Sprich nicht: „Wie kommt es, dass die früheren Tage besser waren als diese?“ Denn nicht aus Weisheit fragst du so!
Wenn wir diese Anweisung aus dem vielfach unbekannten und gelegentlich leider auch wenig geschätzten Buch recht verstehen, zerbricht sie in unserem Leben einen lähmenden Bann, versetzt uns in einen weiten Raum und
vermittelt uns eine frohmachende, befreiende Perspektive.
Indem dieser Vers uns davor warnt, auf die Vergangenheit fixiert zu sein, weist er uns den Weg, in der Gegenwart zu leben. Der Prediger begründet diese Anweisung damit, dass das Fragen, wie es wohl komme, dass die früheren Tage besser gewesen seien, ein törichtes Fragen ist: „Nicht aus Weisheit fragst du so!“
Dieses Wort will uns also Weisheit lehren.
Mehr noch: Dieser Ausspruch aus Gottes inspirierter Heiliger Schrift stammt von der allerhöchsten Weisheit. Das Neue Testament erklärt, dass Jesus Christus selbst die uns von Gott gemachte Weisheit ist (1Kor. 1,30). Aus diesem Blickwinkel ist das, was uns über die Weisheit im Alten Testament mitgeteilt wird, nur verständlich, wenn wir es nicht getrennt von Christus hören. Wir haben es hier mit einer Aussage des guten Hirten zu tun, der uns davor bewahren will, in die Irre zu gehen. Er weist uns auch hier die Richtung, um zu einer geistlich fruchtbaren, saftigen Aue zu gelangen.
2. „Früher war alles besser“
Im ersten Augenblick könnte man beim Lesen dieses Wortes den Eindruck bekommen, es sei Wasser auf die Mühle derjenigen, die schon längst nicht mehr das Gerede ertragen können, früher sei alles besser gewesen.
Zweifellos kann es nicht nur jungen Leuten gehörig auf die Nerven gehen, wenn sie immer wieder zu hören bekommen: „Zu meiner Zeit…“; „als ich noch jung war…“; „wenn du wüsstest, wie es damals war …“. Nicht selten führt eine solche Lagebeurteilung zum Ende jedes Gesprächs. Nicht nur ist es für niemanden sonderlich erbaulich, sich „volltexten“ zu lassen mit der Botschaft, alles gehe den Bach runter. Was sollen eigentlich junge Leute mit einer solchen Mitteilung anfangen? Wem nützt sie etwas? Sollen sich vielleicht die so Informierten dafür entschuldigen, dass sie erst jetzt leben?
Gebietet dieses Wort also das Umgekehrte zu denken? Fordert dieser Vers auf, jedem Schwarzseher entgegenzutreten und ihm zu erklären: Höre auf mit deinem ewigen Reden von dem besseren Gestern! Haben wir uns also nach der folgenden Melodie zu richten: Die Welt sei gar nicht schlimmer geworden, als sie es früher war. Wenn uns heute die Welt schlimmer erscheine, dann liege das daran, dass wir gegenwärtig mit Informationen überflutet werden. Durch die Medien sei unsere Welt erheblich kleiner geworden, als sie es noch vor zwei oder drei Generationen war. Wir erführen heute mehr und wesentlich schneller, wenn etwas Schreckliches passiert. Aber, so die Argumentation weiter: Objektiv schlechter geworden sei diese Welt nicht. Ja, im Grunde sei heutzutage alles besser als in früheren Zeiten: Wer will denn im Fall einer schweren Krankheit ernsthaft gerne in einen Operationssaal aus dem 19. Jahrhundert geschoben werden, als es noch keine (richtigen) Betäubungsmittel gab? Jeder von uns würde es doch vorziehen, lieber heute sich einer Operation zu unterziehen als damals. Also bitte: Es wird auf dieser Welt besser! Auch dass die Verbrechensquote auf unseren Straßen zugenommen habe, sei nicht wahr. Die Statistiken, so die Argumentation weiter, beweisen es. Vielmehr habe in unserem Gemeinwesen lediglich die Angst vor Gewalttätigkeiten zugenommen.
