Das Anliegen des Buches Jesaja

Das Anliegen des Buches Jesaja

Eine Offenbarung über Gottes Volk

Vor anderthalb Jahren begann der Verfasser dieses Artikels, das Buch des Propheten Jesaja in Predigten auszulegen. Im Folgenden lesen Sie eine Einführung in dieses Buch, in der es um die ersten beiden Verse geht.
Abgesehen von den Psalmen ist das Buch Jesaja das längste Buch der Bibel. Aber noch bedeutender ist es aufgrund der Tatsache, dass im Neuen Testament kein alttestamentliches Buch so häufig zitiert wird – wiederum abgesehen von den Psalmen. Jesaja wird vom Herrn Jesus und den Aposteln häufiger zitiert als alle anderen Propheten zusammen. Was können wir daraus folgern?

Wir können daraus die Schlussfolgerung ziehen, dass die Botschaft dieses Buches weit über die Zeit des Alten Bundes hinausgeht. Sie zielt mitten in den Neuen Bund hinein. Jesaja redet vom kommenden Christus. Der Prophet spricht von Christus, und zwar zum Volk des Alten wie auch des Neuen Bundes. Arbeitet man sich durch das Buch Jesaja hindurch, wird man erkennen, in wie vielen verschiedenen Formen dies geschieht, aus welchen Blickwinkeln und mit welchen Absichten. Doch ist es zunächst nützlich, sich über die Ausgangslage klar zu werden. Dies soll im Folgenden anhand der ersten eineinhalb Verse des Buches Jesaja versucht werden.

Wer offenbart etwas?

Der kurze Bibelabschnitt stellt uns als seinen Schreiber Jesaja vor, „Jesaja, der Sohn des Amoz„. Der Name Jesaja bedeutet – genau wie Josua und auch Jesus – „der Herr ist Rettung“. Über seine Herkunft und Familie erfahren wir nicht viel. Etwas genauer wird die Heilige Schrift in Bezug auf sein Wirken. Wir lesen, dass er „in den Tagen Ussijas, Jotams, Ahas‘ und Hiskias, der Könige von Juda“ auftrat. Dieser Zeitraum umfasste ungefähr die zweite Hälfte des 8. Jahrhunderts vor Christi Geburt. Es handelt sich also um einen ziemlich langen Zeitraum von ungefähr fünfzig Jahren. Damit erfahren wir zugleich, dass Jesaja im so genannten Südreich zu Hause war, also in Juda mit der Hauptstadt Jerusalem. Aber das ist alles.
Der Grund für diese Zurückhaltung hinsichtlich der Person Jesajas liegt auf der Hand: Nicht der Prophet steht im Mittelpunkt, sondern seine Botschaft! Wir sollen nicht über Jesaja spekulieren, sondern auf das hören, was er zu sagen hat. Wir sollen unsere Aufmerksamkeit – und das gilt für die ganze Bibel – von der Person weg auf das Wort richten.
Wenn vom „Wort“ die Rede ist, ist nicht das Wort Jesajas gemeint. Jesaja ist zwar der Schreiber und Verkündiger des Wortes, aber nicht der Urheber. Jesaja hatte, wie es gleich zu Anfang bezeugt wird, eine „Offenbarung“, das heißt eine Offenbarung von Gott. Es handelt sich dabei um eine besondere Form der Kommunikation, die Gott während der Zeit des Alten Bundes sowie in den Anfängen des Neuen Bundes verwendete, um dem Empfänger sein Wort bekanntzumachen. Heute kommt dies nicht mehr vor und ist auch nicht mehr nötig, denn heute besitzen wir das Wort Gottes vollständig in Schriftform. Aber bis zum Abschluss des biblischen Kanons offenbarte sich Gott in jener Weise.
Es fällt heute schwer, sich vorzustellen, wie so eine Offenbarung vonstatten gegangen sein mag. Wenn wir das Wort „Vision“ oder die deutsche Entsprechung „Gesicht“ heranziehen, wird es vielleicht etwas deutlicher. Es wurde etwas sichtbar gemacht, das sonst verborgen war. Dieses beschränkte sich keineswegs auf zukünftige Dinge, sondern umfasste durchaus auch die Gegenwart, ja sogar die Vergangenheit. Der Empfänger von Gottes Offenbarung sah verborgene, undeutliche Tatsachen in einer Klarheit, als seien sie direkt vor seinen Augen, egal, ob sie in der Vergangenheit, in der Gegenwart oder noch in ferner Zukunft lagen. Er sah sie, und dann blieb ihm nichts anderes übrig, als davon zu reden. Ein Prophet war dermaßen mit dem Wort Gottes erfüllt, dass es in ihm übersprudelte und er es herauslassen, also verkündigen musste. Der Prophet verkündigte das, was Gott ihm zu reden eingab.
Im Neuen Testament wird das noch genauer erklärt. In 1Petrus 1,10.11 lesen wir, wer da in den Propheten wirkte: „Wegen dieser Errettung haben die Propheten gesucht und nachgeforscht, die von der euch zuteil gewordenen Gnade geweissagt haben. Sie haben nachgeforscht, auf welche und was für eine Zeit der Geist des Christus in ihnen hindeutete, der die für Christus bestimmten Leiden und die darauf folgenden Herrlichkeiten zuvor bezeugte.“
In Apostelgeschichte 28,25 formuliert der Apostel Paulus es etwas anders:
Trefflich hat der Heilige Geist durch den Propheten Jesaja zu unseren Vätern geredet …
Der Geist des Christus, der Heilige Geist redet durch die Propheten, also auch durch Jesaja. Jesaja tat nicht seine eigene Meinung zu gewissen Zuständen in Land und Volk kund. Er gab keine eigene Einschätzung der Lage und der Zukunftsaussichten ab. Nein, er redete in der Autorität Gottes, des Heiligen Geistes. Darum beginnen die Aussprüche der Propheten in der Regel nicht mit einem zurückhaltenden „Hört mir doch bitte alle mal zu“, sondern mit einem klaren und deutlichen „So spricht der Herr!“ Jesaja ist das Sprachrohr, aber Gott ist derjenige, der redet. Das bestätigt auch der Vers 2: „Hört, ihr Himmel, nimm zu Ohren, o Erde; denn der Herr hat gesprochen.“ Wer Jesaja hört, hört den Herrn.

