; Ps. 81,3). Oder sie fungierten als Appell, sich zum Krieg zu rüsten (Ri. 3,27; 6,34; 7,8–22; 1Sam. 13,3; Neh. 4,12; Hes. 33,3–6; Am. 3,6; Zeph. 1,16; Sach. 9,14).

Im letzten Buch der Bibel dienen die Posaunen als das Signal, dass die letzte Kriegsschlacht Christi ansteht und damit der ewige Festtag heranrückt. Gleichzeitig aber machen die Posaunen auch klar, dass das Ende noch nicht da ist. Indem Gott nicht die Absicht hat, die Menschheit unvorbereitet in das Ende zu führen, künden die Posaunen: Noch hat Gott Geduld! Noch ist Zeit zur Umkehr! Mache dich endlich bereit, Gott zu suchen!

Schließlich folgen die sieben Schalen des Zornes Gottes. Ihre Intensität besagt, dass die Weltgeschichte immer auch Weltgericht ist. Die Weltgeschichte ist nicht das Weltgericht (wie Friedrich Schiller meinte). Das endgültige Gericht kommt am Ende der Zeiten. Aber andererseits verschiebt Gott nicht jedes Gericht bis zum letzten Tag. Gelegentlich erfolgt der volle Zorn Gottes bereits hier und jetzt (Offb. 15,1).

Vielleicht können wir uns den Unterschied zwischen den Posaunengerichten und den Zornesschalengerichten anhand von Sodom und Gomorra vor Augen führen. Für die Einwohner Sodoms und Gomorras war das Feuergericht der Untergang. Aber für die anderen Städte Kanaans stellte der Feuerregen eine Warnung dar. Das Gericht war gleichsam ein Bußruf an sie, vom falschen Weg umzukehren. Insofern fungierte der Gerichtsschlag für sie als eine Posaune, als ein Aufruf innezuhalten und sich zu Gott zu kehren. Die anderen Städte Kanaans waren ebenfalls verderbt. Aber sie wurden nicht zugleich mit Sodom und Gomorra vernichtet, sondern sie erlebten ihren Untergang erst hunderte von Jahren später, nämlich bei der Eroberung Kanaans (1Mos. 15,16). Von Sodom und Gomorra soll ein Warnruf ausgehen (Jud. 7; Warnung für Israel: 5Mos. 29,22.23; 32,32; Jes. 1,8–10; 3,9; Jer. 23,14; Klgl. 4,6; Hes. 16,46–56; Am. 4,11; Warnung für andere Völker: Jes. 13,19; Jer. 49,18; Zeph. 2,9).

Kurzum: Die Offenbarung Jesu Christi hat nicht die Absicht, einen heilsgeschichtlichen Endzeitfahrplan zu verraten, und auch geht es bei den drei Siebenerreihen (sieben Siegel, sieben Posaunen, sieben Schalen) nicht um eine zeitliche Abfolge. Andererseits handelt es sich bei diesen Siebenerreihen jeweils um eine Intensivierung, und damit enthalten sie eine geistige Ordnung. Mit anderen Worten: Es ist nicht zulässig, die Siegel-, Posaunen- und Zornesschalengerichte umzudrehen. Gleichwohl sprechen alle von der gesamten Weltgeschichte seit der Himmelfahrt Christi.

3. Zwischen den Siegel- und Posaunengerichten

In Kapitel 8 stehen wir am Übergang von den sieben Siegelgerichten zu den sieben Posaunengerichten. Mit jedem Öffnen eines Siegels der Schriftrolle, strebt die Geschichte ihrem Ziel entgegen. Bei jedem Brechen eines Siegels empfing Johannes eine Vision. Kapitel 8 beginnt mit dem Öffnen des letzten, des siebten Siegels. Das Ergebnis ist zunächst eine Stille im Himmel von ungefähr einer halben Stunde (Offb. 8,1).

