Die Lehre von der Allversöhnung und ihre Aufnahme im postmodernen Evangelikalismus

Die Lehre von der Allversöhnung und ihre Aufnahme im postmodernen Evangelikalismus

Laut dem amerikanischen Nachrichtenmagazin TIME zählt er gegenwärtig zu den hundert einflussreichsten Persönlichkeiten der Welt. Als Pastor einer amerikanischen „Mega-Gemeinde“ spricht er Woche für Woche zu zehntausend Menschen, die sich in einem ehemaligen Einkaufszentrum in Grand Rapids, Michigan, versammeln. Nicht zuletzt dank des Internets ist er aber auch in der globalisierten evangelikalen Gemeinschaft weithin bekannt. Seine jüngste Publikation schaffte es mühelos auf die Bestsellerliste der New York Times. Dass dieses Buch bereits weniger als einen Monat nach Erscheinen des englischen Originals und pünktlich zum Auftritt des Autors beim diesjährigen Willow Creek Jugendplus-Kongress in Düsseldorf in deutscher Übersetzung vorlag und in den hiesigen (christlichen) Buchläden angeboten wird, verwundert daher kaum. Die Rede ist von Rob Bell und seinem neuen Buch: Das letzte Wort hat die Liebe. Es trägt den vielversprechenden Untertitel: Über Himmel und Hölle und das Schicksal jedes Menschen, der je gelebt hat.1

Der Inhalt des Buches wurde bereits im Vorfeld seines Erscheinens auf zahlreichen Internetseiten sowie in den traditionellen Medien heftig diskutiert. Nicht wenige warfen Bell vor, darin die Lehre der Allversöhnung, also die endgültige Errettung ausnahmslos aller Menschen, zu vertreten und die Realität der Hölle zu leugnen, was dieser jedoch in einem Interview im amerikanischen Fernsehen vor laufender Kamera entschieden dementierte.

Jetzt, da sich der Nebel gelichtet hat und der Inhalt des Buches jedermann zugänglich ist, wird deutlich, was zu den unterschiedlichen Einschätzungen geführt hat. Obwohl sich Bell vielerorts klassischer Argumentationslinien der Lehre der Allversöhnung bedient, vermeidet er es sorgfältig, die ewige Seligkeit aller Menschen fest zu formulieren. In typisch postmoderner Manier stellt er eine Frage nach der anderen, bleibt aber oft klare und eindeutige Antworten schuldig. Nur eines scheint zweifelsfrei festzustehen: Die traditionellen Antworten, die in der Vergangenheit auf der Grundlage der Bibel2 seitens der christlichen Kirche(n) gegeben wurden, sind „schädlich“ und sollten somit nicht länger vertreten werden.

In diesem Artikel soll es nicht darum gehen, die Aussagen Bells in ihrer Fülle zu analysieren und zu besprechen. Vielmehr nehmen wir seine Ausführungen zum Anlass, für eine allgemeinere Auseinandersetzung mit der Lehre von der Allversöhnung. In einem ersten Schritt soll zunächst ein Abriss über ihre geschichtliche Entwicklung gegeben werden, ehe wir uns ihrer biblisch-exegetischen Begründung zuwenden, um sie schließlich im Licht des größeren systematisch-theologischen Zusammenhangs zu betrachten.

Die historische Perspektive

In der Einleitung zu seinem Buch betont Bell ausdrücklich, dass er „nichts Neues“ vorzutragen habe, sondern lediglich das wiedergebe, was „schon unzählige Male gesagt“ worden sei und im Einklang mit dem „geschichtlichen orthodoxen christlichen Glauben“ (S. 14) stehe. Tatsächlich wird man Mühe haben, in diesem Buch originelle Gedankengänge auszumachen, denen es an Parallelen in der Theologiegeschichte mangelt. Diesen Aussagen deshalb ohne weiteres den Stempel der „Rechtgläubigkeit“ (Orthodoxie) aufzudrücken, erscheint aber nicht zuletzt aus historischer Sicht als fragwürdig. Um dies zu zeigen, wollen wir uns zunächst dem geschichtlichen Überblick zuwenden.