Müssen wir uns angesichts des oben zitierten Schriftwortes also einer solchen Gedankenführung anschließen? Oder müsste man dem jetzt wieder entgegenhalten, dass man mit Statistiken außerordentlich geschickt manipulieren könne, so dass damit alles und nichts zu beweisen sei?
Wenn man eine Diskussion auf dieser Ebene weiter verfolgen würde, würden die vorgebrachten Argumente zweifellos noch eine ganze Weile hin- und hergehen, und was jeweils an Beweismitteln vorgebracht würde, ist ziemlich vorhersagbar.
Aber lassen wir das jetzt und stellen stattdessen die Frage: Was lehrt die oben zitierte Anweisung aus dem Wort Gottes? Worauf legt die Aufforderung „Sprich nicht: Wie kommt es, dass die früheren Tage besser waren als diese,“ den Finger? Ist es tatsächlich der Sinn dieses Verses, bei uns die Einstellung zu fördern, die besagt: Es wurde schon immer über den Verfall der Sitten geklagt, aber im Grunde ist das alles halb so wild?
Wir wollen einmal sorgfältig lesen und aufmerksam darauf achten, was hier geschrieben steht und dabei den Zusammenhang nicht außer Acht lassen. Denn nur dann geraten wir nicht auf einen falschen Denkweg, sondern finden den springenden Punkt.
3. Mensch, ärgere dich nicht
Wenn man diesen Vers so auslegen würde, wie es im Rahmen der eben geschilderten Diskussion erfolgt, kommt einem in den Sinn, dass ja an vielen anderen Stellen das Wort Gottes uns geradezu auffordert, auf die Vergangenheit zu achten. Gott gebietet uns, auf die Geschichte zu merken und aus ihr zu lernen, nicht zuletzt auch um die nächste Generation zu belehren.
Als ein Beispiel unter vielen nehmen wir nur einmal den Psalm 78: Eltern sollen ihren Kindern die Geschichte Gottes mit seinem Volk erzählen (Ps. 78,1-8). Konkret schildert dieser Psalm dann, dass Gott wegen der Sünden seines Volkes, am Ende der Richterzeit die Stämme Israel faktisch verwarf. Das begründet der Psalm ausführlich anhand der Ungerechtigkeiten des damaligen Hauptstammes in Israel, des Stammes Ephraim (Ps. 78,9-67). Stattdessen erwählte Gott einen Mann nach seinem Herzen aus dem Stamm Juda, David (Ps. 78,68-72).
Wenn aber sonst die Heilige Schrift so stark betont, dass wir aus dem früheren Handeln Gottes mit seinem Volk lernen sollen, kann es dann überhaupt sein, dass das Wort aus dem Buch Prediger genau die entgegengesetzte Botschaft verkündet? Will dieser Vers wirklich ein moralisches Desinteresse im Blick auf die Gegenwart vermitteln? Haben wir diesen Vers so zu verstehen, als würde er lauten: Es ist nicht weise auf die früheren Tage zu achten?
Aber noch eine Vorüberlegung zum Verständnis dieses Verses: Weist die Bibel selbst nicht immer wieder auf das Schlechterwerden der Zeiten hin? Nehmen wir nur folgende Aussage des Apostels Paulus: „Das aber sollst du wissen, dass in den letzten Tagen schlimme Zeiten eintreten werden…„(2Tim. 3,1).
Kurzum: Die sonstigen Aussagen der Heiligen Schrift veranlassen uns zumindest vorsichtig zu sein, dieses Wort so auszulegen, als ob es uns auffordern würde, die moralischen Unterschiede zwischen gestern und heute einzuebnen. So als ob dieser Vers verlangen würde, unsere Ohren auf Durchzug zu stellen, wenn wieder einmal jemand auf die seit einem halben Jahrhundert herrschende grauenhafte Abtreibungspraxis in unserem Land hinweist, oder wenn wieder jemand auf die gerade vor unseren Augen sich vollziehenden verheerenden Entwicklungen den Finger legt, die wir in der „Familienpolitik“ erleben, ein Vorgehen, das ja einzig und allein von dem Interesse geleitet ist, dass die Kinder Schritt für Schritt ihren Eltern entrissen und verstaatlicht werden.
