Luther und Calvin – zwei Reformatoren, eine Reformation
Im letzten Artikel (Bekennende Kirche Nr. 38, September 2009, S. 12–14) wurde auf Luthers und Calvins gemeinsame Betonung der Rechtfertigung durch den Glauben allein (sola fide) als entscheidendes „Herzstück der Religion“ hingewiesen. „… die Gerechtigkeit vor Gott, … kommt aus dem Glauben an Jesus Christus …“ Es kommt auf Gottes Gnade allein an. Was der Mensch tut, auch das Beste, auch das Hervorragendste, trägt nicht das Geringste zu seiner ewigen Seligkeit bei. Gleichwohl ist Gehorsam gegenüber Gott und seinem Wort notwendig, allerdings nicht als Leistung, um etwas zu erwerben, sondern als Dankbarkeit gegenüber Gott – für seine alles umfassende Gnade in Christus.
„Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten“
Dass Calvin mit Luther bei der Frage der Rechtfertigung einer Meinung war, geriet schon bald nach Luthers Tod (1546) weitgehend in Vergessenheit. Statt auf die Gemeinsamkeiten zu achten, wurden Akzentunterschiede zwischen Luther und Calvin, auch aufgrund von Einseitigkeiten bei einigen ihrer Nachfolger, im Laufe der Jahrzehnte und der Jahrhunderte zu Gegensätzen stilisiert. Dies führt bis heute zu der inakzeptablen Situation, dass von beiden „Seiten“ Aussagen über den jeweils „anderen“ Reformator gemacht werden, ohne dass man ihn gelesen hat.
Bei Luther und Calvin persönlich verhielt sich das noch anders. Genügend schriftliche Hinweise bzw. Äußerungen belegen, dass sie sich gegenseitig nicht nur geschätzt, sondern tatsächlich auch Texte des Anderen gelesen und positiv bewertet haben. Darüber hinaus wussten sich beide dem 8. Gebot (nach lutherischer Zählung) bzw. dem 9. Gebot (nach Calvins Zählung) verpflichtet: „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten„. Sowohl Luther als auch Calvin haben dieses Gebot in Schriften, zum Beispiel in Katechismen, ausführlich ausgelegt. Ob Theologen, Historiker heutzutage dieses Gebot noch ernst nehmen?
„Die Wahrheit in Liebe“
Dass es freilich nicht nur Akzentunterschiede zwischen Luther und Calvin gab, sondern dass später manche Differenz zu scheinbar unüberbrückbaren Positionen anwuchs, ist nicht zu leugnen. Wichtig ist, gerade im Blick auf die biblische Forderung zur Wahrheit und zur Liebe (Eph. 4,15: „Lasst uns die Wahrheit in Liebe reden …„), am reformatorischen Grundsatz Luthers, Calvins und anderer Reformatoren, zurück zu den Quellen [„ad fontes„] – festzuhalten. Jeder, der sich zu den beiden Reformatoren äußern möchte, ist gut beraten, ihre Schriften selbst zu lesen.
Erwählung
Gerade beim Thema „Erwählung“ (oder „Vorherbestimmung“/“Prädestination“) wird immer wieder auf große Unterschiede zwischen der Theologie Luthers und derjenigen Calvins und vor allem ihrer jeweiligen Vertreter hingewiesen. Allerdings wird dabei leicht vergessen, dass Calvin nicht der „Erfinder“ der Erwählungslehre war oder als erster die Erwählungslehre „entworfen“ hat. Nicht nur bewegt sich Calvin beim Thema der Erwählung „ganz in den Spuren Augustins“. Vielmehr lässt seine Darlegung der Erwählung, die ja unter anderem im Römer- und Epheserbrief thematisiert wird, „eine deutliche Verwandtschaft mit dem frühen Luther und vor allem mit Bucer erkennen“.