In der Alten Kirche findet sich eine ausgeprägte Allversöhnungstheorie zuerst bei Origenes von Alexandrien (185–254 n.Chr.). Dessen theologisches System zeichnete sich durch die Aufnahme von Gedanken aus der griechischen Philosophie (Platonismus) aus. Ausgangspunkt seiner Spielart der Allversöhnungslehre war die Annahme eines freien Willens in allen vernunftbegabten Geschöpfen, durch den sie sich zu Gott hin- oder von ihm abwenden können. Den gefallenen Geschöpfen steht Gott ausnahmslos gütig gegenüber. Jedes Gericht, jede Strafe zielt letztendlich auf die Läuterung und die Bekehrung des Sünders. Der Gott der Liebe richtet immer auf, aber niemals zugrunde. Für diejenigen, die sich in diesem Leben noch nicht freiwillig für die Liebe Gottes geöffnet haben, geht der Läuterungsprozess nach dem Tod weiter. Am Ende einer unvorstellbar langen Zeit steht eine Welt, die vollkommen mit Gott versöhnt ist, einschließlich des Teufels und der Dämonen. In der Zeit nach Origenes vertraten auch andere Theologen des 4. und 5. Jahrhunderts die Errettung aller, wie etwa Gregor von Nyssa (335–394) oder der Bibelübersetzer Hieronymus (ca. 347–420). Bemerkenswert ist allerdings, dass ein Großteil der Anhänger es befürwortete, diese Lehre nicht öffentlich zu verkündigen. Um die Menschen zu einem moralischen Leben anzuhalten, hielten sie es für unabdingbar, ihnen die bedrohliche Realität ewiger Höllenstrafen vor Augen zu führen.

Maßgeblich für die Lehre der mittelalterlichen Kirche wurde allerdings nicht die Sicht des Origenes und seiner Anhänger, sondern die des Augustinus (354–430). Er strich mit großem Nachdruck die Endgültigkeit und Unaufhörlichkeit der Hölle heraus und suchte in seinen Schriften einschlägige Argumente der Befürworter der Allversöhnungslehre zu entkräften.

Zu diesem wichtigen Einfluss des Augustinus kam hinzu, dass dem Origenes spätestens seit der offiziellen Verurteilung seiner Sonderlehren auf dem 5. Ökumenischen Konzil im Jahre 553 n. Chr. zu Konstantinopel der Ruf des Irrlehrers anhaftete. Das verhinderte die weitere Ausbreitung seiner Allversöhnungslehre. Fortan war (zumindest in der westlichen Kirche) klar, was in Bezug auf die Frage nach dem Ausgang der Weltgeschichte als orthodoxe christliche Lehre anzusehen war.

Zwei mittelalterliche Bekenntnisdokumente, nämlich das Athanasianum (um 500) sowie die Beschlüsse des 4. Laterankonzils (1215) bezeugen unmissverständlich den Glauben an eine ewige, endgültige Trennung zwischen den Seligen und den Verdammten als Folge des Jüngsten Gerichtes.

Die Kirchen der Reformation standen in ihren Äußerungen hinsichtlich der Lehre von der Hölle den altkirchlichen und mittelalterlichen Bekenntnissen an Deutlichkeit in nichts nach. Sowohl Reformierte als auch Lutheraner bekannten sich zur Hölle als dem Ort ewiger Strafe für „gottlose Menschen“.3 Darüber hinaus werden im Augsburger Bekenntnis ausdrücklich solche verworfen, die lehren „dass die Teufel und verdammten Menschen nicht ewige Pein und Qual haben werden“ (Artikel 17). Diese explizite Verwerfung war aus Sicht der Verfasser notwendig geworden, weil die Lehre von der Allversöhnung unter radikalen Gruppierungen, den so genannten Wiedertäufern, erneut Befürworter gefunden hatte.

In der Folgezeit konnten allversöhnerische Gedanken in der Kirche vor allem dort wieder Fuß fassen, wo das kirchliche Bekenntnis zugunsten alternativer Anschauungen und Erkenntnisquellen, wie etwa der pietistischen Erfahrung oder der aufgeklärten Vernunft, in den Hintergrund treten musste.

Ein Überwiegen der persönlichen Erfahrung gegenüber dem Bekenntnis der Kirche lässt sich insbesondere im württembergischen Pietismus des 18. Jahrhunderts feststellen. Dort wurde die Lehre der Allversöhnung nicht nur von religiösen Exzentrikern vertreten und geglaubt, sondern auch von bedeutenden Theologen und Predigern der innerkirchlichen pietistischen Bewegungen und ihrer Gemeinschaften.4

Der Triumph der „aufgeklärten“ Vernunft über die angeblich unvernünftige Lehre der Kirche ist die Voraussetzung für den überwältigenden Siegeszug, zu dem die Allversöhnungslehre in der theologischen Welt der neueren Zeit ansetzte. Während erstaunlich viele Theologen des 19. Jahrhunderts dem „Vater der liberalen Theologie“, Friedrich Schleiermacher (1768–1834), noch die Gefolgschaft verweigerten, wenn es um seine Allversöhnungslehre ging, und in England manche Theologen noch aufgrund ihres Abweichens vom Athanasianischen Glaubensbekenntnis um ihren Arbeitsplatz fürchten mussten, wendete sich das Blatt im 20. Jahrhundert. Nun kam es zu einer breiten Akzeptanz besonders unter Vertretern der liberalen Theologie.