Was wird offenbart?

Was aber offenbart der Herr durch den Mund Jesajas? Nach den Worten von Jesaja 1,1 offenbart er etwas „über Juda und Jerusalem„. Dabei sind die Begriffe „Juda und Jerusalem“ in mehrfacher Weise zu verstehen.
Zunächst sind sicher die geographischen Gebilde gemeint. Juda – ich hatte es bereits kurz erwähnt – bezeichnet das sogenannte Südreich, in dem zwei der zwölf Stämme Israels wohnten. Ungefähr 200 Jahre zuvor, nach dem Tod des Königs Salomo, war es zu einer Spaltung des Reiches gekommen, indem sich die nördlichen zehn Stämme unter der Führung Jerobeams vom Haus David gelöst hatten und fortan ein eigenes Reich „Israel“ mit eigenem König und eigenem Priestertum bildeten. Nur die Stämme Juda und Benjamin waren beim Thron Davids und beim Tempel in Jerusalem geblieben und firmierten fortan als das Königreich Juda.
Dieser Überrest Israels wird in Jesajas Offenbarung angesprochen. Das heißt aber nicht, dass es ganz allein um Juda ginge. Auch das Nordreich findet Erwähnung. Einige Aussprüche richten sich direkt gegen das nördliche Israel. Und auch andere Völker werden zum Thema gemacht. Aber im Kern geht es um Juda und Jerusalem.
Denken wir nun einen Schritt weiter. Denn wenn wir Israel oder Juda sagen, meinen wir nicht irgendwelche Völker und Nationen. Es geht um das Volk Gottes! Die Prophezeiungen Jesajas drehen sich also nicht nur um Juda als einem Flecken auf der Landkarte, als eine Nation unter vielen Nationen. Vielmehr manifestierte sich in Juda der Überrest des Volkes Gottes. In Judas Hauptstadt Jerusalem stand der Thron des Königs als ein Schatten des Thrones des Messias. Auf dem Berg Zion erhob sich Davids Festung und in der unmittelbaren Nachbarschaft lag der Tempel, in dem Gott durch den Mittlerdienst der Priester Gemeinschaft mit seinem Volk hatte. Israel – Juda –Jerusalem – Zion: Der Kreis wurde mit der Zeit immer enger. Der Überrest des Volkes Gottes in der Welt wurde immer kleiner. Denn es war ja keineswegs so, dass in Juda alles in Ordnung war. Im Gegenteil: Die Gottlosigkeit hatte sich auch hier ausgebreitet. Jahrzehnte des Friedens und Wohlstands, vor allem unter dem König Ussija, dessen letztes Regierungsjahr der Prophet Jesaja noch miterlebt hatte, hatten das Volk träge gemacht. Der Gottesdienst war zur Tradition verkommen, die Zeremonien und heiligen Verrichtungen zur Show, deren Inhalt kaum noch jemand verstehen wollte.
Wenn Jesaja also eine Offenbarung über Juda und Jerusalem schaute, dann schaute er eine Offenbarung über das übriggebliebene Volk Gottes in der Welt.
Es wurde bereits erwähnt, dass Jesaja im Neuen Testament sehr oft zitiert wird, dass also die Aussagen des Buches hunderte Jahre voraus in die Zeit des Neuen Bundes hineinreichen. Jesajas Offenbarung bezieht sich also offensichtlich auch auf das Volk Gottes im Neuen Bund. Das verwundert nicht. Denn es gibt ja nur ein Volk Gottes. Auch die Heilsgeschichte ist eine. Wenn das Buch Jesaja also auf die Heilsgeschichte Bezug nimmt, wie sie am Kreuz auf Golgatha kulminieren sollte, dann ist das auch die Heilsgeschichte für Juda! Dem Volk Gottes, in der alttestamentlichen Begriffswelt als Israel, Juda, Jerusalem oder Zion bezeichnet, das so niedergedrückt ist durch seine Sünde, das so in Abfall und Gottlosigkeit abgeglitten ist, über dem immer bedrohlicher die Wolken von Gottes Gericht aufziehen, diesem Volk wird schließlich und endlich Heil verkündigt. Und dieses Heil kommt aus seiner eigenen Mitte: Aus dem Stamm Juda wird der Messias hervorgehen. Zwar wird es zuvor noch viele Schläge geben, geistliche und weltliche. Krieg, Elend und Verbannung stehen bevor, aber während all dieser Gerichtsschläge wird am Horizont Golgatha sichtbar.
Wenn man über das Buch Jesaja eine Überschrift setzen wollte, könnte man diese vielleicht aus Jesaja 1,27 entnehmen. In der unrevidierten Elberfelder Bibelübersetzung wird diese Stelle folgendermaßen übersetzt: „Zion wird erlöst werden durch Gericht.“ Der Herr ist der Richter, aber er ist auch Rettung! Der Herr wird sich wahrhaftig als der treue Gott seines Volkes erweisen, indem er mittels Gericht und durchs Gericht hindurch den Überrest, Zion, erlösen wird. Seine Bundesverheißungen stehen unverrückbar. Der Same Abrahams, der Sohn Davids, der Löwe aus dem Haus Juda wird kommen, sich unter Gottes Gericht beugen und so Erlösung für Zion bringen.

