Auf dem Weg nach Golgatha: Isaak braucht nicht geopfert zu werden (1Mose 22,1–19)

Auf dem Weg nach Golgatha: Isaak braucht nicht geopfert zu werden (1Mose 22,1–19)

Bei manchen Bibelabschnitten meint man, man kenne sie. Man hat darüber schon die eine oder die andere Predigt oder Auslegung gehört oder etwas dazu gelesen. Aber wenn man dann durch irgendeinen Anlass, zum Beispiel durch eine neue Fragestellung, angeregt wird, das vermeintlich bekannte Kapitel noch einmal zu lesen, kann es einem vorkommen, als hätte man es vorher noch nie wirklich zur Kenntnis genommen. So ungewohnt, so atemberaubend neu schlägt es ein.

Vor geraumer Zeit beschäftigte ich mich mit einer gegenwärtig an deutschen theologischen Fakultäten stark verbreiteten Auffassung. Dort wird gelehrt, dass es zwischen den drei so genannten „Abrahamitischen Religionen“ – darunter fasst man den christlichen Glauben mit dem Judentum sowie mit dem Islam zusammen – eine prinzipielle Gleichheit gebe. In diesem Zusammenhang stieß ich auf das zweiundzwanzigste Kapitel des ersten Buches Mose. Es ist der bekannte Bericht über die Opferung Isaaks. Bevor Sie den nachfolgenden Artikel lesen, ist es sinnvoll, 1Mose 22 in einer guten Bibelübersetzung zu lesen.

Die Opferung Isaaks – Brennpunkt im ersten Buch Mose

Man kann darüber streiten, ob die Opferung Isaaks der Höhepunkt des ersten Buches Mose ist. Aber dass dieses Kapitel eine Schlüsselstellung einnimmt, wird man kaum bestreiten können. Es hat den Anschein, dass dieses Kapitel im Rahmen des ersten Buches Mose wie das enge Öhr bei einer Sanduhr fungiert, so als würden sich die in diesem Buch berichteten Geschehnisse auf dieses Ereignis zuspitzen, gewissermaßen hin zu diesem Geschehen einengen. Im Anschluss an die Opferung Isaaks hat man dann den Eindruck, als würde die Geschichte wieder in die Weite gehen.

Bekanntlich beginnt das erste Buch Mose ganz breit: Anfangs wird uns die Erschaffung von Himmel und Erde berichtet. Daran schließt sich der die gesamte Schöpfung in die Katastrophe hineinziehende Sündenfall Adams und Evas an. Auch nach der Vertreibung aus dem Garten Eden geht es zunächst um die Menschheit insgesamt. Wir lesen über die Sintflut, über den anschließenden Bund Gottes mit Noah sowie über den Turmbau zu Babel mit der darauf folgenden Sprachenverwirrung.

Ab 1Mose 12 konzentriert sich die Heilige Schrift auf wenige Menschen. Es geht um Abraham und um diejenigen, die mit ihm aus Ur ausgezogen waren. Zwar verheißt Gott gleich bei der Berufung Abrahams, dass in Abraham alle Geschlechter der Erde gesegnet werden (1Mos. 12,3), aber es ist unübersehbar: Die weiteren Kapitel handeln über Abraham und über seine Sippe. Wir erfahren, wie der Anhang dieses auserwählten Mannes immer mehr dezimiert wurde: Bereits in Haran starb Abrahams Vater Tarah (1Mos. 11,32); im verheißenen Land kam es zu einer Trennung von seinem Neffen Lot (1Mos. 13,9), dann belehrte ihn Gott, dass weder Elieser sein Erbe werde (1Mos. 15,4) noch Ismael (1Mos. 17,18–20), vielmehr werde es Isaak sein (1Mos. 17,21; 18,10).

Als endlich der Sohn der Verheißung geboren war, hätte man aufatmen können. Die Spannung schien aufgelöst zu sein. Aber genau da forderte Gott nicht weniger von Abraham, als Isaak zum Opfer darzubringen. Wurde durch diese Anweisung nicht wieder alles in Frage gestellt?

Nachdem Abraham diese Prüfung bestanden hatte, gehen die berichteten Ereignisse zügig in die Breite: Bereits der Sohn Isaaks, Jakob, bekam 12 Söhne, die bekanntlich zu den Stammvätern der 12 Stämme des Volkes Israels wurden.

Gottes unverständliche Anweisung

Aber nicht nur innerhalb des ersten Buches Mose bilden die im zweiundzwanzigsten Kapitel berichteten Ereignisse eine Art Scheitelpunkt, sondern auch im Leben Abrahams selbst laufen auf dieses Geschehen zahlreiche Linien zu und erhalten dadurch erst ihre Bedeutung.

Dafür ein einziges Beispiel: Die Aufforderung an Abraham, mit der das Kapitel der Opferung Isaaks beginnt, lautet: „Nimm deinen Sohn … und geh hin in das Land Morija auf einen Berg, den ich dir zeigen werde“ (1Mos. 22,2). Die Formulierung erinnert stark an die Berufung Abrahams: „Gehe aus deinem Land und aus deiner Verwandtschaft und aus dem Haus deines Vaters in das Land, das ich dir zeigen werde“ (1Mos. 12,1; Apg. 7,3). Der Ausdruck „das ich dir zeigen werde„, kommt im gesamten Alten Testament nur an diesen beiden Stellen vor.

Mit diesem weitgehend gleichlautenden Auftrag wird unmerklich angedeutet, dass das Land, das Gott dem Abraham zu zeigen versprach, gewissermaßen erst seine Erfüllung fand, als Abraham auf dem Berg Morija angekommen war.

Die formale Übereinstimmung in den beiden Befehlen rückt aber gerade den Unterschied ins Blickfeld: Während Gott in 1Mose 12 von Abraham verlangte, seine familiären Wurzeln aufzugeben, sich von seiner Vergangenheit zu trennen, wird in 1Mose 22 von ihm gefordert, seine Nachkommen loszulassen, also zu seiner Zukunft Nein zu sagen. Der Unterschied greift noch tiefer: In 1Mose 12 verlangte Gott keineswegs, dass Abraham seine Eltern töten solle. In 1Mose 22 wurde von ihm im Blick auf seinen Nachkommen genau dieses verlangt: Der Vater des Glaubens sollte aktiv seine Hand an seinen Sohn legen.

Zwischen diesen beiden Ereignissen lagen viele Jahre. Es waren Jahre, in denen sich zwischen Gott und Abraham eine enge Vertrautheit gebildet hatte. Als Gott der Herr den Abraham in Mamre besuchte, stellte er einmal die rhetorische Frage: „Sollte ich vor Abraham verbergen, was ich tun will?“ (1Mos. 18,17). Ohne Übertreibung kann man sagen, dass zwischen Gott und Abraham eine Freundschaft entstanden war (Jes. 41,8; Jak. 2,23).