In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts taten sich besonders britische Theologen durch ihre Befürwortung der Allversöhnungslehre hervor. Der bekannteste unter ihnen ist der Theologieprofessor John Hick (*1922), der ähnlich wie Origenes von einem schier endlos langen Prozess bis zur Versöhnung aller Seelen ausgeht. Als Begründung für seine Sicht verweist er auf das christliche Gottesbild: Wenn Gott zugleich vollkommen gütig und allmächtig ist, könne es unmöglich eine ewige Hölle geben.

Neben Theologen, die wie Hick versuchen, die Lehre von der Allversöhnung theologisch zu begründen und dogmatisch zu formulieren, gab und gibt es andere, die aus verschiedenen Gründen diesen Schritt nicht nachvollziehen, wenngleich sie die traditionelle Lehre vom „doppelten Ausgang“ der Weltgeschichte (entweder Himmel oder Hölle) genauso verwerfen wie der Brite.

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind es die zwei bekanntesten Vertreter der sogenannten „dialektischen Theologie“ Karl Barth (1886–1968) und Emil Brunner (1989–1966), die dieser Gruppe zuzurechnen sind. Ihrer Ansicht zufolge kann und soll die Allversöhnung nicht lehrmäßig festgehalten werden. Aber sie soll als Möglichkeit und Hoffnung ihren Platz im christlichen Lehrkanon erhalten.

Ähnliche Gedanken vertrat auch der namhafte römisch-katholische Theologe Hans Urs von Balthasar (1905–1988). Letztendlich stehen aber diese Theologen aufgrund ihrer Ablehnung der Lehre von der Hölle außerhalb dessen, was die Kirche aller Zeiten als biblische Wahrheit erkannt und formuliert hat.

Angesichts dieser Geschichte darf und muss man sich fragen, auf welcher Grundlage Bell seine Abhandlung, die durchweg klassische Gedanken der Allversöhnungslehre aufnimmt und zustimmend wiedergibt, als dem „geschichtlichen orthodoxen christlichen Glauben“ konform bezeichnet werden kann. Wie es scheint, reicht es für Bell aus, dass eine Lehre im Lauf der Geschichte mehrfach von dem einen oder dem anderen Theologen innerhalb der Kirche vorgetragen wurde, um ihr das Gütesiegel „orthodox“ zu verleihen. Befragt man allerdings die offiziellen Bekenntnisdokumente der christlichen Kirchen, die seit jeher als wichtigster Maßstab dessen betrachtet wurden, was als orthodox gilt und was nicht, so ergibt sich ein völlig anderes Bild. Alle maßgeblichen Bekenntnisse der Kirchengeschichte, die sich zur Frage nach dem Ausgang der Weltgeschichte äußern, vertreten eine grundlegende Scheidung zwischen den Seligen und den Verdammten. Daher können Gedankengänge und Lehren, die diesem Zeugnis widersprechen, schon allein aus historischer Sicht in keinem Fall das Prädikat der Rechtgläubigkeit für sich in Anspruch nehmen.

Allversöhnung aus biblisch-exegetischer Sicht

In einem zweiten Schritt ist nun nach der biblischen Begründung für die Lehre der Allversöhnung zu fragen. Gibt es Anhaltspunkte in der Heiligen Schrift, die auf die Errettung aller hinweisen oder zumindest Grund zur Hoffnung geben, dass die Hölle keine endlos fortdauernde Realität ist? Bevor liberale Theologen im 20. Jahrhundert ihre Allversöhnungslehre mit bibelkritischen Methoden zu stützen versuchten, waren die klassischen Vertreter der Allversöhnungslehre immer darauf bedacht, die völlige Übereinstimmung ihrer Ansicht mit der Lehre der Heiligen Schrift nachzuweisen.