Wem wird es offenbart?

Wenden wir uns schließlich noch der Frage zu, an wen sich diese Offenbarung Gottes durch Jesaja richtet. Selbstverständlich richtet sie sich an Juda, an die Gemeinde des Herrn, an das Volk Gottes. Jesaja tritt in Jerusalem auf. Er spricht zu den Königen und zum Volk. Aber sind sie die einzigen, die hören sollen? In Jesaja 1,2a werden die eigentlichen Adressaten genannt: „Hört, ihr Himmel, nimm zu Ohren, o Erde; denn der Herr hat gesprochen“.
Das ist bemerkenswert. Der Prophet hat eine Offenbarung über Juda und Jerusalem. Aber zuhören sollen Himmel und Erde! Die ganze Schöpfung soll Zeuge sein, wenn der Herr an seinem Volk handelt. Das Wort Gottes ist keine Privatoffenbarung für einige wenige. Es ist nicht einem kleinen Kreis von Eingeweihten vorbehalten. Zu wem auch immer der Herr in seiner Vorsehung sein Wort sendet, der soll es hören. Denn Gott ist nicht nur Gott in Jerusalem. Nein, die ganze Welt ist ihm untertan. Und auch sein Erlösungswerk, das er im Folgenden durch Jesaja verkündigen lässt, betrifft die ganze Welt. Die Zeiten, da er seinen Heilsplan nur einem kleinen Teil der Menschheit kundgetan hat, nämlich dem Volk Israel, gehen zu Ende. Das Wort vom Kreuz, von der Erlösung in Christus, soll an alle Menschen ergehen, verbunden mit der Warnung vor dem Gericht und dem Aufruf zum Glauben an ebendiesen Christus, in dem alles Heil zu finden ist. Die ganze Schöpfung ist einbezogen, denn auch sie soll, wie Paulus in Römer 8,21 schreibt, „befreit werden […] von der Knechtschaft der Sterblichkeit zur Freiheit der Herrlichkeit der Kinder Gottes“. Und gleich im Anschluss schildert der Apostel, wie die Schöpfung regelrecht „mitseufzt“ (Röm. 8,22), weil sie diese Herrlichkeit herbeisehnt. Aber hier kommt der Trost für sie: „Hört, ihr Himmel, nimm zu Ohren, o Erde!“ Der Herr spricht, der Herr handelt, der Herr erlöst sein Zion und wird die ganze Schöpfung, Himmel und Erde, neu und herrlich machen. Das ist die frohe Botschaft des Buches Jesaja.
Die Offenbarung, die Jesaja über Juda und Jerusalem schaute, ist eine herrliche Offenbarung. Sie führt uns einerseits die abgrundtiefe Verlorenheit des Volkes Gottes vor Augen. In sich selbst ist dieser klägliche Überrest des einstmals stolzen Israel dem Untergang preisgegeben.
Die Brüder im Norden werden schon sehr bald in alle Winde zerstreut, und Juda wird es ebenso ergehen. Doch in diesem furchtbaren Gericht ist andererseits bereits die Erlösung angelegt. Denn die Wegführung Judas in die Gottesferne und Gottverlassenheit Babels weist bereits auf den Sühnetod des Messias hin, und die Rückkehr aus diesem Exil auf seinen Triumph über den Tod. Inmitten allen Schreckens kann die Gemeinde im Wort Gottes Trost und Halt finden, denn ihre Erlösung ist nahe.