Aber gerade wenn man das bedenkt, mutet die Anweisung Gottes nur umso befremdlicher an: „Nimm deinen Sohn, deinen einzigen, den du lieb hast, und opfere ihn!“ (1Mos. 22,2). Ist dieses Wort nicht wie ein erbarmungsloser Faustschlag in das Gesicht Abrahams? Wird hier nicht geradezu greifbar belegt, dass Gott der völlig Unberechenbare ist, der total Andere? Hat der dänische Philosoph Sören Kierkegaard nicht Recht, wenn er in seinem Werk Furcht und Zittern im Blick auf die Forderung Gottes an Abraham, seinen Sohn zu opfern, von dem „Absurden“ spricht,1 und die Beziehung zu diesem Gott mit einem irrationalen „Sprung“ vergleicht?2

Eines ist klar: In 1Mose 22 hat Gott etwas geboten, das er sonst mehrfach verboten hatte, nämlich zu töten (1Mos. 9,6; 2Mos. 20,13). Namentlich die Tötung des eigenen Kindes – bei den Kanaanitern kam dieser Brauch im Rahmen eines Fruchtbarkeitskultes vor – wurde von Gott wiederholt nachdrücklich untersagt (3Mos. 18,21; 5Mos. 18,10)!

Aber nicht nur der Befehl Gottes an sich, sondern auch die Art und Weise, in der Gott dem Abraham diese Anweisung gab, mutet quälerisch an. Wenn Gott gesagt hätte: „Opfere deinen Sohn!“ wäre das in seiner Härte kaum nachvollziehbar. Aber Gott gab diesen Befehl in einer geradezu grausamen Ausführlichkeit: „Nimm deinen Sohn, deinen einzigen, den du liebt hast, Isaak, und geh hin in das Land Morija und opfere ihn dort!“

Schon die Anweisung, denjenigen zu töten, der für den über Hundertjährigen nicht nur eine Lebensversicherung bedeutete, sondern auf den sich seit 25 Jahren seine sehnlichsten Hoffnungen gerichtet hatten und der nun, nachdem er endlich geboren war, der Sammelpunkt seiner Liebe war, wäre schrecklich. Aber mit dieser so breit formulierten Anweisung verfolgte Gott offensichtlich die Absicht, das Herz seines Freundes Abraham tief zu treffen. Warum?

Hinzu kommt: Gott verlangte von Abraham, dass er seinen Sohn nicht unverzüglich opfern sollte. Stattdessen befahl er ihm, erst tagelang mit ihm eine Reise zu unternehmen, damit sie an den für diese Tat von Gott gewünschten, richtigen Ort gelangen. Wieso diese zusätzliche Folter?

Johannes Calvin beschreibt diesen Sachverhalt einmal folgendermaßen: „Er muss gehen und weiß nicht wohin und hat kein Ziel. Gott hält ihm da nicht bloß den Kopf unter das Wasser, sondern er hält ihn in einen so furchtbaren Abgrund hinaus, dass wir ihn uns unmöglich in der rechten Weise ausdenken können.“3

Aber die Wunde ist noch schlimmer: Bei der Aufforderung, Isaak zu töten, ging es keineswegs nur darum, dass jede väterliche Zuneigung erdrosselt wurde. Mitnichten bedeutete dieser Befehl nur die Vernichtung von Abrahams irdischer Zukunft. Bei der Tötung Isaaks ging es keineswegs nur um das Überleben einer Familie in einem fremden Land. Denn Isaak war nicht irgendein Kind, sondern er war der Sohn der Verheißung (1Mos. 17,21).

Auf den Umstand, dass dieser Befehl der Verheißung Gottes widersprach, legt der Schreiber des Hebräerbriefes seinen Finger: „Durch Glauben brachte Abraham den Isaak dar, als er geprüft wurde, und opferte den Eingeborenen, er, der die Verheißungen empfangen hatte, zu dem gesagt worden war: ‚In Isaak soll dir ein Same berufen werden'“ (Hebr. 11,17.18). Hören wir dazu noch einmal, wie Johannes Calvin diesen Umstand der Gemeinde in Genf erläutert: „Wenn die Menschen ihre Kinder töten würden, so wäre das im Vergleich dazu nichts, denn keiner erkennt in seinem Kind seinen Erlöser. Aber obgleich Isaak nicht der Erlöser Abrahams war, so weiß er doch, dass aus ihm der Erlöser der Welt kommen soll. Wo soll denn Abraham seine ganze Gerechtigkeit, sein ganzes Wohlergehen und sein ganzes Heil suchen, wenn nicht in der Person Isaaks, das heißt in dem, der von ihm kommen soll? Nun soll Isaak tot sein? So ist die Welt verloren und verdammt, so herrscht der Teufel, und so hat er überall gewonnen. So ist Gott der Feind der Menschen und aller Geschöpfe. … Es steht fest, dass dieser Isaak von der Hand Abrahams sterben soll, des Abraham, der die Verheißung von Gott empfangen hatte…“

Versuchung

Die Heilige Schrift nennt das, was Gott von Abraham hier verlangt, eine „Versuchung“ oder eine „Prüfung“: „Gott prüfte (versuchte) den Abraham“ (1Mos. 22,1). Dieses Wort kommt in der Heiligen Schrift in unterschiedlichen Zusammenhängen vor.

Als der Versucher wird Satan bezeichnet (Mt. 4,3). Wenn er Menschen versucht, verfolgt er das Ziel, sie zu zerstören (1Thess. 3,5). – Dasselbe Wort kommt auch bei Gelegenheiten vor, in denen Menschen andere Menschen prüfen (versuchen). So prüfte einst die Königin von Saba den König Salomo, um herauszufinden, ob er tatsächlich der weiseste Mann auf Erden war (1Kön. 10,1.6–9). – Dann begegnen uns Stellen, in denen Menschen Gott auf die Probe stellen: Kaum war Israel durch das Schilfmeer geführt worden, versuchte das Volk Gott bei Massa und Meriba (2Mos. 17,2.7). Die Versuchung bestand darin, dass die Menschen nicht Gottes Güte und seiner Macht vertrauten. – Ferner lesen wir, dass Gott Menschen prüft. Zum Beispiel befahl Gott seinem Volk, wann und wie es das Manna aufsammeln sollte (2Mos. 16,4). Wenn Gott Menschen prüft, dann will er sie nicht zum Ungehorsam anstiften. Auch hat er nicht das Scheitern seiner Leute im Sinn (Jak. 1,13). Vielmehr geht es Gott darum, die von ihm in eine Versuchung Hineingeführten in der Furcht Gottes zu stärken (2Mos. 20,20).