Auch Rob Bell bemüht sich nach Kräften, seine Sicht der Dinge mit biblischen Aussagen zu untermauern, was die Fülle der in seinem Buch zitierten Bibelabschnitte eindrucksvoll belegt. In der Tat kann man in dem 200 Seiten starken Buch alle wesentlichen Schriftstellen finden, die traditionell für die Allversöhnung ins Feld geführt werden. Eine sorgfältige Auslegung der zitierten Verse, die versucht, sowohl dem unmittelbaren Zusammenhang als auch dem Gesamtkontext der Heiligen Schrift gerecht zu werden, sucht man bei Bell allerdings oft vergeblich.

In einem Abschnitt, in dem es unter anderem um die Souveränität Gottes geht, zitiert er 1Timotheus 2,4 gefolgt von der Frage „Bekommt Gott also, was Gott will?“ (S. 105). Wenn ein souveräner Gott „will, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen“,5 wie Paulus schreibt, müssen dann nicht auch alle Menschen tatsächlich selig werden?

Zunächst einmal muss festgehalten werden, dass es biblisch gesehen nicht zulässig ist, einfach von den biblischen Aussagen darüber, was Gott will, auf die Umsetzung des Willens zu schließen. So sind beispielsweise auch die Gebote Gottes Ausdruck des göttlichen Willens und werden doch tagtäglich übertreten. Andererseits gibt es natürlich auch solche Stellen, in denen vom Ratschluss Gottes die Rede ist, den er gewiss und in souveräner Weise zur Ausführung bringen wird (zum Beispiel Apg. 4,27.28). Viele Ausleger haben daher unterschieden zwischen dem offenbarten Willen Gottes, wie er etwa in den Geboten zutage tritt (zum Beispiel 1Thess. 4,3) und seinem verborgenen Willen, der dem ewigen Ratschluss entspricht und dessen Verwirklichung unbestritten ist.

Wenn 1Timotheus 2,4 zur ersten Kategorie gehört, würde Paulus mit dieser Aussage den universellen Charakter der Evangeliumsverkündigung hervorheben. Alle Menschen ohne Unterschied (also auch Könige und solche, die in hoher Stellung sind; vergleiche Vers 1) sollen zum Glauben an den einen Mittler Jesus Christus gerufen werden. Johannes Calvin erklärt in einer Predigt zu diesem Abschnitt: Paulus spricht an dieser Stelle nicht vom Ratschluss Gottes […], sondern verkündigt uns lediglich, was sein Wille ist, insofern er von uns erkannt werden kann.6

Aber selbst wenn wir es hier mit dem unwandelbaren Ratschluss Gottes zu tun hätten, der das Heil „aller Menschen“ einschließt, kann 1Timotheus 2,4 nicht ohne weiteres als Belegstelle für die Allversöhnung herhalten. Vorher müsste geklärt werden, was Paulus mit „alle Menschen“ meint. Zur Beantwortung dieser Frage gibt der Kontext wichtige Aufschlüsse. Dieser Ausdruck taucht zuerst in Vers 1 desselben Kapitels auf und steht dort eindeutig im Zusammenhang mit Menschengruppen: Könige, Leute in hoher Stellung. Diese alle sollen im Gebet der Gemeinde vor Gott gebracht werden. Die Gemeinde ist aufgerufen, für alle verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen zu beten, also auch für die herrschende Schicht, die der damaligen Gemeinde in den wenigsten Fällen wohlwollend gegenüberstand. Dieses Gebet, das keinen Unterschied zwischen verschiedenen Menschengruppen macht, wird in Vers 4 mit dem Heilswillen Gottes begründet, der sich ebenfalls nicht an solche gesellschaftlichen Schranken hält. „Alle Menschen“ meint hier also alle Arten von Menschen oder alle Menschengruppen. Es meint nicht: jeder einzelne Mensch ohne Ausnahme.

Zwei weitere Stellen aus den Briefen des Apostels Paulus, die gerne von Anhängern der Allversöhnungslehre (wie auch von Bell, siehe S. 138f) für ihre Sicht in Anspruch genommen werden, sind 1Korinther 15,21.22 und Römer 5,18. Aufgrund ihrer inhaltlichen Parallelen gehen wir auf beide Passagen gemeinsam ein. In 1Korinther 15 legt der Apostel die fundamentale Bedeutung der Auferstehung Christi für den Glauben der Gemeinde dar und führt dann aus: „Denn weil der Tod durch einen Menschen kam, so kommt auch die Auferstehung der Toten durch einen Menschen. Denn gleichwie in Adam alle sterben, so werden auch in Christus alle lebendig gemacht werden.“ Es ist dieser Vergleich zwischen dem, was Adam gebracht hat und dem, was Christus bringt, den wir auch in Römer 5 wiederfinden, allerdings in einem etwas anderen Zusammenhang. Dort gebraucht Paulus gängige Begriffe aus der Rechtssprache, um die Bedeutung des Heilswerkes Christi zu erläutern: „Also wie nun durch die Übertretung des Einen die Verurteilung für alle Menschen kam, so kommt auch durch die Gerechtigkeit des Einen für alle Menschen die Rechtfertigung, die Leben gibt.“