Da in unserem Denken häufig Stille und Himmel irgendwie zusammengehören, könnten wir diese Aussage achtlos überlesen. Aber das wäre fatal, zumal in Wirklichkeit der Himmel ein Ort intensivster Aktivitäten ist. Dort rufen die vier lebendigen Wesen ohne Unterlass Tag und Nacht: Heilig, heilig, heilig ist der Herr, Gott (Offb. 4,8); dort bezeugen die vierundzwanzig Ältesten fortwährend, dass Gott würdig ist, Preis und Ehre und Kraft zu empfangen (Offb. 4,11). Seitdem das Lamm die Schriftrolle in Empfang nahm, stimmen immer größere Kreise von Anbetern in Lobgesänge ein (Offb. 5,9–14; 7,10). Aber im Himmel hört man nicht nur jubelndes Anbeten der Erlösten, sondern da herrscht auch ein eifriges Kommen und Gehen dienender Engel. Wäre im Himmel immerfort Stille, würde es hier nicht heißen, dass die Stille entstand, und vor allem wäre die Angabe einer Zeitspanne für die Dauer der Stille überflüssig.

Die Stille, die beim Übergang der Öffnung des letzten Siegels zu den Posaunengerichten entsteht, ist gewissermaßen die Stille vor dem Sturm: Angesichts dessen, was auf Erden geschieht, stockt dem Himmel der Atem.

Natürlich spricht die Bibel hier in Symbolen. Die halbstündige Stille entspricht nicht wirklich 30 Zeit-Minuten unserer Zeitmessung. Darum wäre es auch unsinnig, nach einem dreißigminütigen Ereignis Ausschau zu halten oder dieses in der Zukunft erwarten zu wollen. Vielmehr wird uns auf diese Weise mitgeteilt, dass den einschneidenden Gerichtsschlägen, die der Herr Jesus Christus auf das Ende der Welt hin bewirkt, eine Pause vorausgeht. Vielleicht kann man es mit den Augenblicken vergleichen, die man kurz vor dem Losbrechen eines Gewitters gelegentlich wahrnimmt. Man hat den Eindruck, dass sich die Natur auf die bevorstehende Entladung konzentriert und anspannt.

Hier im Himmel erfolgt die Stille aus Ehrerbietung gegenüber Gottes Handeln. Das Schweigen ist getragen von Staunen und aufmerksamer Erwartung und möglicherweise auch von Mitgefühl angesichts dessen, was auf Erden abrollt (vergleiche zum Schweigen: Hab. 2,20; Sach. 2,17).

Für die Gemeinden heißt das zunächst einmal, dass wir nicht von einem kalten, unpersönlichen Universum umgeben sind, sondern dass den Gemeinden von überallher Aufmerksamkeit zuteilwird.

Nun also verstummt der Lobgesang im Himmel. Der himmlische Gottesdienst, in den Johannes am Sonntag, also dem Tag, der dem Herrn gehört (Offb. 1,10), hineingenommen wurde, geht weiter. Aber er erfolgt für eine halbe Stunde schweigend. Wenn man die Eile bedenkt, in der die Geschichte zum Ende strebt – denn Christus kommt schnell (Offb. 22,7.12.20) – wäre 1 Stunde zu lang. Andererseits aber ist eine halbe Stunde des Stillschweigens nicht kurz. Manchmal werden wir im Anschluss an eine Katastrophe zu einer Schweigeminute aufgerufen. Man hat den Eindruck, dass für viele bereits diese wenigen Augenblicke schon zu lang dauern. Man stelle sich eine halbe Stunde des Stillschweigens vor.

Diese Zeit dient gewissermaßen der Vorbereitung auf die weiteren Geschichtsereignisse. Während die Heerscharen des Himmels in gespannter Ehrfurcht – stumm – auf den achtgeben, der die Schriftrolle Siegel für Siegel öffnet, erkennen sie nun, dass die Öffnung der Siegel allein die Geschichte noch nicht zu ihrem Ziel bringt.

Zunächst werden den sieben Engeln, die vor Gott stehen, sieben Posaunen gereicht (Offb. 8,2). Die Engel werden mit diesen Instrumenten losziehen und Gerichte auslösen: Donner und Stimmen und Blitze und Erdbeben (Offb. 8,5), die dann in die Vision der Posaunengerichte übergehen (Offb. 8,6ff).

4. Die Gebete aller Heiligen (Offb. 8,3.4)

Diese halbstündige Stille bietet die Gelegenheit, auf noch etwas Weiteres die Aufmerksamkeit zu richten: Es handelt sich um die Gebete, die die auf der Erde lebenden Gemeinden vor Gott bringen. Der Apostel Johannes schaut, wie die Gebete der Heiligen im Himmel ankommen. Vergessen wir nicht: Johannes befindet sich hier im Geist im Himmel, und aus dieser Warte verfolgt er die irdischen sowie die himmlischen Geschehnisse und auch das, was zwischen Erde und Himmel passiert. Dass Johannes diese Vision gerade an der Schnittstelle zwischen Siegelöffnungen und Posaunengerichten schauen darf, zeigt die Wichtigkeit des Betens im Rahmen des Weltgeschehens.