Im Blick auf Abraham heißt es einmal ähnlich. Durch sein Ausharren wurde er „im Glauben gestärkt“ (Röm. 4,20). Normalerweise würde man sagen: „Hoffen und Harren macht manchen zum Narren.“ Aber bei denen, die von Gott geprüft werden, verhält sich das offensichtlich so nicht. Sie empfangen gerade durch Ausharren und Geduld die Verheißung (vergleiche: Hebr. 6,11–15). In entsprechender Weise haben wir auch 1Mose 22 zu verstehen.

Die Schlichtheit des Berichtes

Es fällt auf, wie sachlich die Schilderung verläuft. In diesem Bericht liest man nichts über Abrahams innere Erschütterungen oder über seine Verzweiflung. Auch die Angst Isaaks wird mit keiner Silbe erwähnt. Natürlich erahnt man die väterlichen Erregungen und Abrahams Seelenqual während der drei Tage. Aber der Heilige Geist hielt es offensichtlich nicht für erforderlich, uns über die Gefühlsregungen etwas mitzuteilen. Nachdem Gott dem Abraham den Befehl gegeben hatte, seinen einzigen Sohn, den er liebte, zu opfern, wird scheinbar ohne innere Anteilnahme vermeldet: „Da stand Abraham am Morgen früh auf…“ (1Mos. 22,3).

In den letzten zweihundert Jahren, seit der Epoche der Romantik und dann auch in der liberalen Theologie, hat man den Bericht über die Opferung Isaaks gern zu einer Seelengeschichte stilisiert und entsprechend zu dramatisieren versucht. Aber die Heilige Schrift macht das nicht. Würde nicht ohnehin alles Psychologisieren zu kurz greifen angesichts dessen, dass es sich hier nicht um irgendeinen Sohn, sondern um den „Sohn der Verheißung“ gehandelt hat, an dem der weitere Verlauf der Heilsgeschichte hing?

In der Versuchung Abrahams ging es auch nicht um einen inneren Läuterungsprozess, etwa im folgenden Sinn: Abraham habe sich in den subjektiven Eindruck verrannt, Gott wolle von ihm das Opfer seines Kindes [so wie er es bei den Kanaanitern um ihn herum beobachtet hatte]. Aber schließlich habe er sich nach innerem Ringen aus dieser religiösen Überspanntheit gelöst und sei zu der Einsicht durchgebrochen, so etwas verlange Gott nicht von ihm.

Gott prüft seinen Bund

Um derartiges geht es nicht! Vielmehr steht diese Versuchung Abrahams im Horizont des Bundes, den Gott mit Abraham aufgerichtet hatte. Als Abraham auf den Ruf Gottes mit einem kurzen: „Hier bin ich“ antwortete (1Mos. 22,1), brachte er mit seiner Antwort seinen Gehorsam zum Ausdruck. Auch das Satteln des Esels, das Spalten des Holzes für das Opfer und das Losziehen ohne genau zu wissen, wohin die Reise geht, war bestimmt von dem Befehl Gottes. Das blieb auch so, als Abraham auf der letzten Wegstrecke seine Knechte zurückließ, seinem Sohn das Holz auflud und er selbst das Messer und das Feuer trug und als der Erzvater den Altar aufschichte, Isaak fesselte und ihn auf den Altar legte und dann zum Messer griff.

Indem Gott von Abraham diesen Gehorsam verlangte, ging es ihm nicht darum, dass jener einen Sprung ins Absurde vollzieht. Vielmehr bestand die Prüfung in der Fragestellung, ob Abraham so Gott fürchtet, dass er restlos auf die ihm geschenkten Verheißungen vertraut, und zwar selbst dann, wenn er nicht versteht, wie Gott sie verwirklichen wird.

Man kann sogar noch einen Schritt weiter gehen: Da Gott seinen Bund mit Abraham allein aufgerichtet hatte (siehe 1Mos. 15,7–21), bestand in gewissem Sinn die Prüfung des Glaubens Abrahams darin, dass Gott sich selbst prüfte. Gott prüfte hier das, was er selbst dem Abraham geschenkt hatte. Sinn dieser Versuchung war, dass das ans Licht kam, was Gott bis dahin im Verborgenen an Abraham gewirkt hatte.

Als der Engel des Herrn dem Abraham vom Himmel her zurief und ihm untersagte, Isaak anzutasten, fuhr er folgendermaßen fort: „Nun weiß ich, dass du Gott fürchtest…“ (1Mos. 22,12). Es wäre abwegig, diese Aussage so interpretieren zu wollen, als ob der allwissende Gott nach der Versuchung mehr wusste, als was ihm vorher bekannt war. Der Unterschied zwischen der Zeit vor der Versuchung und danach lag darin, dass nun offenbar geworden war, was Gott der Herr an Abraham getan hatte.

Beim Bund, den Gott mit Abraham aufrichtete, lassen sich zwei Seiten unterscheiden: Gott und Mensch. Aber wenn wir von „zwei Seiten“ sprechen, dürfen wird das nicht so verstehen, als würden sich in diesem Bund zwei Parteien wie zwei Vertragspartner gegenüberstehen. Das wäre ein verhängnisvolles Missverständnis! Noch einmal: Während sich der Vater des Glaubens in einer todesschlafähnlichen Agonie befand, ging Gott allein durch die Opfertiere (1Mos. 15,12.17). Der Bund ist restlos und ausschließlich in dem Gott verankert, von dem es heißt, dass er das Nichtseiende ruft, wie wenn es da wäre (Röm. 4,17). Es war und ist allein der Gott der Treue, „der da ruft und es auch – selbst – tut“ (1Thess. 5,24).

Das ist übrigens auch der Grund, warum wir uns fest auf die Verheißung Gottes verlassen dürfen, dass Gott es niemals zulassen wird, dass wir über unser Vermögen versucht werden, sondern dass er mit der Versuchung auch den Ausgang schaffen wird (1Kor. 10,13).

Dass der Bund Gottes zwei Seiten hat, aber allein in Gottes Treue verankert ist, wird auch an der Verheißung deutlich, die Gott nach der bestandenen Prüfung seinem Freund gab. Gott schwor [nicht angesichts des Tuns Abrahams, sondern] bei sich selbst: „Weil du dieses getan und deinen Sohn, deinen einzigen, nicht verschont hast, darum will ich dich reichlich segnen und deinen Samen mächtig mehren, wie die Sterne am Himmel und wie den Sand am Ufer des Meeres…“ (1Mos. 22,16.17).