Der Schlüssel zum rechten Verständnis dieser Verse liegt im biblischen Konzept der Stellvertretung. Demnach wird eine Person zum Repräsentanten einer bestimmten Gruppe. Durch ihr Handeln entscheidet sie das Schicksal der Gruppe mit. So wurde beispielsweise durch den Sieg Davids über Goliath (1Sam. 17) die ganze Armee der Israeliten zu Siegern, ohne selbst aktiv am Kampfgeschehen teilgenommen zu haben. Umgekehrt wurde in Goliath die ganze Armee der Philister besiegt. Was der Repräsentant erwirbt, sei es positiv oder negativ, wird allen Repräsentierten zuteil, ganz so, als ob sie selbst an der Stelle des Repräsentanten gestanden hätten.

Wenn wir dieses Konzept in die Auslegung der beiden Abschnitte einbeziehen, wird deutlich, dass diese Aussagen des Paulus zu Unrecht für die Allversöhnungslehre ins Feld geführt werden. In 1Korinther 15,22 ist von zwei Repräsentanten die Rede, die durch ihr Handeln jeweils das Schicksal aller Repräsentierten entschieden. Wer die Repräsentierten jeweils sind, wird in diesem Vers nicht ausdrücklich gesagt. Aus anderen Stellen der Heiligen Schrift wird aber ersichtlich, dass Adam als Stammvater der Menschheit alle seine leiblichen Nachkommen, sprich ausnahmslos alle Menschen, repräsentiert (vergleiche Röm. 5,12). Christus wurde zum Repräsentanten derer, die sich im Glauben zu ihm halten, nämlich der auserwählten Gemeinde (Eph. 5,22–27; Röm. 8,31–34).

In Römer 5 spricht Paulus in ähnlicher Weise von der Parallelität der beiden Repräsentanten, Adam und Christus, mit dem Unterschied, dass er an dieser Stelle beide Male die Repräsentierten mit dem Ausdruck „alle Menschen“ umschreibt. Dies sollte aber nicht irritieren. Denn genauso wie das „alle“ in 1Korinther 15,22 seine Bedeutung aus dem Zusammenhang empfängt, darf man auch hier den Ausdruck „alle Menschen“ nicht einfach vom Kontext abtrennen. Es geht, so schreibt ein Ausleger, „bei der Parallele zwischen den ‚vielen‘, ‚allen‘ und ‚allen Menschen‘, die durch Adam zu Sündern wurden und durch Christus gerecht gesprochen wurden […], nicht um gleiche Anzahlen von Personen, sondern zunächst um die ‚vielen‘ (‚allen‘), die kraft ihrer Abstammung in Adam begriffen sind, danach um die ‚vielen‘ (‚alle‘), die durch den Glauben Christus angehören.“7

Schließlich sollen im Rahmen unserer exegetischen Hinweise noch zwei Verse zur Sprache kommen, die dem Versöhnungswerk Christi universelle Reichweite beimessen und zumindest dem Begriff „Allversöhnung“ nahe kommen: Kolosser 1,19.20. Dort lesen wir: „Denn es gefiel [Gott], in ihm die ganze Fülle wohnen zu lassen und durch ihn alles mit sich selbst zu versöhnen, indem er Frieden machte durch das Blut seines Kreuzes — durch ihn, sowohl was auf Erden als auch was im Himmel ist.“

Wie wichtig diese Verse für Bells Argumentation sind, wird daran ersichtlich, dass er sie zweimal kurz hintereinander (S. 130 und 138) zitiert.

Eine der Kernaussagen seines Buches besteht nämlich in dem Gedanken, dass Gottes Heilshandeln in Christus nicht auf die Stiftung einer persönlichen Beziehung des einzelnen Christen mit Gott zu reduzieren sei, sondern darüber hinaus eine kosmische Dimension habe, die in der evangelikalen Verkündigung der vergangenen Jahrzehnte sträflich vernachlässigt worden sei. Tatsächlich enthält diese Kritik ein Wahrheitsmoment.