Luther – Vom unfreien Willen
Bekanntlich hat Luther mit seiner Schrift „Vom unfreien Willen“ (1525) in seiner berühmten Auseinandersetzung mit Erasmus die Erwählung vertreten. Sehr prägnant formulierte er seine Überzeugung bereits in seinen Thesen gegenüber der scholastischen Theologie (1517), These 29: „Die beste und unfehlbare Vorbereitung und die einzige Befähigung zur Gnade ist die ewige Wahl und Vorherbestimmung Gottes“.
Etwa ein bis zwei Jahre zuvor (1515/16), in seinem Kommentar zu Römer 8,28 („Wir wissen aber, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen, die nach dem Vorsatz berufen sind„) schrieb Luther: „Diese Stelle ist bestimmend für den gesamten folgenden Text bis zum Ende des Kapitels. Denn er [Paulus] stellt fest, dass der Geist den Erwählten, die von Gott geliebt werden und ‚die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen‚ lässt, auch wenn sie eigentlich schlecht sind. Damit kommt er allmählich dazu, nein, er beginnt hier bereits damit, über den Gegenstand der Vorherbestimmung [Prädestination] und der Erwählung zu sprechen; sie ist nicht so unergründlich, wie man meint, sondern den Auserwählten und jenen, die den Geist besitzen, vielmehr lieb und wert, der Klugheit des Fleisches dagegen über alle Maßen widerwärtig und unerträglich.“
Von Wittenberg nach Genf
Dass in den späteren Schriften Luthers andere Themen in den Vordergrund gerückt sind und der ältere Luther sich wenig zu Erwählung bzw. Prädestination geäußert hat, ist bekannt und hat in gewissem Maße mit seinem Umfeld und seinem theologischen Wirkungskreis zu tun.
Während die Reformation im deutschsprachigen Raum zum Großteil von Fürsten und Herrschern getragen und gefördert wurde, die nicht zuletzt deswegen eine ganz zentrale Rolle in der Durchsetzung der Reformation spielten, war die Lage in Frankreich völlig anders. In Frankreich hegte man die Hoffnung, dass sich die Reformation auch am französischen Hof durchsetzen könne. Besonders Calvin setzte sich mit seiner umfangreichen Korrespondenz dafür ein. Sein Widmungsbrief an König Franz I., der allen Ausgaben seiner Institutio zwischen 1536 und 1561 vorangestellt war, bezeugt dies. Aber leider ist das Gegenteil passiert. Gerade die zentralistische Struktur des französischen Staates verhinderte schließlich die Durchführung der Reformation in Frankreich. Die traurige Geschichte Frankreichs im 16. und 17. Jahrhundert erreichte mit der lang anhaltenden Verfolgung der Hugenotten ihren Tiefpunkt. Genf hatte schon zur Leb- und Wirkungszeit Calvins mit einer schier nicht aufhörenden Welle von Glaubensflüchtlingen zu tun. Für sie war Prädestination als Trostverkündigung von wesentlicher Bedeutung. Für einen Gläubigen, der alles um des Glaubens an Christus willen verloren hat, ist der Trost der Schrift, von Gott erwählt worden zu sein, von immenser Tragweite.
Erwählung in Christus
Als „Ordnung von Gottes Barmherzigkeit“ weist Calvin auf Römer 8,30 hin. Die „ewige Erwählung werde in der Berufung und der Rechtfertigung sichtbar.“ Immer wieder fällt bei ihm auf, dass die Erwählung „in Christus“ erfolgt ist. Mit anderen Worten: Es besteht ein enger, untrennbarer Zusammenhang zwischen der Lehre von Christus und der Erwählung.