Glaube und Werke

Wenn man diese Verheißung mit vorher dem Erzvater gegebenen Verheißungen vergleicht (1Mos. 12,2 und 15,5), wird man feststellen, dass inhaltlich kein Unterschied besteht. Abraham erhält nach dem Gang nach Morija keine größeren Verheißungen als vorher! Trotzdem ist diese Verheißung anders formuliert als die bisherigen. Jetzt erweckt sie den Eindruck, kausal zu sein: „Weil du getan hast…, darum werde ich…„. Tatsächlich preist Gott [hier steht die Bezeichnung „Jahwe“, die für Gott als dem Bundesgott steht] das Tun, das aus dem Wegschauen von sich selbst hin auf Gott erwachsen ist.

Jakobus bemerkt im Blick auf die Opferung Isaaks, dass Abraham „durch Werke gerechtfertigt“ worden ist: Der Glaube wirkt „zusammen mit den Werken“. Ja, „der Glaube wird durch die Werke vollkommen“ (Jak. 2,21.22).

Nicht selten wird in dieser Aussage ein Widerspruch zu dem gesehen, was der Apostel Paulus schreibt, nämlich dass der Mensch „ohne Werke, durch den Glauben gerechtfertigt wird“ (Röm. 3,28). Aber das ist kein Widerspruch. Während sich die Aussage des Apostels Paulus gegen tote Werke richtet, wendet sich Jakobus gegen einen toten Glauben.

Paulus konfrontiert sich mit dem Judaismus. Von daher weist er alle eigenen Gesetzeswerke zur Erlangung des Heils zurück. Jakobus geht demgegenüber auf die Frage nach dem praktischen Nutzen des Glaubens ein. Er beantwortet die Frage: Was nützt ein Glaube, der nicht in Werken zum Ausdruck kommt (Jak. 2,14)? Einen Glauben, der lediglich darin besteht, dass es einen Gott gibt, haben auch die Dämonen (Jak. 2,19).

Um diesen praktischen Nutzen des Glaubens geht es auch in 1Mose 22. Die Frage war nicht, ob in Abraham irgendeine Qualität vorhanden war, durch die er vor Gott bestehen konnte und die Gott einmal herausfinden wollte. Sondern es ging darum, offenbar zu machen, dass der, den Gott in seiner Souveränität gerufen hatte (1Mos. 12,1) und den er durch Glauben allein gerechtfertigt hatte (1Mos. 15,6), so von sich selbst wegblickt und sich so allein an die Verheißungen Gottes klammert, dass er dafür bereit ist, seine Zukunft aus der Hand zu geben.

Der Grund dafür, dass Abraham den Weg nach Morija ging, lag nicht in einem irrationalen „Sprung“ ins Absurde, sondern war darin gegründet, dass er sich gegen allen optischen Schein auf die Zusagen Gottes warf. Den Verheißungen Gottes heute zu vertrauen war dem Vater des Glaubens wichtiger als seine eigenen Überlegungen im Blick auf die Zukunft.

Aus diesem Grund lehrt das Neue Testament, dass Abraham seinen Sohn nicht fast geopfert hat, sondern ihn tatsächlich Gott darbrachte (Hebr. 11,17; Jak. 2,21). Das tat er im Glauben. Das heißt, er urteilte: Wenn Gott will, dass ich meinen Sohn opfere, dann wird dieser Gott den Isaak aus den Toten auferwecken (Hebr. 11,19). Gott hatte dem Abraham geschenkt, über das Zeitliche hinaus in das Ewige zu blicken.

Die Opferung des Sohnes Abrahams gemäß dem Koran und dem Judentum

Heutzutage ist es nicht unwichtig, einmal zur Kenntnis zu nehmen, was Mohammed über die Tat Abrahams im Koran schrieb. Wir lesen dort:

„Als er [der Sohn] alt genug war, um mit ihm zu arbeiten, sagte Abraham: ‚Mein Sohn! Ich sah im Traum, dass ich dich schlachten werde. Nun schau, was meinst du dazu?‘ Er sagte: ‚Vater! Tu, was dir befohlen wird! Du wirst, so Allah will, finden, dass ich einer von denen bin, die geduldig sind.‘ Als sich beide [in Allahs Willen] ergeben hatten und er ihn [also: Abraham seinen Sohn] mit der Stirn zum Boden hingelegt hatte, riefen wir ihm zu: ‚O Abraham! Bereits hast du das Traumgesicht bestätigt! Gewiss, solcherart vergelten wir es den Rechtschaffenen.‘ Gewiss, dies war die offenkundige Prüfung. Und wir lösten ihn [den Sohn] mit einem großen Schlachtopfer aus. Und wir bewahrten seine Geschichte unter den Nachkommen. Friede sei auf Abraham! So belohnen wir den Rechtschaffenen. Er ist [einer] von unseren gläubigen Dienern. Und wir kündeten ihm Isaak an, dass er ein Prophet sein werde, einer von den Rechtschaffenen. Unter ihrer Nachkommenschaft gibt es nun welche, die fromm sind, aber auch welche, die [mit ihrer Verstocktheit] offensichtlich gegen sich selbst freveln.“5

Obwohl es nicht als ein ausdrücklicher Befehl Allahs formuliert ist, sondern Abraham „im Traum“ sah, dass er seinen Sohn schlachten würde, ermutigte Ismael – um diesen Sohn handelt es sich, denn Isaak wurde ja erst als Belohnung nach der Tat angekündigt – seinen Vater, sich dem Befehl Gottes zu unterwerfen. Der Koran schiebt also Ismael in den Mittelpunkt: Der Sohn des Fleisches spornt seinen Vater an, dass er ihn töte, weil Ismael auf diese Weise seine Geduld zeigen könne und so in die Lage versetzt werde, sich als jemand zu erweisen, der sich Gott in Ergebenheit unterwirft. Um diese Unterwerfung dreht sich das im Koran Erzählte, auf die dann die Belohnung folgt. Das entspricht völlig dem Kern dieser Religion, die „Islam“ genannt wird, das heißt „Unterwerfung“.

Während die Bibel Abraham als einen Glaubenden, ja als den Vater der Gläubigen schildert, aber dabei seine zahlreichen Schwächen, Fehler, Sünden sowie seinen Kleinglauben – man denke an seinen ihn so beschämenden Zug nach Ägypten (1Mos. 12,10–20) – nicht verschweigt, wird im Koran ein in jeder Weise gegenüber Allah gefügiger Abraham gezeichnet. Andere Aussagen des Koran erzählen, wie sich Abraham stets auf die Allmacht Allahs stützte6 und sich in seinem kompromisslosen Kampf gegen Polytheismus (Bilderdienst und Sternenverehrung) auszeichnete.7

In der Auslegung des Judentums,8 die ja gegenwärtig einen nicht unbedeutenden Einfluss auf die christliche Gemeinde ausübt, fällt ins Auge, dass völlig entgegen der Absicht des biblischen Abschnittes Isaak ins Zentrum gerückt wird. Isaak wird dabei gedeutet als Prototyp für das Volk Israel, das sich Gott in einem freiwilligen Brandopfer (lateinisch: holocaustum) darbietet.