Was aber, so fragen wir, will dann der Heilige Geist mit der Aufforderung vermitteln, nicht zu fragen, wie es komme, dass die früheren Tage besser gewesen seien?
Tatsächlich ruft uns dieses Wort keineswegs zu einer moralischen Gleichgültigkeit auf. Genau gelesen prangert dieser Vers noch nicht einmal das Untersuchen an, ob sich die Zeiten (zum Schlechteren) verändert haben. Dem Prediger geht es überhaupt nicht um die Berechtigung oder Nichtberechtigung eines historischen Vergleichs. Salomo sagt hier auch keineswegs: Wenn du die früheren Zeiten für besser hältst, dann irrst du.
Das, was er hier als unweise anprangert, ist die Einstellung, mit der man mit seinen Beobachtungen und Feststellungen umgeht. Dies wird aus dem unmittelbar davor stehenden Vers deutlich: „Lass dich nicht schnell zum Ärger (oder: Nörgeln) hinreißen, denn der Ärger (die Nörgelei) ruht in der Brust des Toren.“ (Pred. 7,9).
Das Törichte am Sprechen über die ehemals besseren Tage ist der Missmut, aus dem heraus man so spricht. Das Reden über die „gute alte Zeit“ erfolgt nicht selten aus einer griesgrämigen Haltung heraus. Ein Sprechen in einer solch mürrischen Weise ist deswegen unweise, weil es für die Gegenwart unfruchtbar ist.
Nehmen wir einmal an, wir haben eine Weile darüber gebrütet, „wie es kommt, dass…„. Nehmen wir weiter an, wir sind zu der Erkenntnis gelangt, dass in ethischer Hinsicht früher vieles den Zehn Geboten eher entsprochen habe, als es gegenwärtig der Fall ist. Was heißt das für uns?
Wenn uns diese Feststellung in eine passive Zuschauermentalität treibt oder sonstwie als Anlass zur Gebetsmüdigkeit oder Tatenlosigkeit dient, dann ist ein solches Sprechen töricht. Dann rührt es aus einem Unwillen gegenüber dem jetzigen Leben, und dann hat niemand davon einen Vorteil. Eine solche Einstellung treibt in die Resignation. Sie macht trübsinnig und griesgrämig. Etwas später wird Salomo in seinem Buch kategorisch auffordern: „Entferne den Unmut aus deinem Herzen!“ (Pred. 11,10). Genau darum geht es in dem Vers, der diesem Grußwort zugrunde liegt: Mensch, höre auf, an dieser Welt herumzuquengeln und dich in deine Bärbeißigkeit hineinzusteigern. Vielmehr setze deine Lebensjahre für das ein, was vor Gott zählt.
4. Wir alle ziehen Vergleiche
Salomo weiß, dass es uns aufgrund unserer Geschöpflichkeit im Blut liegt, Beobachtungen zu machen und sie in einen Zusammenhang zu stellen und nach Erklärungen zu suchen. Das betrifft selbstverständlich auch unsere Deutungen über die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft.
Das Buch Prediger weiß ferner, dass wir alle Sünder sind. Als Nachkommen Adams und Evas teilen wir alle deren Strafe. Nach dem Sündenfall wurden die beiden ersten Menschen aus dem Garten Eden verstoßen. Seitdem haben wir alle unsere Heimat, für die wir eigentlich bestimmt sind, nämlich in Gemeinschaft mit Gott zu leben, verloren. Aber das, was wir nicht verloren haben, ist unsere Sehnsucht nach der Heimat, nach der heilen Welt.