Das Öffnen der Siegel hatte den Gemeinden die Machtvollkommenheit des Lammes vor Augen geführt: Es ist niemand anderes als der souveräne Christus, der die Geschichtsereignisse initiiert und kontrolliert. Auch die schrecklichen Grauen und die furchtbaren Katastrophen erfolgen auf sein Geheiß hin (Offb. 6). Aber Christus ist auch derjenige, der alles so lenkt, dass die Knechte Gottes bewahrt (versiegelt) bleiben (Offb. 7,3ff) und sich schließlich im Himmel sicher wissen dürfen (Offb. 7,9ff).

Aber damit die Gemeinden ihren Weg auf Erden getröstet gehen können und im Glauben zuversichtlich gestärkt vorangehen, sollen sie noch mehr erfassen. Sie sollen noch tiefer verstehen. Der Seher auf Patmos darf für sie nicht nur verfolgen, wie beim Öffnen des siebten Siegels die Engel die Posaunen in Empfang nehmen (Offb. 8,2), sondern er schaut auch, wie ein weiterer Engel mit einem Weihrauchfass an den Altar Gottes tritt (Offb. 8,3).

Es ist möglich, dass es sich bei dem Altar um denselben handelt, unter dem die Seelen der Märtyrer ruhen und von dort Gott um sein richtendes Eingreifen anflehen (Offb. 6,9–11). Ich halte das sogar für wahrscheinlich. Aber es wird nicht ausdrücklich gesagt. Wenn das so wäre, dann wäre es nun soweit, dass durch die Gerichte das Flehen der Märtyrer um Vergeltung erhört wird. Aber indem der Engel mit einem goldenen Räucherfass voller Weihrauch zusammen mit den Gebeten der Heiligen an den Altar tritt, liegt der Fokus hier auf etwas Anderem.

Aus dem Alten Testament wissen wir, dass im Heiligtum der Stiftshütte und später im Tempel ein Räucheraltar stand. Er wurde auch als der goldene Altar bezeichnet (2Mos. 30,1–3; 1Kön. 7,48). Er war Abbild des himmlischen Urbildes (2Mos. 25,39.40; Apg. 7,44; Hebr. 8,5). Zum Beispiel am großen Versöhnungstag wurde auf diesem Altar dem Herrn Weihrauch dargebracht (3Mos. 16,12.13). Der Weihrauch war Symbol für die Gebete der Heiligen (Ps. 141,1.2).

In Offenbarung 5,8 wird Weihrauch mit den im Himmel gesprochenen Gebeten gleichgesetzt. Aber an dieser Stelle (Offb. 8,3) macht die Heilige Schrift bezeichnenderweise einen Unterschied zwischen den Gebeten der auf Erden lebenden Heiligen einerseits und dem Räucherwerk andererseits. Die Gebete der Heiligen und der Weihrauch gehören zwar eng zusammen, aber man darf zwischen ihnen kein Gleichheitszeichen setzen: Es ist zweierlei, mit dem der Engel am Altar umgeht.

Offenkundig können die Gebete der Heiligen nicht allein vor den heiligen Gott gebracht werden. Sie bedürfen kräftiger Unterstützung des himmlischen Weihrauchs: Der Engel gab viel [!] Räucherwerk dazu. Vermutlich ist bei dem Räucherwerk an die Gebete der Engel, der vollendeten, himmlischen Gemeinde und der Märtyrer zu denken und möglicherweise sogar an die Gebete, mit denen der Vater, der Sohn und der Heilige Geist zueinander sprechen.

Dass an dieser Stelle die Gebete der Heiligen nicht mit dem Weihrauch gleichgesetzt werden, bringt dasselbe zum Ausdruck, was der Apostel Paulus folgendermaßen in Worte fasst: Wir wissen nicht, wie wir beten sollen, wie es sich gebührt (Röm. 8,26). Dieses Wort gilt immer, aber es hat wohl am meisten Geltung, wenn wir uns an Gott im Gebet wenden und dabei das Weltgeschehen in den Blick nehmen.