Im neuen Calvin–Handbuch ist das folgendermaßen formuliert: „In der Annahme der menschlichen Natur liegt das Paradigma dessen, was Gott vor hat: die Rettung des Menschen. Das ist das Ziel und dieses Ziel liegt in Gott selbst. Das bedeutet eine enge Verbindung zwischen Christus und der Erwählung. Nach Calvins Verständnis kann man nicht die Enthüllung des Erbarmens Gottes, wie sie in der Fleischwerdung stattfindet, diskutieren ohne gleichzeitig auf den Grund des Erbarmens zurückzuverweisen: Gottes ewige Erwählung.“
Die Erwählungslehre als Trost und Grund zur Dankbarkeit
Auf der anderen Seite ist die Erwählung bei Calvin nicht etwas einheitlich Abgeschlossenes, Statisches. Nicht nur gibt es bestimmte Entwicklungen in seiner Erwählungslehre, sondern auch die Art, wie er die damit zusammenhängenden Themen behandelt, ist von Gattung zu Gattung unterschiedlich. Nicht zuletzt in seinen Predigten sind seine Ausführungen gemäß der Heiligen Schrift über die Erwählung davon geprägt, Glaubensflüchtlingen Trost zu bieten, auch wenn sie Haus und Habe verloren hatten, manchmal allein mit ihrem Leben den römisch-katholischen Verfolgern entkommen waren oder wenn Glaubensbrüder sogar mit ihrem Leben zu bezahlen hatten. Ausschlaggebend sind die Ehre Gottes (nicht der Mensch trifft die Entscheidung, sondern allein der Vater in seiner Gnade durch Christus), das Heil des Menschen und die Treue zum biblischen Text. Da die Erwählung in der Heiligen Schrift vorkommt, kann man dieses Thema in der Auslegung der Bibel nicht umgehen. Zugleich versucht Calvin der Tatsache, dass es offensichtlich nur wenige Gläubige gibt, gerecht zu werden. Er will zwei Linien nicht loslassen: Erstens: Derjenige der glaubt, tut das einzig und allein aus der Gnade Gottes (vgl. Eph. 2,1–10). Zweitens: Wer nicht glaubt, handelt aus eigenem Ungehorsam. Einerseits gilt: Nicht der Mensch entscheidet, sondern Gott. Andererseits bleibt bestehen: Derjenige, der nicht glaubt, darf Gott deswegen keinen Vorwurf machen. Seit dem Sündenfall im Paradies sind wir alle schuldig.
Der Hinweis auf die Verworfenen soll den Gläubigen nicht nur zur Dankbarkeit gegenüber Gott bringen, sondern auch zum Eifer für die Mission führen. Inzwischen wurde von mehreren Forschern der Missionsgeschichte darauf hingewiesen, dass Calvins Überzeugung von der Erwählung für namhafte Missionsinitiativen ausschlaggebend war, die später in Kirchen reformierter bzw. calvinischer Herkunft entstanden.
Soli Deo gloria und sola gratia
Grundsatz ist für Calvin: Jeder der glaubt, auch wir, die wir glauben, wären verloren, gäbe es nicht Gottes Güte in Christus. Dessen können wir – und sollen wir – gewiss sein: Nicht ich wähle Gott, sondern er wählt mich. In seiner Gnade schenkt und wirkt er in mir den Glauben, zu dem ich berufen bin.
Wenn also bei Calvin von Gnade die Rede ist, wird die Erwählung in Christus vorausgesetzt (vergleiche Eph. 1,3.4; 2Thess. 2,13; Röm. 8,28–30). Wenn von der Erwählung die Rede ist, wird zugleich stets die Gnade in Christus bekannt … und immer zum Trost im seelsorgerlichen Rahmen zur Ehre Gottes (vgl. Röm. 8,31ff.). Nach Calvin stellt das Bekennen zur Erwählung Gottes aus reiner Gnade – ohne jegliches menschliches Zutun, ohne menschliche Leistung, ohne menschliche Tüchtigkeit – Gottes Güte, Barmherzigkeit und Alleinwirksamkeit auf den Leuchter. Für Calvin ist die Erwählung „ein Anlass zu tiefer Demut“. An mehreren Stellen verbietet es Calvin ausdrücklich, über die Anzahl der Erwählten und Verstoßenen zu spekulieren oder über den eigenen und den Stand anderer Menschen Mutmaßungen anzustellen.“ Wie Reiner Rohloff schreibt: „Calvins Lehre von der Prädestination unterstreicht die Souveränität Gottes und bringt gleichzeitig Gottes Liebe zum Ausdruck, die er den Menschen in Jesus Christus erklärt.“ Ihm sei die Ehre, ihm allein!
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