Allerdings muss man im selben Atemzug betonen, dass Bells eigener Entwurf keineswegs als „goldene Mitte“ gelten kann, sondern vielmehr das andere Extrem darstellt, das genauso wenig „dem ganzen Ratschluss Gottes“ (Apg. 20,27) gerecht wird. Wie wir gleich sehen werden, hat nach der Bibel das Versöhnungswerk Christi tatsächlich einen universellen Charakter. Dieser darf aber nicht mit dem Heil aller Menschen im Sinne der Allversöhnungslehre verwechselt werden.

Das unpersönliche „Alles„, das gemäß Kolosser 1,20 das Objekt der Versöhnung nennt, wird hinsichtlich seines Inhaltes durch den Textzusammenhang bestimmt. Der Schluss von Vers 20 („sowohl was auf Erden als auch was im Himmel ist„) verweist zurück auf Vers 16. Dort ist von der Schöpfung des Kosmos die Rede, seinen sichtbaren und unsichtbaren Dimensionen samt den Mächten, die letztere beherrschen. Der Kontext legt also nahe, dass „alles“ im Sinne von „alle Dimensionen der Schöpfung“ zu verstehen ist. Die Versöhnung Christi umfasst die sichtbaren, materiellen, irdischen (vergleiche Röm. 8,22) ebenso wie die unsichtbaren, geistlichen, himmlischen8 Aspekte der Schöpfung.

Dieses führt uns zu der Frage, wie diese Versöhnung bzw. Befriedung zu verstehen ist, die auf dem Blut Christi, das er am Kreuz vergossen hat, basiert. Das griechische Verb für „versöhnen“ (apokatalasso) beschreibt die Umwandlung eines feindschaftlichen Verhältnisses in eine Beziehung des Friedens, lässt dabei aber offen, auf welche Weise dies erfolgt. Möglich ist sowohl die beiderseitige Aussöhnung als auch die Unterwerfung derer, die die Auslöser des Unfriedens sind.9 Letzteres steht zumindest in Bezug auf die (geistlichen) „Herrschaften und Gewalten“ im Vordergrund, wie Kolosser 2,15 zeigt.10 Die „Versöhnung des Alls“ setzt nicht die ewige Seligkeit aller vernunftbegabten Geschöpfe voraus, sondern kann auch und gerade durch die Unterwerfung und den Ausschluss der Widersacher aus dem versöhnten Kosmos zustande kommen (vergleiche Offb. 22,15).

Neben den vier Bibelstellen, denen wir in diesem Teil unsere Aufmerksamkeit gewidmet haben, gibt es noch andere angeblich die Allversöhnungslehre stützende Bibelabschnitte.11 Wenn wir diese auch noch behandeln wollten, würde das den Rahmen dieses Artikels sprengen. Eine sorgfältige Auslegung im unmittelbaren Zusammenhang, sowie im Kontext der gesamten Heiligen Schrift würde aber auch in diesen Fällen ergeben, dass sie zu Unrecht als Begründung für diese Lehre herangezogen werden.

Systematisch-theologische Erwägungen

In einer Umfrage,12 die vor 5 Jahren an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen durchgeführt wurde, gaben 35 Prozent der Theologiestudenten/innen an, dass sie an die Allversöhnung glaubten. Eine kleinere Gruppe (21 Prozent) lehnte diese Lehre ab, während der (knapp) größte Teil, nämlich 36 Prozent der Befragten, sich weder dafür noch dagegen entscheiden konnte. Unter den Gründen, die laut den Tübinger Studenten für die Annahme der Allversöhnung sprechen, rangierte der Gedanke, dass die ewige Verdammnis nicht mit der Liebe Gottes zu vereinbaren sei, unangefochten an erster Stelle.

Insofern scheint Rob Bell einer wachsenden Gruppe junger Christen aus dem Herzen zu sprechen, wenn er die „unüberwindliche Liebe Gottes“ (S. 192), die „jedem einzelnen Menschen überall“ gilt (S. 11) und „am Ende gewiss das letzte Wort haben wird“ (S. 196), zum Leitthema seines Buches macht. Daneben ist die breite Resonanz, die dieses Werk besonders unter jungen Leuten gefunden hat, nicht zuletzt auch der sprachlichen Leichtigkeit geschuldet, mit der Bell auf unkonventionelle Art „heiße Eisen“ der Theologie anpackt. Er interpretiert sie dann im Rahmen seiner Sicht der Dinge, ohne sich und dem Leser eine ernstzunehmende Auseinandersetzung mit den theologischen Argumenten für die traditionelle Position zuzumuten, also eine Auseinandersetzung, die über das Aufstellen und Umstoßen von Strohmännern hinausgeht.