Vielleicht kann man das, was das Judentum mit Isaak macht, mit dem vergleichen, wie man im römischen Katholizismus Maria verstehen will. Für den römischen Katholizismus ist Maria die Person, die sich dadurch auszeichnete, dass sie sich Gott zur Verfügung stellte. Indem Maria angesichts des Kommens des Heilands in diese Welt auf die Botschaft des Engels Gabriel antwortete: „Mir geschehe nach deinem Wort!“ (Luk. 1,38), wurde sie Mitwirkerin am Heil der Welt. Der Retter konnte kommen, weil Maria zugestimmt hatte. Entsprechend, so die römisch-katholische Vorstellung, muss auch heute jeder Mensch seine Zustimmung und seine Bereitschaft zur Mitarbeit erklären, bevor Gott etwas mit ihm anfangen kann.

Es ist deutlich, dass auf diese Weise, und zwar sowohl im Judentum als auch im römischen Katholizismus, der Mensch in den Mittelpunkt gerückt wird. Während gemäß dem Wort Gottes die Ehre allein Gott zukommt, ist es gemäß diesen beiden Glaubenssystemen nur recht und billig, dass der Mensch seinen Teil von der Ehre abbekommt.

Isaak auf den Altar gelegt – Christus gekreuzigt

Aber zurück zur Heiligen Schrift. Ist zu dem biblischen Bericht über die Opferung Isaaks alles gesagt, wenn er so ausgelegt wird, dass Gott von Abraham verlangte, seine Zukunft in die Hand Gottes zu legen? Zweifellos werden wir durch dieses Verständnis in eine andere Richtung gelenkt, als der Koran es lehrt, der das Berichtete so verfälscht, als ginge es um die Forderung totaler Unterwerfung, auf die dann die Belohnung folgt.

Trotzdem erscheint die Deutung, Gott habe hier von Abraham verlangt, seine Zukunft aus der Hand zu geben, nicht ausreichend.

Wenn es lediglich um diesen Zweck gegangen wäre, hätte Gott auch den Befehl geben können, Isaak zu vertreiben, ähnlich wie er es bei Ismael getan hatte (1Mos. 21,9–21) und wie es Abraham später mit den Söhnen seiner zweiten Frau, Ketura, machte (1Mos. 25,1–6). Zu gegebener Zeit hätte dann Gott den Isaak zu seinem Vater zurückführen können, und die Heilsgeschichte wäre weitergegangen.

Angenommen, Gott wollte lediglich prüfen, ob Abraham an die Auferstehung glaubte, hätte er Isaak sterben lassen können, um ihn dann irgendwann wieder aus den Toten aufzuerwecken.

Warum aber dieser schreckliche Befehl: „Lege selbst Hand an deinen Sohn!“? Ja, Gott der Herr forderte von Abraham noch nicht einmal: „Töte Isaak!“, sondern: „Opfere ihn!“ (1Mos. 22,2), oder: „Bringe ihn als Brandopfer dar!“ Opfern aber heißt nichts anderes als: Töte ihn für Gott!

Dieser Begriff des Opferns fiel bereits den Kirchenvätern auf. Sie zogen daraus den Schluss, der Befehl an Abraham, den eigenen Sohn zu opfern, sei ein Hinweis auf das Opfer Jesu Christi auf Golgatha. In dem Befehl, „Nimm deinen Sohn, deinen einzigen, den du liebhast, und opfere ihn zum Brandopfer,“ vernahmen sie das bekannte Wort: „So sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit ein jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren geht, sondern ewiges Leben hat“ (Joh. 3,16).

Seit der Frühen Kirche ist diese Deutung unter Christen bekannt. Tatsächlich fallen dann einige Aussagen in diesem Kapitel ins Auge, die sonst nicht gut verständlich sind. Dazu einige Beispiele:

In dem Befehl an Abraham, Isaak zu opfern, sprach Gott davon, dass Abraham seinen einzigen Sohn nehmen solle. Dreimal kommt diese Formulierung in diesem Kapitel vor (1Mos. 22,2.12.16). Hier könnte man einwenden: Isaak war doch gar nicht der einzige Sohn. Bekanntlich hatte Abraham den (inzwischen weggeschickten) Ismael.

In der schriftkritischen Bibelauslegung verfiel man auf den Gedanken, „einzig“ sei hier nicht zahlenmäßig zu verstehen, sondern man müsse es interpretieren im Sinn von „einzigartig“, „unersetzbar“, ähnlich wie David einmal von seiner „einzigen“ Seele gesprochen habe (Ps. 22,21): Indem Gott hier von „einzig“ sprach, habe er unterstreichen wollen, dass Abraham seinen Lieblingssohn opfern sollte. Dazu ist zu sagen: Es ist zwar richtig, dass das hebräische Wort in einer Nebenbedeutung den Sinn von „einzigartig“ haben kann. Aber die Grundbedeutung des Wortes ist numerisch (vergleiche: Spr. 4,3; Jer. 6,26; Am. 8,10; Sach. 12,10). Verständlich wird diese Aussage erst, wenn wir sie als einen Hinweis verstehen auf den Vater, der tatsächlich seinen einzigen Sohn dahingab.

Ferner fiel häufiger auf, dass Gott den Abraham nicht irgendwohin führte, sondern ihm den Weg ins Land „Morija“ wies, und zwar zu einem ganz bestimmten Berg (1Mos. 22,2). Der Berg Morija aber ist der Ort, auf dem Salomo später den Tempel errichtete (2Chr. 3,1). Das Land Morija ist demnach die Gegend, in der sich auch der Hügel Golgatha befand.

Eine weitere Merkwürdigkeit des Abschnittes: Nachdem Gott dem Abraham den Befehl gegeben hatte, stand Abraham nicht nur früh auf und sattelte den Esel, sondern es heißt ausdrücklich, „dass Abraham das Holz zum Opfer spaltete“ (1Mos. 22,3). Normalerweise standen dem Patriarchen für derart einfache Arbeiten Knechte zur Verfügung. Tatsächlich werden sie im selben Vers auch erwähnt. Aber in diesem Kapitel kommen die Knechte lediglich vor als die, die „mitgenommen“ werden. Will der Heilige Geist, indem er erwähnt, dass Abraham dieses Mal das Holz selbst spaltete, einen Hinweis darauf geben, dass Gott der Vater von Anfang an bei der Dahingabe seines Sohnes die Initiative ergriffen hatte (1Petr. 1,19.20)?