Aber bitte beachten wir: Paulus macht den Ausspruch, dass wir nicht wissen, wie wir beten sollen, nicht resignierend. Wir sollen aus diesem Wort keineswegs folgern: Wenn wir sowieso nicht wissen, wie wir in der rechten Weise vor Gott treten sollen, dann können wir es auch gleich unterlassen. Nein, der Apostel Paulus legt hier zwar in einer uns demütigenden und schmerzlichen Weise den Finger auf die Not unseres Betens. Aber damit wird uns lediglich vor Augen geführt, dass Gott sich nicht so ohne weiteres von unserer vermeintlich heiligsten Verrichtung, dem Beten, beeindrucken lässt. Denn unsere Gebete können so kurzsichtig, so egozentrisch sein, dass sie die Ebene des Reiches Gottes gar nicht erreichen.

Für sich selbst betrachtet stinken unsere Gebete häufig. Darum sieht Johannes: Zu den Gebeten der Heiligen muss Wohlduftendes hinzukommen. Wir würden heute sagen: Parfüm. Es muss den Gebeten der Heiligen viel Weihrauch beigemischt werden. Nur dann sind sie vor Gott angenehm.

Paulus verweist uns auf den Heiligen Geist, wenn er schreibt, dass wir selbst nicht wissen, wie es sich gebührt, zu Gott zu beten. Es ist der Geist Gottes, der unserer Schwachheit aufhilft (Röm. 8,26.27). Anders gesagt: Gott hört unser Beten, insoweit es durch den Heiligen Geist geläutert ist. Und dass der Engel den Weihrauch vom Altar nimmt, meint nichts anderes, als dass Gott auf der Grundlage des Opfers Christi unsere Gebete erhört. Angesichts dessen, dass unser Beten so mangelhaft und so unzureichend ist, ist das, was Johannes hier schauen darf, außerordentlich tröstlich. Denn in dem hinzugefügten Weihrauch dürfen wir die barmherzig ausgestreckte Hand unseres himmlischen Vaters erkennen.

Ferner heißt es, dass unsere Gebete zusammen mit dem Weihrauch vor Gott aufsteigen (Offb. 8,4). Das Emporsteigen des Rauches meint so viel wie: Gott der Herr erhört nun die Gebete seiner Heiligen. (Ich erinnere mich aus frühesten Kindheitstagen, als meine Mutter uns mit den biblischen Geschichten vertraut machte: In der Kinderbibel, aus der sie vorlas, war ein Bild, wie Kain und Abel ihre Opfer darbrachten. Dass Gott das Opfer Abels annahm, stellte der Zeichner so dar, dass er den Rauch emporsteigen ließ. Das Bild des aufsteigenden Rauches stammt aus Offenbarung 8,4.)

Natürlich würden wir gerne wissen, was der Inhalt der Gebete der Heiligen ist, die zusammen mit dem Weihrauch vor Gott emporsteigen. Es wird uns nicht gesagt, jedenfalls nicht direkt. Aber wir können es aus den anschließenden Gerichten folgern. Jedenfalls nimmt der Engel dasselbe Räucherfass, in dem der viele Weihrauch war und füllt es mit Feuer vom Altar, um es auf die Erde zu werfen. Daraufhin folgen Stimmen, Donner und Blitze und ein Erdbeben, also Gerichte (Offb. 8,5). Diese Gerichtsschläge leiten dann über zu den Posaunengerichten (Offb. 8,6ff).

Zweifellos verweist das Feuer auf Gericht. Allerdings geht es dabei noch nicht um Weltvernichtung, sondern um Reinigung. Bei den Gerichten geht es in dieser Welt der Lüge um den Sieg der Wahrheit. Mit anderen Worten: Die Posaunengerichte enthalten immer noch den Ruf zur Umkehr und insofern sind sie Ausdruck der Langmut des heiligen Gottes.

5. Der allmächtige Gott verwendet die Gebete seiner Heiligen bei seinem Weltregiment

Womit werden wir aus dieser Vision des Apostels Johannes getröstet?

Ganz gewiss sollen wir daraus nicht ableiten, Engel fungierten als Mittler für unsere Gebete. Zwar haben die Engel Zutritt zum Thron Gottes, aber sie üben keine Mittlerschaft zwischen uns und Gott aus. Sie sind Mitknechte (Offb. 19,10; 22,8). Sie sind für uns nicht mehr (aber auch nicht weniger) als dienstbare Geister, die zum Dienst ausgesandt sind, für die, die das Heil ererben sollen (Hebr. 1,14).