Dass Gottes Wesen Liebe ist (vergleiche 1Joh. 4,8), hat das Volk Gottes zu allen Zeiten bekannt. Nur hat man im Gegensatz zu Bell und anderen Vertretern der Allversöhnung vor ihm aus gutem, biblischen Grund diese Eigenschaft Gottes nicht gegen andere göttliche Attribute, wie etwa seine Heiligkeit oder seine Gerechtigkeit, ausgespielt. Zu zahlreich und zu deutlich sind die Manifestationen der heiligen, strafenden Gerechtigkeit des Gottes, der sich im Alten wie im Neuen Testament als „verzehrendes Feuer“ (5Mos. 4,24; Hebr. 12,29) offenbart.

Dort allerdings, wo dieses einseitige Bild vom „Gott der Liebe“ vorausgesetzt wird, werden göttliche Gerichte, die Offenbarungen des Zornes Gottes gegen die menschliche Sünde, pauschal zu Instrumenten der göttlichen Gnade erklärt, die mittels solcher Läuterungen die Umkehr der Menschen zu bewirken sucht. Tatsächlich kennt die Bibel das Konzept der Läuterung durch Gericht (zum Beispiel Jes. 1,21ff). Eine derartige Verallgemeinerung wird dem biblischen Befund als Ganzes aber nicht gerecht. Denn es gibt auch Stellen, in denen die Läuterung des Volkes Israel gerade in der Austilgung derer besteht, die der Grund der moralischen Verderbnis sind und eben nicht durch ihre Bekehrung (vergleiche Jos. 7).13

Seit Origenes ist es kennzeichnend für viele Spielarten der Allversöhnungslehre, den Tod nicht als den Zeitpunkt zu betrachten, von dem an das Schicksal eines Menschen endgültig besiegelt ist. Vielmehr geht man davon aus, dass auch für solche, die im Unglauben gestorben sind, nach dem Tod im Rahmen eines langen, schmerzhaften Prozesses der Läuterung noch die Möglichkeit bestehen muss, sich für Gottes Liebe zu öffnen und somit der himmlischen Seligkeit teilhaftig zu werden. Allerdings mangelt es für eine solche Vorstellung nicht nur an positiven Anhaltspunkten in der Heiligen Schrift, sondern es liegen mit Hebräer 9,26–28 sowie mit 10,26f auch biblische Aussagen vor, die dieser Ansicht eindeutig widersprechen.

Im bereits erwähnten 4. Kapitel seines Buches mit der Überschrift „Bekommt Gott, was Gott will?“ wirft Bell den Vertretern der traditionellen Sicht von Himmel und Hölle vor, einen allmächtigen, souveränen Gott zu predigen und gleichzeitig das Scheitern seines universellen Heilswillens, wie es in der Lehre von der Hölle zum Ausdruck komme, zu erwarten und zu lehren.

Auch dieser Kritik wohnt ein Wahrheitsmoment inne. Sie zielt zu Recht auf einen Evangelikalismus, der bei seinem Ablösungsprozess vom reformatorischen Erbe die biblische Erwählungslehre aufgegeben hat und deshalb nichts mehr von einem exklusiven, wenn auch verborgenen Heilswillen Gottes für eine bestimmte Gruppe, die Erwählten, weiß. Bell selber enthält sich einer Antwort auf die von ihm gestellte Frage. Ob „jeder gerettet“ werde oder ob es auch solche geben werde, „die in der Trennung von Gott zugrunde gehen“, sei eine Spannung, „die wir so stehen lassen können“ (S. 122). Eine Festlegung in dieser Frage darf man von ihm nicht erwarten. Was man erhält, ist die Antwort auf die Frage: „Bekommen wir, was wir wollen?“ Es ist „ein kräftiges, nachdrückliches, gewisses und positives Ja.“ (S. 123).

Genauso fundamental wie die Absolutsetzung der Liebe Gottes ist für Bell die Annahme eines vollkommen freien Willens beim Menschen. Diese beiden Punkte scheinen sich gleichsam gegenseitig zu bedingen. Nach Bells Konzept gilt: Wer zu Gott Ja sagt und sich im Glauben für Ihn öffnet, erlebt fortan den Himmel. Wer lieber ohne Gottes Gnade leben will und sich für Gottes Zuwendung verschließt, erlebt (solange er in dieser Haltung verharrt) die Hölle, weil Gott sich niemandem aufdrängt.