Auch die Formulierung „am dritten Tag erhob Abraham seine Augen und sah den Ort von ferne“ (1Mos. 22,4) kann nachdenklich machen. Das Auffallende ist nicht, dass Abraham für die rund 85 Kilometer zwischen Beersheba (1Mos. 21,22) und dem Berg Morija drei Tage benötigte. Das Merkwürdige ist, dass erwähnt wird, Abraham habe am dritten Tag diesen Ort von ferne gesehen. Warum ist das so wichtig? Ist es nicht entscheidender, wann jemand an seinem Ziel ankommt, als zu welchem Zeitpunkt er es „von ferne“ sieht?

Eine Antwort auf die Frage, warum es heißt, dass Abraham am dritten Tag den Berg von weitem (oder: von ferne) erblickte, wird man vermutlich erst finden, wenn man begreift, dass der Geist Gottes damit die Absicht verfolgt, eine Erwartung aufzubauen. Der Ort für das Opfer, den Gott in Wahrheit meinte, das Geschehen, das in Wirklichkeit im Blick sein sollte, liegt noch in weiter Ferne. Ähnlich weist der Schreiber des Hebräerbriefes einmal darauf hin, dass sich die den Erzvätern gegebenen Verheißungen nicht auf das irdische Land richteten, sondern auf das himmlische, das sie von ferne sahen und es begrüßten (Hebr. 11,13–16).

Eine weitere Merkwürdigkeit: Obwohl in diesem Abschnitt zehnmal für Isaak das Wort „Sohn“ verwendet wird (1Mos. 22,2.3.6.7.8.9.10.12.13.16), wählte Abraham in 1Mose 22,5 ein anderes Wort. Er sprach von „Knabe“. Das Bemerkenswerte an diesem Wort im Hebräischen ist, dass es in der Regel den Sinn von „Knecht“ hat. In diesem Sinn kommt es auch in dem gleichen Vers vor. Auch die Knechte Abrahams werden als „Knaben“ bezeichnet. Manchen Bibelübersetzern, zum Beispiel denen, die die Schlachter 2000Übersetzung erstellt haben, ist diese Übereinstimmung wohl so befremdlich vorgekommen, dass sie die im Hebräischen identischen Ausdrücke unterschiedlich übersetzten. Aber an dieser Stelle ist das bedauerlich. Denn möglicherweise soll damit angedeutet werden, dass nun, auf der letzten Wegstrecke der Sohn zum Knecht wurde, ähnlich wie Gott der Vater seinen Sohn zum Knecht machte (Jes. 53,11; Phil. 2,7).

Angesichts der Spärlichkeit, mit der die Heilige Schrift über die Reise während dieser drei Tage berichtet, fällt die Mitteilung auf, dass „Abraham das Holz zum Brandopfer nahm und es auf seinen Sohn Isaak legte“ (1Mos. 22,6). Offensichtlich sollen wir wissen, dass auf der letzten Wegstrecke Isaak das Holz selbst trug. Wen überrascht es, dass nicht wenige Kirchenväter in dieser Erwähnung einen Fingerzeig dafür sahen, dass auch unser Herr sein Kreuz zur Schädelstätte selbst schleppte (Joh. 19,17).9 Vermutlich hat auch Paul Gerhardt an dieses Ereignis gedacht, als er in seinem Lied Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld in der dritten Strophe dichtete: „Ja, Vater, ja von Herzensgrund, leg auf, ich will dirs tragen…“

Auch der Umstand, dass Isaak den Abraham mit „mein Vater“ ansprach (1Mos. 22,7), und Abraham ihm mit der Anrede „mein Sohn“ antwortete, weist – so manche Kirchenväter – über das historisch Geschehene prophetisch auf die Beziehung zwischen Gott dem Vater und Gott dem Sohn hinaus, zumal zweimal gesagt wird: „Sie gingen beide miteinander“ (1Mos. 22,6.8).10 Hier mag man sich an die Aussage erinnern, die Christus unmittelbar vor seinem Weg nach Golgatha machte: „Ich bin nicht allein, denn der Vater ist bei mir„. (Joh. 16,32).

Die Frage Isaaks: „Wo aber ist das Schaf zum Opfer?“ (1Mos. 22,7), eine Frage, die sich durch das gesamte Alte Testament zieht, bekommt seine endgültige Antwort, so die Überzeugung in der Frühen Kirche, erst in dem Ausruf Johannes des Täufers: „Siehe, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt“ (Joh. 1,29).11

Wenn es dann heißt, dass Abraham seinen von ihm gefesselten Sohn auf den Altar legte (1Mos. 22,9), kann man an die Aussage Davids aus dem bekannten messianischen Leidenspsalm denken: „Ich bin ausgeschüttet wie Wasser, und alle meine Gebeine sind ausgerenkt… du legst mich in den Staub des Todes“ (Ps. 22,15.16). Wenn man in diesem Zusammenhang zweimal liest, dass Abraham seinen Sohn „nicht verschont“ hat (1Mos. 22,12.16), erinnert diese Formulierung unüberhörbar an die entsprechende Äußerung des Apostels Paulus, dass Gott seinen Sohn „nicht verschont“ hat (Röm. 8,32).

Dabei ist der Unterschied offensichtlich: Der Sohn Abrahams starb nur beinahe. Er wurde im letzten Moment verschont. Demgegenüber starb der Sohn Gottes tatsächlich.12 Isaak brauchte nicht geopfert zu werden. An seiner Statt musste „der Widder“ sterben. Es überrascht nicht, dass Christen in den ersten Jahrhunderten auch in dem Widder das stellvertretende Opfer Christi symbolisiert fanden.13 Manche Lehrer der Frühen Kirche gingen sogar so weit, dass sie in dem Gehölz [Gestrüpp], in dem der Widder festgehalten wurde (1Mos. 22,13), einen Hinweis auf das Kreuz erblickten.14

Gott wird sich ersehen

Naturgemäß kann man bei typologischen Auslegungen die Frage aufwerfen, ob jede der gezogenen Parallelen überzeugt: Sind sie wirklich vom Heiligen Geist eingeflochten, um auf Christus hinzuweisen? Oder sind sie nicht eher gesucht, so dass sie auf die Phantasie des Auslegers zurückgehen?

Aber auch abgesehen von typologischen Hinweisen gibt der Bericht über die Opferung Isaaks weitere Indizien dafür, dass der Heilige Geist unsere Überlegungen in die Richtung auf das Opfer Christi lenken will. Hier ist an die prophetischen Aussagen dieses Abschnitts zu denken.

Als Abraham sich mit seinem Sohn Isaak von den Knechten verabschiedete, sagte er: „Wir [!] werden zu euch zurückkehren“ (1Mos. 22,5). Das Neue Testament betont, dass Abraham nicht die Absicht hatte, seinen Knechten eine Unwahrheit aufzutischen, also zu lügen, sondern er sagte dieses aufgrund seines Auferstehungsglaubens (Hebr. 11,19).