Das zeigt uns bereits ein Blick auf die namhaften Philosophen des Abendlandes. Nahezu alle Weltweisen sprachen von einem „goldenen Zeitalter“. Das stellten sie sich entweder in der Vergangenheit vor oder in der Zukunft. Auch außerhalb unseres Kulturkreises gab und gibt es entsprechende Vorstellungen bei allen Menschen.
Vergleichbare Gedanken finden wir auch in unserem kleinen privaten Leben. Kinder hegen die Hoffnung, endlich erwachsen zu werden, weil sie dort „das Leben“ vermuten. Umgekehrt richtet sich die Sehnsucht älterer Menschen auf die früheren Tage, auf ihre Jugendzeit. Manchmal überfällt uns ein solches Verlangen gerade in Zeiten, in denen unser Leben sehr spannungsgeladen ist.
So erging es einmal David. Er hatte sich Hals über Kopf auf die Flucht vor Saul begeben müssen. In abgrundtiefem Hass hatte der König nicht nur bereits mehrmals seinen Speer gegen den Harfenspieler geschleudert, sondern er hatte ihn schon von einer Stadt in die andere verfolgen lassen. Auf Anraten Jonathans sah David nun keine andere Möglichkeit mehr als in entlegenere Gebiete zu entweichen. Auf Umwegen kam er dann ins karge jüdische Bergland. Als Behausung diente ihm die Höhle Adullam. Nicht nur Saul war ihm auf den Fersen. Auch die Philister, bei denen David sich kurz zuvor noch aufgehalten hatte, machten die dortige Gegend unsicher.
In dieser höchst gefahrvollen, zum Zerreißen gespannten Lage, überfiel David plötzlich Heimweh. Auf einmal packte ihn die Sehnsucht nach jener Phase seines Lebens, als ihm noch alles so übersichtlich, so friedlich, so idyllisch schien. Ihn erfasste ein einziger Wunsch: Noch einmal wollte er das Wasser aus der Zisterne seiner Heimatstadt Bethlehem schmecken. Noch einmal wünschte er, auf seiner Zunge und in seinem Gaumen den Geschmack zu spüren, der ihm aus seiner Kindheit und Jugendzeit so vertraut war. (2Sam. 23,13-15).
Wer wollte David diese Sehnsucht nach der vermeintlich „heilen Welt“ übel nehmen? Wohl niemand von uns wird behaupten, er sei noch nie in die Versuchung geraten, sich zumindest gedanklich in die Vergangenheit zurückzuziehen.
Aber Salomo weist in unserem Vers darauf hin, dass darin eine Gefahr liegt. Die Gefahr besteht darin, dass man sich dermaßen in die Vergangenheit hineinträumt, dass man für die Gegenwart nur noch Missmut und Unzufriedenheit übrig hat. Wenn dieser Fall eintritt, ist man für das Leben im Hier und Jetzt mit den dazugehörigen Verantwortungen unbrauchbar. Deswegen: „Sprich nicht: Wie kommt es, dass die früheren Tage besser waren als diese? Denn nicht aus Weisheit fragst du so!“
5. Schlechte Zeiten, gute Zeiten?
Wenn wir den oben zitierten Vers in seinem Umfeld zur Kenntnis nehmen, werden wir auf einen weiteren Grund aufmerksam gemacht, warum es nicht „aus Weisheit ist„, diese Frage aufzuwerfen. Der Grund ist: Wir wissen überhaupt nicht, was in Wahrheit für unser Leben besser oder schlechter ist. Salomo formuliert dies folgendermaßen: „Wer weiß, was für den Menschen gut ist im Leben, während der gezählten Tage seines nichtigen Lebens, die er wie ein Schatten verbringt? Wer will dem Menschen sagen, was nach ihm sein wird unter der Sonne?“ (Pred. 6,12).
Wenn wir unser Leben aus der Perspektive unseres irdischen, begrenzten Horizontes heraus wahrnehmen, ist vieles „wie ein Schatten„. Das heißt: Unser Leben bleibt für uns dunkel.