Anstatt eine objektive Realität, nämlich ein Dasein „im Angesicht des gerechten und immerfort brennenden Zornes Gottes“14 zu beschreiben, wird die Hölle bei Bell in den Bereich der individuellen, subjektiven Erfahrung verlegt. Entsprechend wird es auch überflüssig, dem Werk Christi die Bedeutung eines stellvertretenden Sühnopfers zuzuschreiben. Denn wo kein vernichtender Zorn zu fürchten ist, da ist auch kein Mittler vonnöten, der diesen drohenden Zorn zugunsten seines Volkes auf sich nimmt.1

Bei Rob Bells neuestem Buch geht es um weit mehr als um eine alternative Sicht vom Ausgang der Weltgeschichte. Seine Aufnahme zentraler Elemente der Allversöhnungslehre ist Teil einer größer angelegten Umdeutung wesentlicher Inhalte des christlichen Glaubens, wie sie auch von verschiedenen anderen Vertretern eines „postmodernen Christentums“ vorangetrieben, und unter dem wohlklingenden Namen „weitherzige Orthodoxie“16 angepriesen wird. Dass dieser Vorstoß aber alles andere als biblisch ist, offenbart sich an vielen Stellen. Der Hang zur Allversöhnungslehre ist eine davon.


1) Bell, Rob, Das letzte Wort hat die Liebe. Über Himmel und Hölle und das Schicksal jedes Menschen, der je gelebt hat. Giessen [Brunnen] 2011.
2) Klassische Stellen im Neuen Testament sind: Mt. 8,11f; 25,46; Mk. 9,42-48; Lk. 16,19–31; 2Thess. 1,9; Jud. 3–13; Offb. 20,11–15.
3) Vergleiche: Augsburger Bekenntnis, Art. 17; Zweites Helvetisches Bekenntnis, Art. 26; Westminster Bekenntnis, Art. 33. Auch das Bekenntnis der niederländischen Mennoniten spricht von ewigen Höllenqualen (Art. 18).
4) Zu nennen sind hier vor allem der Prälat Johann Albrecht Bengel (1687–1752), dessen Schüler Friedrich Christoph Oetinger (1702–1782) und Johann Michael Hahn (1758–1819).
5) Alle Bibelzitate folgen, wenn nicht anders angegeben, der Schlachter 2000–Übersetzung.
6) Vergleiche Calvini Opera 53,151. Übersetzung durch den Verfasser.
7) Ridderbos, Herman, Paulus. Ein Entwurf seiner Theologie. Wuppertal [R. Brockhaus] 1970, S. 240.
8) Bavinck, Herman (Gereformeerde Dogmatiek Bd. III, Kampen [Kok] 1928, S. 537) bezieht die Versöhnung dessen „was im Himmel ist“ auf die Wiederherstellung der Ordnung unter den Engeln, die durch den Fall mancher von ihnen durcheinandergeraten war.
9) Vergleiche Ridderbos, Paulus. 133.
10) Vergleiche hierzu auch Röm. 16,20.
11) Etwa Röm. 11,32; Eph. 1,10; Phil. 2,10f; 1.Tim. 4,10; Tit. 2,11; Offb. 5,13.
12) Die Ergebnisse können unter der folgenden Internetadresse eingesehen werden: http://www.uni-tuebingen.de/uni/v01/downloads/Auswertung.pdf
13) Vergleiche Symank, Andreas, Werden alle Menschen gerettet? Überlegungen zur Lehre der Allversöhnung. Riehen [Immanuel] 1997, S. 54–58.
14) Sproul, R.C., Glauben von A–Z: 102 biblische Begriffe einfach erklärt. Friedberg [3L Verlag] 2005, S. 334.
15) Auf den Seiten 129–133 stellt Bell anhand mehrerer Bibelverse verschiedene neutestamentliche Interpretationen des Kreuzes Christi vor, ohne das Konzept des Sühnopfers zu erläutern. Die neutestamentliche Opfersprache wird nicht vor dem Hintergrund des göttlich sanktionierten, alttestamentlichen Opferkultes interpretiert, sondern vielmehr im Licht heidnischer Opfervorstellungen
16) Vergleiche McLaren, Brian D. A, Generous Orthodoxy. Grand Rapids [Zondervan] 2004.