Eine andere Aussage ist aber bemerkenswerter. Auf die Frage Isaaks, wo denn das Lamm sei, antwortete Abraham: „Gott wird sich ein Lamm ersehen, mein Sohn!“ (1Mos. 22,8).

Zunächst liegt es nahe, diese Aussage auf den Widder zu beziehen, der anstelle von Isaak geschlachtet wurde. Umso überraschender aber ist es, dass Abraham eine ähnliche Aussage macht, und zwar nachdem der Widder geopfert worden war: „Und Abraham nannte den Ort: „Der Herr wird sich ersehen.“ (1Mos. 22,14). Mit anderen Worten: Selbst nachdem der Widder geopfert worden war, schaute Abraham noch auf ein anderes Opfer, das sich Gott ersehen wird. Dieser Ausspruch hatte offensichtlich ein solches Gewicht, dass er über die Jahrhunderte der Nachwelt im Gedächtnis blieb: „…dass man noch heute sagt: Auf dem Berg wird der Herr ersehen (oder: auf dem Berg des Herrn wird ersehen werden)“. 15

Tatsächlich scheint dieses Wort die Krönung des Kapitels zu sein. Nicht selten wird in dramatisierenden Predigten unterstellt und große Maler haben ebenfalls diesen Eindruck erweckt, als ob der Höhepunkt des Kapitels der Ausruf des Engels des Herrn ist: „Lege deine Hand nicht an den Knaben, und tue ihm gar nichts; denn nun weiß ich, dass du Gott fürchtest …„. Zweifellos ist dieser Ausruf ein befreiendes Wort, ein Wort, das die Last, den Druck, den dieses ganze Geschehen vermittelt, mit einem Schlag löst! Die Gehorsamsprüfung ist zu Ende! Abraham, du hast die Versuchung bestanden! Deine Gottesfurcht ist offenkundig geworden!

Trotzdem scheint der Brennpunkt dieses Kapitels nicht in Vers 12 zu liegen, sondern in Vers 14: „Und Abraham nannte diesen Ort: Der Herr wird ersehen, weshalb noch heute gesagt wird: Auf dem Berg wird der Herr ersehen„. Natürlich stellt sich bei diesem Vers unwillkürlich die Frage: Was wird denn der Herr ersehen?

Darauf ist zunächst zu antworten: Da der Berg Morija einmal der Tempelberg sein wird (2Chr. 3,1), also der Berg, der häufig „Berg des Herrn“ genannt wird (siehe zum Beispiel: Ps. 24,3; Jes. 2,3; 30,29; Sach. 8,3), werden wir hier auf die unzähligen Opfertiere hingewiesen, denen an diesem Ort die Kehlen durchgeschnitten wurden.

Genau wie der Widder der Stellvertreter für Isaak war, so dass Isaak beim Anblick des geschlachteten Widders hätte sagen können: Eigentlich hätte ich auf dem Altar geschlachtet werden müssen, so musste jeder Israelit bekennen, wenn der Priester sein Opfertier schächtete: Eigentlich hätte ich dort verbluten müssen.

Wenn aber Abraham nach [!] der Opferung des Widders auf dem Berg Morija davon spricht, dass Gott ersehen wird, wird damit der gesamte später stattfindende Opferdienst auf diesem Berg ebenfalls als eine Vorschattung gedeutet. Gott der Vater wird sich ein anderes Opfer ersehen, ein Opfer, auf das der sich im Gehölz verfangene Widder sowie die unzähligen geschlachteten Tiere im Vorhof des Tempel nur ein Hinweis sind.

Obwohl es nirgends ausdrücklich gesagt wird, erscheint es nicht so unwahrscheinlich, dass Abraham genau damals, nachdem er den Widder geopfert hatte, den „Tag Christi“ (Joh. 8,56) sah.

Die Aussage, „Gott wird sich ersehen“ führt Abraham nach Golgatha. Es hat den Anschein, dass Gott Abraham genau dorthin haben wollte. Angefangen von der Berufung aus Ur über den nochmaligen Ruf in Haran, um nach Kanaan zu ziehen, kam diese Reise erst mit seinem Gang nach Morija zum Abschluss.

Umkehrung des Opfers

Als Gott im Garten Eden Adam gesagt hatte: „An dem Tag, da du von dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen isst, musst du gewiss sterben“ (1Mos. 2,17) und der Mensch trotzdem davon aß, hat jeder von uns sein Recht auf Leben verwirkt.

Unmittelbar vor dem Auszug des Volkes Gottes aus Ägypten sandte Gott die 10 Plagen. Die letzte Plage war die Tötung des jeweils erstgeborenen Sohnes in den Häusern, deren Oberschwelle und Türpfosten nicht mit dem Blut eines Passahlammes bestrichen waren (2Mos. 11–12). Kaum war das Volk Israel losgezogen, sie waren noch nicht einmal aus Ägypten herausgelangt, da sagte Gott: Auch auf eure Erstgeborenen erhebe ich Anspruch. Das konnte in diesem Kontext nur heißen: Eure Kinder sind nicht besser als die aus Ägypten. Eigentlich müsste ich auch sie töten. Aber ihr dürft sie lösen. Das heißt: zurückkaufen, und zwar durch ein Lamm oder durch einen symbolischen Geldbetrag (2Mos 13).

An alle diese Ereignisse sollten wir beim Lesen des Berichtes über die Opferung Isaaks denken. Was Gott in 1Mose 22 von Abraham gefordert hat, steht nicht im Horizont kanaanitischer Fruchtbarkeitsriten, sondern dieses Kapitel führt uns erneut vor Augen, was die gesamte Menschheit seit dem Sündenfall verdient hat: den Tod (Röm. 5,12–14; 6,23). Der Befehl an Abraham, „Gehe hin, opfere deinen Sohn zum Brandopfer!“ besagt in der Perspektive unserer ersten Eltern: Eigentlich kann auch Isaak nicht vor Gott bestehen. Ja, niemand kann vor Gott bestehen. Wenn man dieses nicht beachtet, wird der Befehl Gottes an Abraham zu einem schrecklichen Horror.

Aber nun kommt das Wunderbare. Nun kommt das, was alles Denken und Sinnen übersteigt: Angesichts dessen, dass Gott uns hier noch einmal auf die seit dem Sündenfall offene Rechnung hinweist, verkündet er, dass er sie selbst bezahlen wird, und zwar mit seinem eigenen Sohn. Jesaja formuliert es folgendermaßen: „Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten“ (Jes. 53,5). Das ist der Höhepunkt von 1Mose 22: Gott wird sich das Lamm ersehen, seinen Sohn!

Das Geheimnis dieses Berichtes ist nicht die Botschaft, wie der Islam lehrt, sich total Allah zu unterwerfen, um sich dadurch Lohn zu verschaffen.