Der Prediger warnt nicht nur davor, auf die früheren Tage als die besseren missmutig fixiert zu sein, sondern er wirft auch die Frage auf: Weißt du eigentlich, was für deine Seele wirklich gute Zeiten und was in Wahrheit schlechte Zeiten sind?
Im Folgenden hinterfragt Salomo anhand von sieben Beispielen die bei uns normalerweise herrschenden Maßstäbe. Zumindest rüttelt er gehörig an den Rastern unserer üblichen Lebenskategorien. Gehen wir einmal kurz auf die Beispiele ein.
„Besser ist ein guter Name als wohlriechendes Salböl“ (Pred. 7,1a). Öl war zu jener Zeit etwas sehr Kostbares. Es wurde zur Körperpflege, als Heilungsmittel oder als Parfüm verwendet. Jeder konnte sich glücklich schätzen, wenn er über einen gehörigen Vorrat dieses kostbaren Stoffes verfügte und eventuell sogar Handel damit treiben konnte. Aber der Prediger ruft auf: „Achte auf deinen guten Namen!“ Wenn man um des materiellen Gewinns willen Unkorrektheiten riskiert, kommt man sich vielleicht im ersten Augenblick sehr geschäftstüchtig vor. Aber Vorsicht! Äußerer Reichtum ist nicht so viel wert wie ein guter Ruf!
Das zweite Beispiel dürfte unseren gewohnten Lebensmaßstäben noch mehr zuwiderlaufen: „Besser ist der Tag des Todes als der Tag der Geburt“ (Pred. 7,1b). Natürlich will Salomo nicht sagen, dass wir uns nicht über ein neugeborenes Baby freuen dürfen. Aber bei aller Freude sollten wir eines nicht aus dem Auge verlieren: Am Tag der Geburt ist vieles im Leben des kleinen Schreihalses ungewiss: Was wird aus ihm werden? Wird er das Leben meistern? Demgegenüber kann man am Todestag das Leben eines Menschen überblicken und halbwegs Bilanz ziehen.
Das dritte Beispiel überrascht noch mehr: „Besser man geht in das Haus der Trauer als in das Haus des Festgelages“ (Pred. 7,2a). Also soll man lieber auf einen Friedhof gehen als auf eine Party? Salomo bejaht diese Frage, und er erklärt auch gleich warum: Vergnügungsfeste haben den Nachteil, dass sie uns die Endlichkeit unseres Daseins vergessen lassen, während das im Trauerhaus nicht möglich ist. Folglich werden wir bei einer Beerdigung eher darauf gestoßen, dass dieses Leben nicht ein Spaß ist, sondern dass es Ewigkeitswert hat und Gott einmal von uns über unsere Lebensführung Rechenschaft verlangen wird.
In eine ähnliche Richtung geht der vierte Vergleich: „Besser ist Kummer (oder: Verdruss) als Lachen“ (Pred. 7,3a). Weil uns gemeinhin diese Werteskala so wenig einleuchten will, liefert der Prediger auch hier gleich die Begründung: „Wenn das Angesicht traurig ist, so wird das Herz gebessert.“ Mit anderen Worten: An und für sich betrachtet ist Kummer nicht etwas Erstrebenswertes. Aber wenn wir Scherze treiben und Witzchen machen, ist es kaum möglich, unser Leben („Herz„) auf die wahre Wirklichkeit zu lenken. Das verhält sich in Zeiten, die von Kummer und Leid geprägt sind, häufig anders – gemäß dem Sprichwort, dass Not beten lehrt.
Im fünften Beispiel geht es darum, ob wir aus dem Applaus, den man uns spendet, auf gute Tage schließen dürfen. Salomo gibt zu bedenken: „Besser ist es, auf den Tadel des Weisen zu hören, als dem Gesang der Narren zu lauschen“ (Pred. 7,5). Im ersten Augenblick ist die Kritik, die man einstecken muss, schmerzlich. Vielleicht verletzt sie sogar oder kostet eine schlaflose Nacht. Aber mitunter ist Tadel heilsamer als aus welchen Motiven auch immer uns entgegengebrachte Schmeicheleien, Komplimente oder Lobhudeleien.