Soll man aus diesen Versen folgern, dass wir Gott darum bitten, er möge über die Gottlosen seine Gerichte schicken? Vergleichbare Gebete kommen in der Bibel tatsächlich vor. Solch ein Gebet stammt von dem Propheten Elia: Elia war ein Mensch von gleicher Art wie wir, und er betete inständig, dass es nicht regnen solle, und es regnete drei Jahre und sechs Monate nicht im Land (die Zeitspanne von dreieinhalb Jahren wird von späteren Propheten mehrfach als Symbol für die Dauer einer Gerichtszeit verwendet, namentlich auch in der Offenbarung); und er betete wiederum; da gab der Himmel Regen, und die Erde brachte ihre Frucht (Jak. 5,17.18). Aber Jesus Christus sagt ausdrücklich, dass es Unterschiede zwischen dem Verhalten des Propheten Elia und unserem gibt (Lk. 9,54–56).

Andererseits will ich nicht ausschließen, dass angesichts großer Not- und in Verfolgungszeiten Christen das Recht haben, so zu beten, zumal die Seelen unter dem Altar ebenfalls Gott um Vergeltung anflehen (Offb. 6,10).

Allerdings finden wir auch das Umgekehrte im Wort Gottes: Abraham bat Gott um Verschonung der Städte Sodom und Gomorra, weil sonst auch Gerechte umkommen würden (1Mos. 18,22–33). Dabei äußerte er diese Bitte in dem Wissen, dass er selbst Staub und Asche ist und dass Gott der Richter der ganzen Erde ist (1Mos. 18,25.27).

In der Offenbarung wird auch erwähnt, dass Gott Gerichte über die Erde zurückhält, und zwar so lange bis die Knechte Gottes versiegelt worden sind (Offb. 7,3ff): Noch ist der Tag des Heils. Noch waltet die Langmut Gottes (2Petr. 3,9.10). Auch der aus dem Südreich stammende, aber im Nordreich wirkende Prophet Amos flehte um Verschonung Israels. Eine Zeitlang erhörte Gott seine Bitten (Am. 7,1–9). Aber dann sprach Gott das erschreckende Wort: Still! (Am. 8,3). Mit anderen Worten: Das Maß der Sünde ist voll. Nichts geht mehr.

Zweifellos eine völlig falsche Einstellung der Gemeinde Gottes wäre es, wenn sie meint, sie dürfe die Weltgeschichte wie ein Panorama als weitgehend unbeteiligter Zuschauer an sich vorüberziehen lassen. Nicht wenige Christen verhalten sich angesichts des Weltgeschehens so. Das, so machen diese Verse unmissverständlich deutlich, ist ganz und gar falsch.

Wie aber sollen wir nun beten? Als Petrus und Johannes von den Machthabern in Jerusalem gefangengenommen worden waren und dann wieder freikamen, trat die Gemeinde in Jerusalem zum Gebet zusammen. Das ist das erste uns überlieferte Gebet der Gemeinde nachdem Christus den Thron Davids bestiegen hatte (Apg. 2,30–36) und die Ausgießung des Heiligen Geistes die letzten Tage einleitet (Apg. 2,17; Hebr. 1,1).

Bei diesem Gebet fällt inhaltlich auf, dass die Christen die Internierung der Apostel einordnen in die weltumspannende Auseinandersetzung zwischen dem Reich Gottes einerseits und andererseits den gegen Christus rebellierenden Völkern (Apg. 4,24–27). Die Jerusalemer Gemeinde ist von dem Wissen getragen, dass jegliche Attacken gegen sie im Ratschluss Gottes stehen. Sie ist davon überzeugt: Nichts entgleitet Gott (Apg. 4,28). Die Christen beten auch nicht darum, dass sie von Leiden verschont bleiben. Ihr Verlangen richtet sich allein darauf, dass das Wort Gottes weiterhin verbreitet wird (Apg. 4,29.30).

Die Lehren, die wir aus Offenbarung 8,3 und 4 für unser Beten ziehen dürfen, sind zweierlei.

Erstens leiten wir aus dem Weihrauch, das aus dem goldenen [!] Räucherfass genommen wird und den Gebeten der Heiligen beigemischt wird, ab, dass Gott der Gebetdienst seiner Gemeinden wichtig ist. Zwar entfalten sich die Posaunengerichte aus dem siebten Siegel, das einzig und allein durch den souveränen Christus geöffnet wird. Somit bleibt klar, dass der dreieine Gott nicht von unseren Gebeten abhängig ist. Aber offensichtlich ist es der Wille Gottes, sich im Ablauf der Weltgeschichte der Gebete seiner Heiligen zu bedienen, sodass sie bei ihm würdig ankommen. Die glückseligen Gemeinden dürfen wissen, dass ihre Gebete das Rad der Geschichte hin zum Ziel vorantreiben.