Um nicht missverstanden zu werden: Auch in der Bibel geht es um Gehorsam. Aber es geht um Gehorsam im Blick auf die Verheißungen Gottes, also um Glauben. Der geforderte Gehorsam hat als Bezugsrahmen den von Gott aufgerichteten Bund.

Das Geheimnis der Opferung Isaaks besteht auch nicht darin, dass wir Zeuge werden, wie sich Isaak freiwillig zum Altar begibt, um sich dort selbst als Brandopfer hinzugeben.

Das unbegreiflich Wunderbare dieses Kapitels besteht in der Umkehrung des Opfers: Als Gott dem Abraham zurief: „Lege deine Hand nicht an Isaak!“, befahl er das deswegen, weil er das Opfern des eigenen Sohnes auf seine eigene Kappe nahm. Weil Gott sich von Beginn der Welt an seinen Sohn zum Opfer abgesondert hatte, von dem der Widder im Gestrüpp und von dem all die über die Jahrhunderte geschlachteten Opfertiere im Tempelvorhof nur eine geringe Abschattung sind, muss Isaak, muss der Sünder nicht in den Tod.

Gott demonstrierte hier seinem Freund Abraham seine bis zum Alleräußersten reichende Liebe. Dabei verfolgte Gott durchaus die Absicht, dass Abraham wenigstens ein einziges Mal verspürt, was es heißt, den eigenen Sohn dahinzugeben. Ein einziges Mal sollte er einen Stich durch sein Herz fühlen, damit er eine Ahnung von der Unbedingtheit der Liebe Gottes bekommt. Der Vater des Glaubens sollte einmal den Schmerz erahnen, den Gott der Vater hatte, seitdem er von Grundlegung der Welt an seinen Sohn für den Weg nach Golgatha bestimmt hatte (1Petr. 1,19.20), damit weder er noch je eines seiner Kinder billig über das Karfreitags–Geschehen denken.

Die Härte und die Abgründigkeit der Forderung Gottes an Abraham findet seine Grundlage in dem, was Gott selbst getan hat. Darum bildet das 22. Kapitel nicht nur einen Dreh- und Angelpunkt innerhalb des ersten Buches der Heiligen Schrift, sondern es führt hinein in das Zentrum der Heilsgeschichte: Abraham, nimm deinen Sohn, deinen einzigen, den du lieb hast, und geh in das Land Morija und opfere ihn auf einem der Berge… Ich werde bald den meinigen nehmen!


1) Sören Kierkegaard, Furcht und Zittern. In: Werkausgabe Band 1. Köln [Diederichsverlag] 1971, a.a.O., S. 44.
2) A.a.O., S. 45. Siehe dazu auch die Fußnote: a.a.O., S. 52-53. Im Dänischen steht für die deutsche Übersetzung „Sprung“: „Tramplin-Spring“. Dieses Wort lässt laut E. Hirsch, dem Übersetzer dieses Werkes, an ein Zirkuskunststückchen denken: der „Übersprung von dem schräg aufsteigenden Anlaufbrett … auf das hochstehende Gerät“. So: a.a.O., S. 156, Anmerkung 37.
3) Johannes Calvin, Erste Predigt über das Opfer Abrahams [1.Juni 1560]. Zitiert nach: Johannes Calvin, Abraham-Predigten. Übersetzt von Ernst Bizer, München [Chr. Kaiser Verlag], 1937.
4) a.a.O.
5) Sure 37,102-113.
6) Sure 2,258-260.
7) Sure 6,74-81; 19,41-47; 21,51-72.
8) Siehe dazu zum Beispiel: Jackie Metzger, http://www1.yadvashem.org/yv/en/education/lesson_plans/sacrifice_of_isaac.asp. Vergleiche zu dem Themenbereich insgesamt: Bernhard Greiner,
Bernd Janowski;
Hermann Lichtenberger, Opfere deinen Sohn!: Das Isaak-Opfer in Judentum, Christentum und Islam. Tübingen [Francke] 2007; Ed Noort, Genesis 22, Human sacrifice and theology in the Hebrew Bible. In: The sacrifice of Isaac; the Aquedah (Genesis 22) and its interpretations. Ed. by Ed Noort et al. Leiden 2002, S. 1-20. Lukas Kundert, Die Opferung/Bindung Isaaks. Band 1. Genesis 22,1-19 im Alten Testament, im Frühjudentum und im Neuen Testament. Neukirchen-Vluyn 1998 [Wissenschaftliche Monographien zum Alten und Neue Testament begründet von G.J. Bornkamm et al., Nr. 78; Lukas Kundert, Die Opferung/Bindung Isaaks. Band 2. Genesis 22,1-19 in frühen rabbinischen Texten. Neukirchen-Vluyn 1998 [Wissenschaftliche Monographien zum Alten und Neue Testament begründet von G.J. Bornkamm et al., Nr. 79.
9) So zum Beispiel: Melito von Sardes, Fragment 9, In: Clavis Patrum Graecorum. 1093. Vergleiche auch Origenes, Homilie VIII. In: Corpus Christianorum, Series Graeca. Bd. II. S. 171.180.181.
10) Zum Beispiel: Origenes, Homilie VIII. a.a.O.
11) Zum Beispiel: Ambrosius. In: Clavis Patrum Latinorum. Turnhout 1961, S. 127. Siehe zu der Auslegung des Ambrosius ausführlich: David Lerch, Isaaks Opferung christlich gedeutet. Tübingen 1950, S. 49.78-79.95.104-105.
12) So zum Beispiel: Melito von Sardes, Fragment 9, a.a.O.
13) So zum Beispiel bereits: Origenes, Homilie VIII. a.a.O.; Caesarius von Arles, Predigt 84. In: Clavis Patrum Latinorum. Turnhout 1961, S. 1008.
14) So zum Beispiel: Melito von Sardes, Fragment 9 und 10, a.a.O.
15) In der schriftkritischen Theologie meinte man die Opferung Isaaks für eine „Sage“ halten zu müssen, die zur Erklärung eines Kultplatzes ersonnen worden sei. Da man allerdings bei dieser Gedankenkonstruktion den Zusatz „auf dem Berg, da der Herr ersehen wird“, nicht erklären kann, erblickt man darin eine „Textverderbnis“, die man „umarbeiten“ müsse. So zum Beispiel: Herman Gunkel, Genesis 1910. 3. Auflage. Hier zitiert nach dem unveränderten Nachdruck: Göttingen [Vandenhoeck & Ruprecht] 1977, 7. Auflage, S. 239. Siehe zu Gunkels Verständnis von „Sage“ sein Vorwort, a.a.O., S. V – LXXI. Vergleiche zu dieser Thematik auch: Claus Westermann, Genesis, 2. Teilband. In: Biblischer Kommentar Altes Testament. Neukirchen [Neukirchener Verlag] 1981, S. 429447, besonders S. 433.