Auch das sechste Beispiel ist uns gegeben, um unsere üblichen Lebensmaßstäbe kritisch zu beleuchten: „Besser ist der Ausgang (das Ende) einer Sache als ihr Anfang“ (Pred. 7,8a). Dass wir die Wirklichkeit insgesamt nicht zu überblicken vermögen, wird genau daran deutlich, dass wir bei einem gerade in Angriff genommenen Projekt nicht wirklich wissen, welche Schwierigkeiten auftreten werden und wo und wie es enden wird. Nachdem man dann zum Abschluss gelangt ist, weiß man das und kann Bilanz ziehen, ob sich der Einsatz gelohnt hat.
Schließlich siebtens: „Besser ein Langmütiger als ein Hochmütiger“ (Pred. 7,8b).
Hier werden wir darauf aufmerksam gemacht, dass nicht jeder überhebliche Aufschneider, der so tut, als habe er im Leben den großen Durchblick, tatsächlich auch am Ende als Gewinner vom Platz gehen wird. Mit Langmut, Beharrlichkeit, Durchhaltevermögen bringt man es im Leben weiter als mit arroganter Selbstgefälligkeit.
Halten wir fest: Das Wort Gottes will uns mit diesen sieben Beispielen nicht unsere Lebensstimmung vermiesen. Es heißt ja auch nicht, dass Salböl, Geburtstage, Feiern, Lachen und Fröhlichkeit schlecht sind. Vielmehr wird uns hier die Frage vorgelegt: Weißt du wirklich, was für dein Leben jeweils das Bessere ist? Weißt du wirklich so genau, was für deine Seele schlechte und gute Tage sind? Haben wir noch nie die Erfahrung gemacht, dass manches, was uns im ersten Augenblick als negativ erschien, sich im Nachhinein als positiv herausgestellt hat, während manches, dem wir mit großen Erwartungen entgegenblickten, sich rückblickend als ein totaler Blindgänger erwies?
Wenn man in seinem Leben bereits auf ein paar Jahrzehnte zurückblicken kann, dann fällt auf, was einem während dieser Zeit nicht schon alles an Zeitanalysen vorgegaukelt wurde: Als ich meine Teenagerzeit durchlebte, pflegte man in der Öffentlichkeit die Wirklichkeit unter dem „Prinzip Hoffnung“ zu deuten: Nahezu jede utopische Vorstellung schien im Bereich des Möglichen zu liegen. Weniger als 15 Jahre später wurde unsere Gesellschaft von der genau entgegengesetzten Sichtweise geprägt: No future. Angesichts des Wettrüstens zwischen Ost und West gehörte es sich für Intellektuelle, die Welt möglichst pessimistisch zu betrachten.
Dann kam Ende der 80er Jahre die so genannte Wende. Erneut blickte man voller Träume und Erwartungen in die Zukunft. Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks hörte man sich (mehr oder weniger) interessiert die Prognosen der „Sachverständigen“ über einen bevorstehenden großartigen Weltfrieden an. Dann kam der 11. September 2001…
Und heute haben wir die Möglichkeit, unser Geschichtsbild aus einem breiten Angebot zusammenzustellen: Auf der einen Seite stehen da die esoterischen Weltverschwörungstheorien und auf der anderen Seite die „One world“-Träumereien: Alles ist auf dem postmodernen Markt zu bekommen.
Das Wort Gottes macht uns nachdrücklich darauf aufmerksam, dass die Sichtweise auf unsere Wirklichkeit und auf unser Leben einem Blick durch eine beschlagene Brille gleicht: In Wahrheit erkennen wir sehr, sehr wenig. Gerade in den ersten Kapiteln des Buches Prediger werden wir immer wieder auf diese Wahrheit verwiesen: Unsere vermeintliche Erkenntnis über unser Leben ist sehr nebulös, und „unter der Sonne“ ist unser Horizont sehr begrenzt.