Dass Johannes die Vision der Gebete der Heiligen ausgerechnet an der Nahtstelle zwischen den Siegel- und den Posaunengerichten schaut, macht deutlich, dass unser Beten den gesamten Ablauf der geschichtlichen Ereignisse begleiten soll. Noch einmal: Beschränken wir bitte nicht das hier Geschilderte auf irgendeinen Moment von 30 Minuten. Das wäre ein geradezu törichter Literalismus (Buchstäblichkeit), der dem letzten Buch der Heiligen Schrift in keiner Weise gerecht wird, zumal wir ausdrücklich darauf hingewiesen werden, dass uns in diesem Buch das Offenbarwerden Christi gezeigt bzw. zeichenhaft enthüllt wird (Offb. 1,1).

Zweitens lernen wir aus dem, was Johannes schaute, dass unsere Gebete wesentlich mehr gottzentriert werden müssen. Seit der Himmelfahrt Christi zielt alles Geschehen auf die Vollendung seines Reiches in Sichtbarkeit und damit auf seine Wiederkunft. Die frühe Gemeinde flehte intensiv mit Herz und Mund: Maranatha, Herr Jesus, komme bald! (1Kor. 16,22; Offb. 22,20).

Das Vaterunser wird in vielen Gemeinden Sonntag für Sonntag gebetet. Zu Recht! Begreifen wir seine Bedeutung und die dort von Christus gesetzten Prioritäten? Das Gebet beginnt nicht mit uns und unseren Nöten, sondern damit, dass Gottes Name geheiligt werde, dass sein Reich komme und dass sein Wille so auf Erden geschehen möge, wie er bereits jetzt im Himmel geschieht (Mt. 6,9.10). Keine einzige dieser Bitten wird unerhört bleiben.

Allgemeines zur Bekennenden Kirche

Zahlreiche anerkennende Reaktionen haben uns auf das neue Layout der Bekennenden Kirche erreicht. Dafür vielen Dank.

Auch der Bitte, uns eine Rückmeldung zu geben, wurde inzwischen von vielen Lesern entsprochen. Wir bitten aber sicherheitshalber noch einmal darum: Wenn Sie die Bekennende Kirche weiterhin erhalten möchten (und es uns seit dem letzten Mal noch nicht mitgeteilt haben), senden Sie bitte die eingelegte Karte an uns zurück, oder lassen Sie uns bitte per E-Mail eine entsprechende Nachricht zukommen (vrp-bekennende-kirche@web.de). Wenn wir keinerlei Rückmeldung von Ihnen bekommen,werden wir Sie in absehbarer Zeit aus der Adressenkartei nehmen.

Indem ich Sie in Christus Jesus herzlich grüße und Ihnen für die Urlaubszeit eine auch innerlich erholsame Zeit wünsche, verbleibe ich im Namen aller Mitarbeiter

Jürgen-Burkhard Klautke


[1] In der Schlachter 2000-Übersetzung heißt es: für die Gemeinden. Das ist nicht falsch übersetzt. Man kann es so übersetzen. Aber im Griechischen steht hier über [epi] die Gemeinden. Falsch übersetzt hier die Elberfelder-Übersetzung. Sie schreibt in den Gemeinden. Was soll das heißen? Möglicherweise hängt diese falsche Übersetzung mit der Lehre des Darbysmus (Dispensationalismus) von einer geheimen (Früh-)Entrückung der Gemeinde zusammen. Diese Entrückung sei in Offenbarung 4,1 angedeutet, sodass die weiteren Kapitel mit den Christen nichts oder nicht mehr viel zu tun hätten. Diese Lehre ist grundfalsch. Aber sie kann an dieser Stelle nicht ausführlich widerlegt werden. Ein in dieser Hinsicht sehr hilfreicher Kommentar zur Offenbarung, weil er sich immer wieder vom dispensationalistischen Gedankengut abgrenzt, ist: Johnson, Dennis E., Der Triumph des Lammes. Ein Kommentar zum Buch der Offenbarung. Oerlinghausen [Betanien] 2014.