Als das Volk Israel aus der Babylonischen Gefangenschaft heimgekehrt war und den Tempel gebaut hatte, da freuten sich manche, weil sie endlich wieder ein Gotteshaus hatten, in dem sie Gott loben und anbeten konnten. Anderen aber erschien der neue Tempel kümmerlich und kläglich. Als sie ihn in Augenschein nahmen, brachen sie in Weinen aus. Namentlich waren diejenigen tief erschüttert, die noch den ersten Tempel gekannt hatten (Esra 3,12).
Der Prophet Haggai, der zum Bau des Tempels aufgerufen hatte, bestritt nach der Fertigstellung nicht, dass das Bauwerk äußerlich wenig Eindruck mache. Aber er legte den Finger auf die Kurzsichtigkeit der aus dem Exil Heimgekehrten, und er gab ihnen eine Verheißung Gottes und damit eine neue Blickrichtung: „Die Herrlichkeit dieses Hauses wird größer sein als die Herrlichkeit des ersten Hauses.“ Sie wird deswegen größer sein, weil „das Ersehnte aller Nationen“ kommen wird, so dass dann nicht mehr nur Menschen aus dem Haus Israel, sondern Menschen aus allen Nationen Gott anbeten werden. Ja, durch die dann erfolgende weltweite Verkündigung des Evangeliums werden Himmel und Erde erschüttert werden (Hag. 2,1-9; Hebr. 12,25-29). Der Apostel Paulus bringt diese herrliche Wahrheit folgendermaßen auf den Punkt: Es entsteht jetzt ein geistlicher Tempel, der aus den an Christus gläubigen Juden und Heiden besteht (Eph. 2,11-22). Das gewaltige Geheimnis ist, dass auch die aus den Nationen Miterben und mit zum Leib Gehörige und Mitteilhaber seiner Verheißung in Christus durch das Evangelium sein werden (Eph. 3,6).
Die aus der Babylonischen Gefangenschaft Heimgekehrten, die nur das Gebäude auf dem Berg in Jerusalem sahen, hatten solange Tränen in den Augen, bis sie Gottes Verheißungen erblickten.
Kurzum: Weil wir nicht wirklich wissen, was für unser Leben bessere Tage und schlechtere Tage sind und auch nicht überblicken können, was für das Volk Gottes wirklich förderlich ist, ist es „nicht aus Weisheit“ zu sprechen: „Wie kommt es, dass die früheren Tage besser waren?“
6. Aus Weisheit fragen
Die Anweisung, nicht zu fragen, wie es komme, dass die früheren Tage besser waren, begründet der Prediger damit, dass eine solche Fragerei „nicht aus Weisheit“ erfolgt. Diese Begründung sollten wir nicht auf die leichte Schulter nehmen.
Bei dem Urteil, unweise zu sein, geht es nämlich nicht darum, dass intellektuelle Defizite kritisiert werden. Es geht auch keineswegs nur um die Warnung, dass wir durch ein Fixiertsein auf die Vergangenheit für die Gegenwart unbrauchbar werden. Das Urteil, unweise zu sein, reicht auch tiefer, als wenn man sich lediglich in die Meinung hineinsteigert, man würde tatsächlich Bescheid wissen, was für die eigene Seele gut ist.
„Nicht aus Weisheit“ zu leben, heißt, ein Leben zu führen, in dem man Gott losgelassen hat. Ein unweises Leben ist ein Leben, in dem Gott nicht vorkommt, in dem der Allmächtige nichts zählt.
Das nörglerische Sprechen, wie es denn komme, dass die früheren Tage besser waren als diese, offenbart also eine gottlose Herzenseinstellung. Es zeigt Unglauben gegenüber Gott. Es ist Unglaube zu meinen, dass Gott mit meinem Leben heute nichts anfangen könne. Denn dann hat man sich in den Wahn hineingesteigert, der Ort, an dem man sich befindet, und die Zeit, in der man lebt, würden es Gott unmöglich machen, dass wir ein ihm wohlgefälliges Leben führen können.
Kurz nach dem Vers, der diesem Grußwort zugrunde liegt, betont der Prediger, wie ein Leben „aus Weisheit“ aussieht. Er zeigt auf, wie ein Weiser diese Welt anschaut: „Betrachte das Werk Gottes! Wer kann gerade machen, was er gekrümmt hat? Am guten Tag sei guter Dinge, und am bösen Tag bedenke: Auch diesen hat Gott gemacht gleichwie jenen – wie ja der Mensch auch gar nicht herausfinden kann, was nach ihm kommt.“ (Pred. 7,13.14).
Gemäß diesem Wort heißt aus Weisheit leben, im Glauben davon überzeugt sein, dass Gott im Regiment sitzt. Es heißt vertrauen, dass dieser Gott mich heute hält und heute führt, auch wenn mir selbst manche Einzelheiten als „gekrümmt“ vorkommen, zumal was die weitere Zukunft anbelangt. Es ist auch nicht notwendig, das alles zu wissen.
Darin unterscheiden wir Sterblichen uns ja so grundlegend von unserem Herrn und Heiland. Jesus Christus wusste stets, was zu jeder Zeit dran war, und wann seine Stunde kam (Mt. 26,18.45; Joh. 2,4; 12,23; 17,1). Wir wissen das nicht. Aber was auch immer uns aufwühlt, wir können mit David im Glauben bekennen: „Meine Zeit steht in deinen Händen.“ (Ps. 31,16).
Mehr noch: Seit dem Sieg Christi auf Golgatha wissen wir, dass unsere Zeit eine erlöste Zeit ist. Es ist Heilszeit. Jesaja weissagt über den Knecht Gottes, also über Christus: „Das Vorhaben des Herrn, wird in seiner Hand gelingen.“ (Jes. 53,10). Dem zur Rechten der Majestät Gottes des Vaters sitzenden Sohn Gottes ist alle Gewalt gegeben, und wir dürfen uns darauf verlassen, dass ihm nichts aus der Hand gleiten wird.
Das heißt nicht, dass über uns nicht auch böse Zeiten kommen können. Aber es bleibt dabei: Christus regiert! Christus regiert heute!
Deswegen sollte niemand denken, er sei am falschen Platz, oder er sei zu spät geboren. Wenn man früher gelebt hätte, in der „guten alten Zeit“ (Wann war die eigentlich?), dann hätte man die Chance und die Möglichkeit ergriffen, ein geistliches Leben zu führen.
Überlege einmal, ob nicht gerade die Gegenwart unzählige Möglichkeiten bietet, ein Leben im Glaubensgehorsam zu führen.
Dieses Wort aus dem Buch Prediger zerbricht unsere geistliche Mattheit und Lahmheit. Es zerschlägt den Bann, der uns auf die Frage starren lässt wie ein Kaninchen auf die Schlange, wie es denn komme, dass früher alles besser gewesen sei.
Es ist möglich, es ist sogar sehr naheliegend, dass wir angesichts der gegenwärtigen Entwicklungen in unserem Volk („Homoehe“, Genderwahn usw.) in einsamen Stunden mit dem Psalmisten bekennen: „Tränenströme fließen aus meinen Augen, weil man dein Gesetz nicht befolgt.“ (Ps. 119,136). Bekanntlich weinte auch der Sohn Gottes über das abgefallene Jerusalem (Luk. 19,41).
Aber das ist dann nicht missmutiger Ärger oder Unwille, sondern Trauer. Vielleicht kann man es so formulieren: Wer über die gegenwärtige Zeit keine Trauer empfindet, ist nicht weise. Wer aber auf diese Zeit mit Grantigkeit und Nörgelei reagiert, der ist töricht. Für ihn gilt das Wort Jesu: „Wer seine Hand an den Pflug legt und zurückblickt, ist nicht geschickt für das Reich Gottes.“ (Luk. 9,62).